In einer Zeit, in der unser Land in der Mitte Europas als erstrebenswertes Ziel zum Leben und Arbeiten für Millionen Menschen aus der ganzen Welt gilt und in der leidenschaftlich über deutsche Identität diskutiert wird, haben sich der Soziologe Dirk Kaesler und die Kulturjournalistin Stefanie von Wietersheim die Frage gestellt, ob sich „Deutschsein“ – was auch immer das sein soll – in speziellen Objekten, Ritualen, Orten und Absonderlichkeiten manifestiert. Und worin deren Schönheit liegt. Vom deutschen Duft zum germanischen Frühstück, von Beate Uhse zu Johann Sebastian Bach, ob Handkuss oder Hiddensee: Jedes der 18 Themen erscheint doppelt reflektiert. Denn beide Autoren schreiben jeweils aus ihrer Perspektive – Mann und Frau, zwei Generationen – über ihre ganz persönlichen Fundstücke, die für sie das Leben in Deutschland manchmal eben doch typisch deutsch und schön machen. Warum ganz überraschend historische Grausamkeiten hinter glatten Oberflächen lauern. Unser Bild von Schönheit auch immer mit dem eigenen Lebensweg zu tun hat. Und die Auseinandersetzung mit Ästhetik ein Weg zum Glück im Alltag sein kann. Für die Leserinnen und Leser entsteht so ein unterhaltsamer, sehr persönlicher Textdialog über Deutschland, an dem sie sich gedanklich beteiligen können.18 Kapitel über Deutsche Männermode, Siezen und Duzen, Hamburg, Das deutsche Essen, Achselhaare bei Frauen, Das deutsche Schloss, Helene Fischer, Der deutsche Duft, Der deutsche Handkuss, München, Die deutsche Fotografie, Das deutsche Frühstück, Die deutsche Kirchenmusik, Potsdam, German Beauty, Das deutsche Porzellan, Beate Uhse, Hiddensee.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2021Schönes Deutschland
Ein Soziologe und eine Journalistin erkunden die Alltagsästhetik. Das Ergebnis ist verblüffend.
Von Frank Pergande
Schön deutsch" ist der Titel eines Buches, das am Montag erscheint. Darin tragen der Soziologe Dirk Kaesler und die Journalistin Stefanie von Wietersheim in achtzehn Kapiteln zusammen, was aus ihrer Sicht Deutschsein ausmacht und was sie daran toll finden und manchmal auch weniger toll. Kaesler sagt: "Wir haben uns da echt etwas von der Seele geschrieben."
Die Themenauswahl ist denkbar subjektiv, und es geht wirklich kreuz und quer durch das Land, mal im Überflug, mal mit der Lupe. Es geht um Siezen und Duzen, deutsches Essen und deutsche Gerüche, Achselhaare, Männermode, Plunderteilchen in der "Tortenglocke" aus Plastik, den Handkuss mit zusammengeschlagenen Hacken, das deutsche Frühstück, Helene Fischer und Beate Uhse. Es gibt Porträts von Orten, München, Hiddensee, Hamburg und Potsdam. Das Lieblingskapitel der Autoren, die beide in Chören singen, behandelt deutsche Kirchenmusik oder genauer gesagt die Barockmusik von Bach und Händel, dem Komponisten aus der Provinz und dem Weltmann. Im Vorwort heißt es: "Gibt es so etwas wie eine deutsche Alltagsästhetik, eine besondere Vorstellung von Schönheit, die es nur hier und nirgendwo sonst auf der Welt gibt?" Über die Auswahl - die Autoren nennen es eine "Wunderkammer voller Trouvaillen" - haben die beiden lange gestritten. Und überhaupt ließe sich auch jetzt noch darüber streiten.
Interessant aber ist vor allem die Motivation der Autoren. Deutschland gelte "als erstrebenswertes Ziel zum Leben und Arbeiten für Millionen Menschen aus der ganzen Welt", schreiben sie. Und gleichzeitig werde "leidenschaftlich über deutsche Identität und Integration diskutiert". Von außen gesehen strahle Deutschland und gewinne immer mehr an Bedeutung, in jeder Hinsicht. Im Land selbst aber wüchsen Unzufriedenheit und Zweifel.
Beide Autoren legten sich dabei auch die bemerkenswerte Frage vor, ob Schwarzmalerei und Unzufriedenheit etwas typisch Deutsches seien.
Kaesler, der mit seiner umfangreichen Biographie über Max Weber bekannt wurde, bejaht die Frage. Doch, sagt er, Miesmacherei sei etwas Deutsches. In gewisser Weise jedenfalls. Denn so viel Nörgelei und Protest gebe es gerade deshalb, "weil es uns so gut geht, weil es Deutschland so gut geht wie nie zuvor". Wie kann das sein? Der Soziologe Kaesler zieht zur Erklärung eine Studie heran, die längst als Klassiker der Soziologie gilt und die seine These vom schlechtgelaunten Überfluss durch ihre Umkehrung beweisen soll, nämlich durch die Frage: Was löst bittere Armut aus?
1933 ging ein Team junger Sozialwissenschaftler aus Wien der Frage nach, wie durch Strukturwandel verursachte langanhaltende Arbeitslosigkeit auf die Menschen und ihre Beziehungen zueinander wirkt, und zwar am Beispiel der Arbeitersiedlung Marienthal, bei Wien gelegen. Eines der überraschenden Ergebnisse war, dass auch noch in den schlimmsten Verhältnissen Bildchen gekauft wurden oder im Garten dort, wo Kartoffeln hätten angebaut werden können, sich ein Blumenbeet erstreckte.
Und so lässt sich immer wieder im Leben feststellen: In den besten Verhältnissen wird gern gemeckert, in den größten Nöten hingegen blüht noch so etwas wie stille Schönheit. Kaesler: "Daran musste ich oft denken, wenn ich mit meiner Ko-Autorin in den vergangenen zwei Jahren so oft über Identität und Deutschsein im reichen Deutschland sprach. Das ist eben sehr widersprüchlich, und das buchstäblich bei jedem Thema. Vielleicht ist genau das auch das Deutsche."
Anders gesagt: Zu dem, was beide Autoren als schön in Deutschland ansehen, gehört für sie immer ein Aber, und das ist häufig genug auch sehr unschön, hässlich geradezu, oft genug grundiert von der Nazi-Vergangenheit, der "braunen Spur überall", wie Kaesler sagt, aber auch von der deutschen Teilung und ihren Folgen bis heute. So ist es in den großen politischen Zusammenhängen, so ist es aber auch in Potsdam oder München zu sehen.
Ein Beispiel: Kaesler sagt, Deutschland sei selbstbewusster geworden, auch die Erwartungen von außen an Deutschland seien heute viel größer. Gleichzeitig meldeten sich im Land immer häufiger Minderheiten laut zu Wort, die genau das in Zweifel zögen und für die Deutschland nur "Schland" sei. "Das ist ein merkwürdiges Amalgam von Leuten, die eigentlich nicht zusammengehören und nur Stimmungen bedienen. Die Krakeeler darunter mit ihren diversen Fahnenkombinationen sind mir verhasst." Eine Stimmung der Unzufriedenheit, die immer nahe am Revoltieren sei, könne aber auf Dauer politische Folgen haben und zu sozialen Verwerfungen führen. "So war es ja schon bei den Nazis, die zuerst auch keiner für voll genommen hat mit ihren Aufzügen, Uniformen und ihrem proletenhaften Auftreten. Man sieht es dann an den Wahlergebnissen, bei sogenannten Protestwahlen. Denn die Krakeeler haben auf Dauer Wirkung auch auf an sich unbeteiligte Leute, die still für sich sagen: Irgendwie haben die doch recht." Corona zeige das besonders dramatisch. "Da gärt etwas, obwohl die Corona-Politik alles in allem doch unfassbar erfolgreich ist: Die Maßnahmen greifen, es gibt Impfstoffe, es wird getestet und geimpft. Was wollen die Leute mehr in einer Lage, die wir so noch nie hatten?"
Allerdings habe er selbst in seiner Jugend mit seinem Deutschsein gehadert, erzählt Kaesler. "Mit achtzehn bin ich zu Sprachkursen gefahren. Da habe ich meinen ersten grünen Reisepass bekommen und extra in ein schwarzes Lederetui gesteckt, nur damit nicht jeder gleich sieht: ein Deutscher. Seit wir den burgunderroten Pass haben, hatte sich das freilich erübrigt." Der erste europäische wurde für Kaesler im September 1991 ausgestellt. "Ich würde nicht gerade sagen, ich bin stolz auf Deutschland, aber vieles an Deutschland freut mich, auch das Seltsame und Komische. Gerade im Ausland merkt man ja, wie sehr man Deutscher ist, schon durch die Sprache, die Tradition. Das kann man als Kapitulation sehen, aber es hat doch auch seinen Reiz, so etwas zu reflektieren. Die Matschhose etwa ist so etwas komisches Deutsches. Meine Ko-Autorin wollte unbedingt darüber schreiben, ich fand es aber zu grässlich. Das fiel dann raus." Und Kaesler fügt hinzu: "Wussten Sie, dass die SPD unter Willy Brandt ,Stolz auf Deutschland' plakatierte? Ich hatte es ganz vergessen und kam bei unseren Recherchen wieder drauf, erstaunlich, nicht wahr?"
Kaesler, in München aufgewachsen, schätzt die Liberalitas Bavarica, aber Franz Josef Strauß ist ihm ein Greuel. Auch München selbst war ihm immer ein Widerspruch. "Wachsen Sie mal in den fünfziger Jahren zwischen München-Pasing und München-Obermenzing auf, mit dem Vornamen Dirk und dann noch protestantisch. Ja mei, da wird es doch nichts mit dem Seppl, auch in Jahren nicht, obwohl ich Bayerisch kann. Und dennoch hat mir das München von damals gefallen." Heute lebt er in Potsdam, und da ist es ähnlich widersprüchlich. "Neulich fragten mich Touristen an der Bushaltestelle, ob ich Potsdamer sei. Sie wollten den Weg nach Cecilienhof wissen. Was sollte ich da sagen? Ich bin kein Potsdamer, ich wohne hier. Ich habe eine Zuneigung für die Stadt und sehe doch mit Bestürzung, wie hier von einigen wenigen Monopoly gespielt wird. Da kann ich zum Beispiel den Zorn der Alt-Ossis inzwischen schon gut verstehen."
Und so geht es weiter mit dem Widersprüchlichen deutscher Schönheiten. Das Nymphenburger Porzellan gehört zum Edlen Deutschlands genau wie das Meißner. "Aber das Nymphenburger liebten die Nazi-Größen, und das Meißner aus dem damaligen VEB ließen sich die SED-Bonzen kommen." Beate Uhse ist für Kaesler "eine superkämpferische, tapfere Frau, sehr deutsch, aber ihr Geschäft hat eben auch seine schmuddelige Seite". Händel sei ein großer deutscher Musiker, aber erst fern der Heimat, in Italien und später vor allem in Großbritannien, sei er weltberühmt geworden. "Mit Grabdenkmal in Westminster Abbey - das muss man als Deutscher erst mal bringen, aber es ging eben nur in einer anderen Welt." Bei Bach sei es genau umgekehrt: Seine Musik habe sich in Orten wie Köthen und Arnstadt entfalten müssen, "schon die Namen". Die Musik von Helene Fischer wiederum müsse man nicht mögen, meint Kaesler, der sie mag, "aber ihre Kunst ist doch sehr deutsch, weil sie viel mit Disziplin, Pflichtbewusstsein, Fleiß zu tun hat".
Am Ende bekennt Kaesler, er sei zwar Deutscher, aber doch ein Heimatloser, genau wie seine Ko-Autorin von Wietersheim. "Vielleicht haben wir gerade deshalb einen besonderen Blick auf deutsche Schönheit und können uns daran erfreuen." Andererseits sagt Kaesler: "Je länger wir über das schöne Deutschland schrieben, desto mehr ergriff uns Sorge. Wir fragten uns, wie wehrhaft sind wir eigentlich, um solchen Entwicklungen wie bei den Corona-Leugnern mit ihren Protesten in Stuttgart neulich standzuhalten." Einmal abgesehen von praktischer Wehrhaftigkeit - Kaesler wünscht sich mehr Befugnisse für die Polizei, härtere Auflagen bei der Anmeldung von Demonstrationen, Schadenersatzforderungen bei Zuwiderhandlungen - gibt der Soziologe sich selbst eine gleichsam überwölbende Antwort: "Wir müssen sehen, was es Schönes an und in diesem Land gibt, verdammt noch eins." Und nach einem Augenblick des Nachdenkens fügt er hinzu: "Und das ist wert, verteidigt zu werden." Er stutzt: "Oh, jetzt werde ich schon pathetisch."
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Ein Soziologe und eine Journalistin erkunden die Alltagsästhetik. Das Ergebnis ist verblüffend.
Von Frank Pergande
Schön deutsch" ist der Titel eines Buches, das am Montag erscheint. Darin tragen der Soziologe Dirk Kaesler und die Journalistin Stefanie von Wietersheim in achtzehn Kapiteln zusammen, was aus ihrer Sicht Deutschsein ausmacht und was sie daran toll finden und manchmal auch weniger toll. Kaesler sagt: "Wir haben uns da echt etwas von der Seele geschrieben."
Die Themenauswahl ist denkbar subjektiv, und es geht wirklich kreuz und quer durch das Land, mal im Überflug, mal mit der Lupe. Es geht um Siezen und Duzen, deutsches Essen und deutsche Gerüche, Achselhaare, Männermode, Plunderteilchen in der "Tortenglocke" aus Plastik, den Handkuss mit zusammengeschlagenen Hacken, das deutsche Frühstück, Helene Fischer und Beate Uhse. Es gibt Porträts von Orten, München, Hiddensee, Hamburg und Potsdam. Das Lieblingskapitel der Autoren, die beide in Chören singen, behandelt deutsche Kirchenmusik oder genauer gesagt die Barockmusik von Bach und Händel, dem Komponisten aus der Provinz und dem Weltmann. Im Vorwort heißt es: "Gibt es so etwas wie eine deutsche Alltagsästhetik, eine besondere Vorstellung von Schönheit, die es nur hier und nirgendwo sonst auf der Welt gibt?" Über die Auswahl - die Autoren nennen es eine "Wunderkammer voller Trouvaillen" - haben die beiden lange gestritten. Und überhaupt ließe sich auch jetzt noch darüber streiten.
Interessant aber ist vor allem die Motivation der Autoren. Deutschland gelte "als erstrebenswertes Ziel zum Leben und Arbeiten für Millionen Menschen aus der ganzen Welt", schreiben sie. Und gleichzeitig werde "leidenschaftlich über deutsche Identität und Integration diskutiert". Von außen gesehen strahle Deutschland und gewinne immer mehr an Bedeutung, in jeder Hinsicht. Im Land selbst aber wüchsen Unzufriedenheit und Zweifel.
Beide Autoren legten sich dabei auch die bemerkenswerte Frage vor, ob Schwarzmalerei und Unzufriedenheit etwas typisch Deutsches seien.
Kaesler, der mit seiner umfangreichen Biographie über Max Weber bekannt wurde, bejaht die Frage. Doch, sagt er, Miesmacherei sei etwas Deutsches. In gewisser Weise jedenfalls. Denn so viel Nörgelei und Protest gebe es gerade deshalb, "weil es uns so gut geht, weil es Deutschland so gut geht wie nie zuvor". Wie kann das sein? Der Soziologe Kaesler zieht zur Erklärung eine Studie heran, die längst als Klassiker der Soziologie gilt und die seine These vom schlechtgelaunten Überfluss durch ihre Umkehrung beweisen soll, nämlich durch die Frage: Was löst bittere Armut aus?
1933 ging ein Team junger Sozialwissenschaftler aus Wien der Frage nach, wie durch Strukturwandel verursachte langanhaltende Arbeitslosigkeit auf die Menschen und ihre Beziehungen zueinander wirkt, und zwar am Beispiel der Arbeitersiedlung Marienthal, bei Wien gelegen. Eines der überraschenden Ergebnisse war, dass auch noch in den schlimmsten Verhältnissen Bildchen gekauft wurden oder im Garten dort, wo Kartoffeln hätten angebaut werden können, sich ein Blumenbeet erstreckte.
Und so lässt sich immer wieder im Leben feststellen: In den besten Verhältnissen wird gern gemeckert, in den größten Nöten hingegen blüht noch so etwas wie stille Schönheit. Kaesler: "Daran musste ich oft denken, wenn ich mit meiner Ko-Autorin in den vergangenen zwei Jahren so oft über Identität und Deutschsein im reichen Deutschland sprach. Das ist eben sehr widersprüchlich, und das buchstäblich bei jedem Thema. Vielleicht ist genau das auch das Deutsche."
Anders gesagt: Zu dem, was beide Autoren als schön in Deutschland ansehen, gehört für sie immer ein Aber, und das ist häufig genug auch sehr unschön, hässlich geradezu, oft genug grundiert von der Nazi-Vergangenheit, der "braunen Spur überall", wie Kaesler sagt, aber auch von der deutschen Teilung und ihren Folgen bis heute. So ist es in den großen politischen Zusammenhängen, so ist es aber auch in Potsdam oder München zu sehen.
Ein Beispiel: Kaesler sagt, Deutschland sei selbstbewusster geworden, auch die Erwartungen von außen an Deutschland seien heute viel größer. Gleichzeitig meldeten sich im Land immer häufiger Minderheiten laut zu Wort, die genau das in Zweifel zögen und für die Deutschland nur "Schland" sei. "Das ist ein merkwürdiges Amalgam von Leuten, die eigentlich nicht zusammengehören und nur Stimmungen bedienen. Die Krakeeler darunter mit ihren diversen Fahnenkombinationen sind mir verhasst." Eine Stimmung der Unzufriedenheit, die immer nahe am Revoltieren sei, könne aber auf Dauer politische Folgen haben und zu sozialen Verwerfungen führen. "So war es ja schon bei den Nazis, die zuerst auch keiner für voll genommen hat mit ihren Aufzügen, Uniformen und ihrem proletenhaften Auftreten. Man sieht es dann an den Wahlergebnissen, bei sogenannten Protestwahlen. Denn die Krakeeler haben auf Dauer Wirkung auch auf an sich unbeteiligte Leute, die still für sich sagen: Irgendwie haben die doch recht." Corona zeige das besonders dramatisch. "Da gärt etwas, obwohl die Corona-Politik alles in allem doch unfassbar erfolgreich ist: Die Maßnahmen greifen, es gibt Impfstoffe, es wird getestet und geimpft. Was wollen die Leute mehr in einer Lage, die wir so noch nie hatten?"
Allerdings habe er selbst in seiner Jugend mit seinem Deutschsein gehadert, erzählt Kaesler. "Mit achtzehn bin ich zu Sprachkursen gefahren. Da habe ich meinen ersten grünen Reisepass bekommen und extra in ein schwarzes Lederetui gesteckt, nur damit nicht jeder gleich sieht: ein Deutscher. Seit wir den burgunderroten Pass haben, hatte sich das freilich erübrigt." Der erste europäische wurde für Kaesler im September 1991 ausgestellt. "Ich würde nicht gerade sagen, ich bin stolz auf Deutschland, aber vieles an Deutschland freut mich, auch das Seltsame und Komische. Gerade im Ausland merkt man ja, wie sehr man Deutscher ist, schon durch die Sprache, die Tradition. Das kann man als Kapitulation sehen, aber es hat doch auch seinen Reiz, so etwas zu reflektieren. Die Matschhose etwa ist so etwas komisches Deutsches. Meine Ko-Autorin wollte unbedingt darüber schreiben, ich fand es aber zu grässlich. Das fiel dann raus." Und Kaesler fügt hinzu: "Wussten Sie, dass die SPD unter Willy Brandt ,Stolz auf Deutschland' plakatierte? Ich hatte es ganz vergessen und kam bei unseren Recherchen wieder drauf, erstaunlich, nicht wahr?"
Kaesler, in München aufgewachsen, schätzt die Liberalitas Bavarica, aber Franz Josef Strauß ist ihm ein Greuel. Auch München selbst war ihm immer ein Widerspruch. "Wachsen Sie mal in den fünfziger Jahren zwischen München-Pasing und München-Obermenzing auf, mit dem Vornamen Dirk und dann noch protestantisch. Ja mei, da wird es doch nichts mit dem Seppl, auch in Jahren nicht, obwohl ich Bayerisch kann. Und dennoch hat mir das München von damals gefallen." Heute lebt er in Potsdam, und da ist es ähnlich widersprüchlich. "Neulich fragten mich Touristen an der Bushaltestelle, ob ich Potsdamer sei. Sie wollten den Weg nach Cecilienhof wissen. Was sollte ich da sagen? Ich bin kein Potsdamer, ich wohne hier. Ich habe eine Zuneigung für die Stadt und sehe doch mit Bestürzung, wie hier von einigen wenigen Monopoly gespielt wird. Da kann ich zum Beispiel den Zorn der Alt-Ossis inzwischen schon gut verstehen."
Und so geht es weiter mit dem Widersprüchlichen deutscher Schönheiten. Das Nymphenburger Porzellan gehört zum Edlen Deutschlands genau wie das Meißner. "Aber das Nymphenburger liebten die Nazi-Größen, und das Meißner aus dem damaligen VEB ließen sich die SED-Bonzen kommen." Beate Uhse ist für Kaesler "eine superkämpferische, tapfere Frau, sehr deutsch, aber ihr Geschäft hat eben auch seine schmuddelige Seite". Händel sei ein großer deutscher Musiker, aber erst fern der Heimat, in Italien und später vor allem in Großbritannien, sei er weltberühmt geworden. "Mit Grabdenkmal in Westminster Abbey - das muss man als Deutscher erst mal bringen, aber es ging eben nur in einer anderen Welt." Bei Bach sei es genau umgekehrt: Seine Musik habe sich in Orten wie Köthen und Arnstadt entfalten müssen, "schon die Namen". Die Musik von Helene Fischer wiederum müsse man nicht mögen, meint Kaesler, der sie mag, "aber ihre Kunst ist doch sehr deutsch, weil sie viel mit Disziplin, Pflichtbewusstsein, Fleiß zu tun hat".
Am Ende bekennt Kaesler, er sei zwar Deutscher, aber doch ein Heimatloser, genau wie seine Ko-Autorin von Wietersheim. "Vielleicht haben wir gerade deshalb einen besonderen Blick auf deutsche Schönheit und können uns daran erfreuen." Andererseits sagt Kaesler: "Je länger wir über das schöne Deutschland schrieben, desto mehr ergriff uns Sorge. Wir fragten uns, wie wehrhaft sind wir eigentlich, um solchen Entwicklungen wie bei den Corona-Leugnern mit ihren Protesten in Stuttgart neulich standzuhalten." Einmal abgesehen von praktischer Wehrhaftigkeit - Kaesler wünscht sich mehr Befugnisse für die Polizei, härtere Auflagen bei der Anmeldung von Demonstrationen, Schadenersatzforderungen bei Zuwiderhandlungen - gibt der Soziologe sich selbst eine gleichsam überwölbende Antwort: "Wir müssen sehen, was es Schönes an und in diesem Land gibt, verdammt noch eins." Und nach einem Augenblick des Nachdenkens fügt er hinzu: "Und das ist wert, verteidigt zu werden." Er stutzt: "Oh, jetzt werde ich schon pathetisch."
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