Das Dröhnen und die Herrlichkeit, die Bürde und die Notwendigkeit des Lebens der "einfachen Leute"
Willy sehnt sich nach nichts so sehr wie nach einem normalen Leben. Er will seine Arbeit als Zimmerer gut machen, er will für seine Familie sorgen, er träumt vom eigenen Häuschen. Mit seiner ehrlichen Art stößt er immer wieder an Grenzen, was nichts an seinem Entschluss ändert, anständig zu bleiben.
Horst, ein ungelernter Hilfsarbeiter, glaubt schon lange nicht mehr daran, auf ehrliche Weise nach oben zu kommen. Er greift zu halbseidenen Mitteln, und seine Existenz entgleitet ihm in dem Maße, in dem er seine Aggressionen nicht im Griff hat. In die Spirale des Abstiegs zieht er seinen Freund Willy hinein - mit katastrophalen Folgen für beide.
Schön ist die Nacht ist ein Roman über die westdeutschen Siebzigerjahre, der Roman einer ganzen sozialen Klasse. Zwischen ihren nach Emanzipation strebenden Frauen und streikwilligen "Gastarbeitern", zwischen ihnen entgleitenden Kindern und sie unter Druck setzenden Chefs, zwischen Spekulantenträumen und Baustellenwirklichkeit führen Willy und Horst aussichtslose Kämpfe um ihren Anteil am Wohlstand. Müssen wir sie uns als glückliche Menschen vorstellen?
Willy sehnt sich nach nichts so sehr wie nach einem normalen Leben. Er will seine Arbeit als Zimmerer gut machen, er will für seine Familie sorgen, er träumt vom eigenen Häuschen. Mit seiner ehrlichen Art stößt er immer wieder an Grenzen, was nichts an seinem Entschluss ändert, anständig zu bleiben.
Horst, ein ungelernter Hilfsarbeiter, glaubt schon lange nicht mehr daran, auf ehrliche Weise nach oben zu kommen. Er greift zu halbseidenen Mitteln, und seine Existenz entgleitet ihm in dem Maße, in dem er seine Aggressionen nicht im Griff hat. In die Spirale des Abstiegs zieht er seinen Freund Willy hinein - mit katastrophalen Folgen für beide.
Schön ist die Nacht ist ein Roman über die westdeutschen Siebzigerjahre, der Roman einer ganzen sozialen Klasse. Zwischen ihren nach Emanzipation strebenden Frauen und streikwilligen "Gastarbeitern", zwischen ihnen entgleitenden Kindern und sie unter Druck setzenden Chefs, zwischen Spekulantenträumen und Baustellenwirklichkeit führen Willy und Horst aussichtslose Kämpfe um ihren Anteil am Wohlstand. Müssen wir sie uns als glückliche Menschen vorstellen?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.07.2022Die Ballade von Willy und Horst
„Depressionen sind was für Reiche“: Christian Baron und seine
fulminante Proletariergeschichte „Schön ist die Nacht“. Von Elke Heidenreich
Das ist die Geschichte von Horst Baron und Willy Wagner, die 1944 im kriegszerstörten Kaiserslautern als Jungens aufeinandertreffen – und eine fatale Freundschaft fürs Leben schließen. Willy versucht, anständig zu bleiben, Horst dreht krumme Dinger, um durchzukommen, und zieht Willy immer wieder mit rein. Beide kommen aus sogenannten prekären Verhältnissen, beide bleiben lebenslang in ihnen verhaftet.
Wir begleiten sie auf 380 Seiten von 1944 durch die 70er-Jahre bis hin zum Beginn der 80er. Und enden 2011. Und was ändert sich? Nichts. Ein beschissenes Leben bleibt ein beschissenes Leben. Willys Mutter Hulda, Kommunistin, weiß, dass der Kapitalismus an allem schuld ist. Sie zitiert Marx und Brecht, liest Böll und schimpft auf die Regierung, alles Verräter. Franz Josef Strauß, damals als Kanzlerkandidat gehandelt? Ein „Hannebambel“. Auf ihrem Plattenspieler läuft Hannes Wader, „Wir sind die Moorsoldaten“.
Sie hatte ihren Willy in ein katholisches Waisenhaus gesteckt, damit ihn die Nazis nicht in den Krieg holen, war aber keine gute Adresse für ein Kind, und was macht Willy, kaum volljährig? Geht aus Wut zur Fremdenlegion nach Algerien. Schon der falsche Anfang. Horst, der John Wayne aus Kaiserslautern, weiß: Gott ist an allem schuld. „Sollte er sich was wünschen? Wann immer er wollte, warf Gott einen Stein nach ihm. Immer wenn er mal wem was Schlechtes tun wollte, erkor er Horst aus. Und dann sah er zu, wie er aufstand, um ihm im nächsten Moment wieder eins überzubraten.“ Horst ist kein guter Mensch, er ist immer latent und oft auch real gewaltbereit: „Wenn Erna schlief, hatte Horst gute Gedanken. Das war der Härtetest, wenn man eine Person schlummern sah und ihr nichts antun wollte.“
Wer ist schuld an dieser Proletariermisere in Kaiserslautern, an den engen Wohnungen, der Armut, den vielen Kindern, der Perspektivlosigkeit? Darf man nach Schuld überhaupt fragen? Darf man, und Christian Baron hat das schon in seinem starken Erstling getan, „Ein Mann seiner Klasse“ von 2020. Da erzählt er, wie auch in diesem neuen und fulminanten Roman, von seiner Familie und da haben wir ja auch sofort die Antwort: „Unser Vater war ein Mann seiner Klasse. Ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war. Das entschuldigt nichts, aber es erklärt alles.“
Es erklärt das Saufen, das Prügeln, das Schuften und Doch-auf-keinen-grünen-Zweig-Kommen. Hat denn Herkunft, hat Klasse heute noch immer so eine große Bedeutung für den Lebensweg? Ja, sagt Baron im Vorwort zu seiner Anthologie „Klasse und Kampf“, die 2021 erschienen ist, es gibt „nach wie vor den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, mit sich einander unversöhnlich gegenüberstehenden Interessen“.
Es gibt Leben, die sind deshalb von Anfang an versemmelt, und die erholen sich auch nicht mehr. Schon in „Ein Mann seiner Klasse“ hat Christian Baron davon erzählt: vom prügelnden, saufenden Vater, der früh gestorbenen Mutter, der elenden Schiene, auf die das Leben von Anfang an gerät und nicht mehr runterkommt. In „Schön ist die Nacht“ tauchen wir nun in die Vorgeschichte ein. Trostlos zu lesen? Ja und nein.
Ja, weil es den Leser mitnimmt, wenn Leben so gründlich misslingen. Nein, weil Baron uns emotional nie kalt lässt, weil er nicht distanziert von fern erzählt wie etwa Didier Eribon oder Annie Ernaux, die es „raus“ geschafft haben. Er steckt voller Schmerz und Zorn, Angst und Hoffnung, Liebe und Hass, das macht das Buch kraftvoll und vor allem sprachlich authentisch: „Der Schleimscheißer von der Umzugsfirma, den hätte Horst gern durch die Botanik gepflügt.“ Aber er kann es auch poetisch: „Es kam Willy vor, als hätten die Wolken sich ein tiefblaues Bad eingelassen, das jedem das Gefühl geben sollte, in Einklang mit sich selbst und überhaupt der ganzen Welt zu leben.“
Baron schildert diesen Willy so: „Er war kein Mann, der als Erster durch die Tür einen Raum betrat.“ Horst dagegen ist überall der Erste, wenn es darum geht, zu betrügen, zu schummeln, sich aufzublasen. Er teilt aus, aber: ihn „umwehte die Aura eines Boxers aus einem Hollywoodfilm. In seiner Miene sahen die gewölbten Lippen, das zerschlagene Jochbein und die aufgetriebenen Augen aus wie geschminkt. Er mochte wehleidig sein, doch einstecken konnte er“. Horst hat auch gute Sprüche auf Lager, etwa: „Depressionen sind was für die Reichen. Wir anderen müssen morgens früh raus.“ Willy dagegen war der Junge, „der im Frühjahr die von der Kälte der Eisheiligen überraschten Hummeln mit Zucker aufpäppelte“, aber er war auch der, „der im Winter mit den Nachbarskindern die Fensterscheiben der Juden einwarf“. So hatten sie das von den Erwachsenen gelernt, und als das Unrecht Willy später bewusst wird, leidet er und versucht ein anständiger Mensch zu werden. „Ach komm, Willy“, sagt Horst dazu, „wie lang willste dich noch belügen? Dass man mit ehrlicher Arbeit was erreichen kann, hat noch nie gestimmt.“
Und so baut Horst weiter Mist und Willy versucht, ihn da rauszuholen, und beide schuften sich tot und bleiben: Männer ihrer Klasse. „Natürlich kannte auch Willy diese Gelüste, wenn ein schlecht gesicherter Geldtransporter vor der Bank hielt oder ein naiver Tankstellenbesitzer mitten in der Nacht unbedarft seine Kasse öffnete“, aber: „Was die Spirale der Unmoral in einem Menschen anrichtete, der einmal dort hineingeraten war, das konnte Willy doch an seinem besten Freund studieren, Himmelnocheins.“
Dieser Roman mutet Wechselbäder der Gefühle zu, und genau das macht ihn lesenswert. Wir gehen durch Horsts Hölle und Willys Kampf für das Gute, wir sehen beide verlieren, aber zwischendurch trinken wir viele Bierchen mit ihnen in der „Goldmine“ (und müssen danach schnell „in die Porzellanabteilung“!) und denken wie sie: dass manchmal alle Anstrengung umsonst ist, man kommt aus dem Sumpf nicht raus, und darüber kann man nur verzweifeln, aufgeben oder bösartig werden, aber erklären oder begreifen kann man es nicht. Hulda versucht es: die Politik, das Geld, die Klassengesellschaft – aber sag das mal einem, der sieben Kinder hat und jeden schlechtbezahlten Job annimmt, ohne zu murren, um die durchzubringen. Hulda plädiert für Eintritt in die Gewerkschaft. Aber wenn der Chef das mitkriegt, fliegt man raus. Und Horst weiß sowieso: Das Gute ist nicht die Lösung, mit miesen Tricks kommt man besser durch.
Baron kennt die Arbeitswelt, die er beschreibt. Seine Sätze stimmen, sind oft von großer Wut, dann wieder voller Verzweiflung und manchmal auch sehr moralisch. Wir verzeihen ihm das, weil ihn der Kummer treibt, diese Leben zu beschreiben, die von allem Anfang an keine Chancen haben. Und doch spürt man sein Credo, formuliert schon im Vorwort zu „Klasse und Kampf“: „Was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen verändert werden.“ Huldas guter alter Glaube an Karl Marx schlägt hier durch, und Christian Baron nimmt sich selbst als Beweis, als einen, der den unwahrscheinlichen Weg zum Abitur und raus aus einer toxischen Auffassung von Männlichkeit geschafft hat, „weil ich zufällig nicht frühzeitig aus dem Bildungssystem eliminiert wurde“. Aber er weiß noch, wie es ist, wenn einer „ne offene Lötstelle hat“ oder „einem mit dem Vorschlaghammer den Scheitel zieht“.
Die Kinder werden groß, die Frauen fangen das Schnapssaufen an und sterben früh, die Männer altern vor der Zeit und kommen auf keinen grünen Zweig, und die bessere Gesellschaft? „Die denken sich ihren Teil, ohne je mit einem hier gesprochen zu haben“, sagt Willy. „Für die sind wir nichts als Gesocks, bloß weil wir nicht studiert haben und gern mal ein Bierchen trinken.“Schön ist die Nacht… was für ein Titel für ein so verzweiflungsvolles Buch.
Manchmal hab ich beim Lesen gedacht: Ist das alles heute noch relevant? Und dann lese ich von den obszönen Milliardenvermögen und von der entsetzlichen Armut, von der sogenannten Schere, die sich immer weiter öffnet. Wir reden derzeit viel über ethnische und kulturelle Herkunft, über sexuelle Orientierung – und nur wenig über soziale Herkunft. Das Thema Klasse, sagt die afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin bell hooks (diesen Namen ihrer indigenen Großmutter gab sich Gloria Jean Watkins, Arbeiterkind und später Professorin), ist weniger cool als das Thema Gender. „Die soziale Herkunft wird meist vergessen“, schreibt Baron: „Sie ist ein blinder Fleck. Deutschland gibt sich gerne als ein Land, in dem Klasse keine Rolle spielt. Aber wie viele Leute aus armen und/oder nicht akademischen Elternhäusern sitzen denn in den Macht- und Entscheidungspositionen der Dax-Konzerne, des Kulturbetriebs, der politischen Parteien?“ Und er erinnert uns daran, was leicht vergessen wird: „Die Kategorien ‚Race‘, ‚Gender‘ und ‚Class‘ sind eng miteinander verbunden.“
Der Roman „Schön ist die Nacht“ erzählt davon mit großer Wucht, mit Liebe und Schmerz. Ich bin als Arbeiterkind im Ruhrgebiet aufgewachsen. Ich kenne das, was Baron erzählt. Ich sehe im Park, durch den ich täglich mit dem Hund gehe, jeden Morgen den alten Mann, der zwischen Abfall und Hundescheiße die leeren Bierflaschen aus den Papierkörben fischt und denke: Ja. Es ist noch relevant. Ich hab einfach nur mehr Glück gehabt als Horst und Willy.
Ihn treibt der Kummer,
die Leben zu beschreiben, die von
Anfang an keine Chancen haben
Wir sehen diese Männer ihrer Klasse verlieren, aber zwischendurch trinken wir viele Bierchen mit ihnen: Alltag in der Kneipe 1977, hier in Dortmund. Foto: Klaus Rose/Imago
„Die soziale Herkunft wird meist vergessen“, schreibt Christian Baron, „sie ist ein blinder Fleck.“
Foto: Hans Scherhaufer
Christian Baron: Schön ist die Nacht. Roman.
Claassen, Berlin 2022.
384 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Depressionen sind was für Reiche“: Christian Baron und seine
fulminante Proletariergeschichte „Schön ist die Nacht“. Von Elke Heidenreich
Das ist die Geschichte von Horst Baron und Willy Wagner, die 1944 im kriegszerstörten Kaiserslautern als Jungens aufeinandertreffen – und eine fatale Freundschaft fürs Leben schließen. Willy versucht, anständig zu bleiben, Horst dreht krumme Dinger, um durchzukommen, und zieht Willy immer wieder mit rein. Beide kommen aus sogenannten prekären Verhältnissen, beide bleiben lebenslang in ihnen verhaftet.
Wir begleiten sie auf 380 Seiten von 1944 durch die 70er-Jahre bis hin zum Beginn der 80er. Und enden 2011. Und was ändert sich? Nichts. Ein beschissenes Leben bleibt ein beschissenes Leben. Willys Mutter Hulda, Kommunistin, weiß, dass der Kapitalismus an allem schuld ist. Sie zitiert Marx und Brecht, liest Böll und schimpft auf die Regierung, alles Verräter. Franz Josef Strauß, damals als Kanzlerkandidat gehandelt? Ein „Hannebambel“. Auf ihrem Plattenspieler läuft Hannes Wader, „Wir sind die Moorsoldaten“.
Sie hatte ihren Willy in ein katholisches Waisenhaus gesteckt, damit ihn die Nazis nicht in den Krieg holen, war aber keine gute Adresse für ein Kind, und was macht Willy, kaum volljährig? Geht aus Wut zur Fremdenlegion nach Algerien. Schon der falsche Anfang. Horst, der John Wayne aus Kaiserslautern, weiß: Gott ist an allem schuld. „Sollte er sich was wünschen? Wann immer er wollte, warf Gott einen Stein nach ihm. Immer wenn er mal wem was Schlechtes tun wollte, erkor er Horst aus. Und dann sah er zu, wie er aufstand, um ihm im nächsten Moment wieder eins überzubraten.“ Horst ist kein guter Mensch, er ist immer latent und oft auch real gewaltbereit: „Wenn Erna schlief, hatte Horst gute Gedanken. Das war der Härtetest, wenn man eine Person schlummern sah und ihr nichts antun wollte.“
Wer ist schuld an dieser Proletariermisere in Kaiserslautern, an den engen Wohnungen, der Armut, den vielen Kindern, der Perspektivlosigkeit? Darf man nach Schuld überhaupt fragen? Darf man, und Christian Baron hat das schon in seinem starken Erstling getan, „Ein Mann seiner Klasse“ von 2020. Da erzählt er, wie auch in diesem neuen und fulminanten Roman, von seiner Familie und da haben wir ja auch sofort die Antwort: „Unser Vater war ein Mann seiner Klasse. Ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war. Das entschuldigt nichts, aber es erklärt alles.“
Es erklärt das Saufen, das Prügeln, das Schuften und Doch-auf-keinen-grünen-Zweig-Kommen. Hat denn Herkunft, hat Klasse heute noch immer so eine große Bedeutung für den Lebensweg? Ja, sagt Baron im Vorwort zu seiner Anthologie „Klasse und Kampf“, die 2021 erschienen ist, es gibt „nach wie vor den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, mit sich einander unversöhnlich gegenüberstehenden Interessen“.
Es gibt Leben, die sind deshalb von Anfang an versemmelt, und die erholen sich auch nicht mehr. Schon in „Ein Mann seiner Klasse“ hat Christian Baron davon erzählt: vom prügelnden, saufenden Vater, der früh gestorbenen Mutter, der elenden Schiene, auf die das Leben von Anfang an gerät und nicht mehr runterkommt. In „Schön ist die Nacht“ tauchen wir nun in die Vorgeschichte ein. Trostlos zu lesen? Ja und nein.
Ja, weil es den Leser mitnimmt, wenn Leben so gründlich misslingen. Nein, weil Baron uns emotional nie kalt lässt, weil er nicht distanziert von fern erzählt wie etwa Didier Eribon oder Annie Ernaux, die es „raus“ geschafft haben. Er steckt voller Schmerz und Zorn, Angst und Hoffnung, Liebe und Hass, das macht das Buch kraftvoll und vor allem sprachlich authentisch: „Der Schleimscheißer von der Umzugsfirma, den hätte Horst gern durch die Botanik gepflügt.“ Aber er kann es auch poetisch: „Es kam Willy vor, als hätten die Wolken sich ein tiefblaues Bad eingelassen, das jedem das Gefühl geben sollte, in Einklang mit sich selbst und überhaupt der ganzen Welt zu leben.“
Baron schildert diesen Willy so: „Er war kein Mann, der als Erster durch die Tür einen Raum betrat.“ Horst dagegen ist überall der Erste, wenn es darum geht, zu betrügen, zu schummeln, sich aufzublasen. Er teilt aus, aber: ihn „umwehte die Aura eines Boxers aus einem Hollywoodfilm. In seiner Miene sahen die gewölbten Lippen, das zerschlagene Jochbein und die aufgetriebenen Augen aus wie geschminkt. Er mochte wehleidig sein, doch einstecken konnte er“. Horst hat auch gute Sprüche auf Lager, etwa: „Depressionen sind was für die Reichen. Wir anderen müssen morgens früh raus.“ Willy dagegen war der Junge, „der im Frühjahr die von der Kälte der Eisheiligen überraschten Hummeln mit Zucker aufpäppelte“, aber er war auch der, „der im Winter mit den Nachbarskindern die Fensterscheiben der Juden einwarf“. So hatten sie das von den Erwachsenen gelernt, und als das Unrecht Willy später bewusst wird, leidet er und versucht ein anständiger Mensch zu werden. „Ach komm, Willy“, sagt Horst dazu, „wie lang willste dich noch belügen? Dass man mit ehrlicher Arbeit was erreichen kann, hat noch nie gestimmt.“
Und so baut Horst weiter Mist und Willy versucht, ihn da rauszuholen, und beide schuften sich tot und bleiben: Männer ihrer Klasse. „Natürlich kannte auch Willy diese Gelüste, wenn ein schlecht gesicherter Geldtransporter vor der Bank hielt oder ein naiver Tankstellenbesitzer mitten in der Nacht unbedarft seine Kasse öffnete“, aber: „Was die Spirale der Unmoral in einem Menschen anrichtete, der einmal dort hineingeraten war, das konnte Willy doch an seinem besten Freund studieren, Himmelnocheins.“
Dieser Roman mutet Wechselbäder der Gefühle zu, und genau das macht ihn lesenswert. Wir gehen durch Horsts Hölle und Willys Kampf für das Gute, wir sehen beide verlieren, aber zwischendurch trinken wir viele Bierchen mit ihnen in der „Goldmine“ (und müssen danach schnell „in die Porzellanabteilung“!) und denken wie sie: dass manchmal alle Anstrengung umsonst ist, man kommt aus dem Sumpf nicht raus, und darüber kann man nur verzweifeln, aufgeben oder bösartig werden, aber erklären oder begreifen kann man es nicht. Hulda versucht es: die Politik, das Geld, die Klassengesellschaft – aber sag das mal einem, der sieben Kinder hat und jeden schlechtbezahlten Job annimmt, ohne zu murren, um die durchzubringen. Hulda plädiert für Eintritt in die Gewerkschaft. Aber wenn der Chef das mitkriegt, fliegt man raus. Und Horst weiß sowieso: Das Gute ist nicht die Lösung, mit miesen Tricks kommt man besser durch.
Baron kennt die Arbeitswelt, die er beschreibt. Seine Sätze stimmen, sind oft von großer Wut, dann wieder voller Verzweiflung und manchmal auch sehr moralisch. Wir verzeihen ihm das, weil ihn der Kummer treibt, diese Leben zu beschreiben, die von allem Anfang an keine Chancen haben. Und doch spürt man sein Credo, formuliert schon im Vorwort zu „Klasse und Kampf“: „Was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen verändert werden.“ Huldas guter alter Glaube an Karl Marx schlägt hier durch, und Christian Baron nimmt sich selbst als Beweis, als einen, der den unwahrscheinlichen Weg zum Abitur und raus aus einer toxischen Auffassung von Männlichkeit geschafft hat, „weil ich zufällig nicht frühzeitig aus dem Bildungssystem eliminiert wurde“. Aber er weiß noch, wie es ist, wenn einer „ne offene Lötstelle hat“ oder „einem mit dem Vorschlaghammer den Scheitel zieht“.
Die Kinder werden groß, die Frauen fangen das Schnapssaufen an und sterben früh, die Männer altern vor der Zeit und kommen auf keinen grünen Zweig, und die bessere Gesellschaft? „Die denken sich ihren Teil, ohne je mit einem hier gesprochen zu haben“, sagt Willy. „Für die sind wir nichts als Gesocks, bloß weil wir nicht studiert haben und gern mal ein Bierchen trinken.“Schön ist die Nacht… was für ein Titel für ein so verzweiflungsvolles Buch.
Manchmal hab ich beim Lesen gedacht: Ist das alles heute noch relevant? Und dann lese ich von den obszönen Milliardenvermögen und von der entsetzlichen Armut, von der sogenannten Schere, die sich immer weiter öffnet. Wir reden derzeit viel über ethnische und kulturelle Herkunft, über sexuelle Orientierung – und nur wenig über soziale Herkunft. Das Thema Klasse, sagt die afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin bell hooks (diesen Namen ihrer indigenen Großmutter gab sich Gloria Jean Watkins, Arbeiterkind und später Professorin), ist weniger cool als das Thema Gender. „Die soziale Herkunft wird meist vergessen“, schreibt Baron: „Sie ist ein blinder Fleck. Deutschland gibt sich gerne als ein Land, in dem Klasse keine Rolle spielt. Aber wie viele Leute aus armen und/oder nicht akademischen Elternhäusern sitzen denn in den Macht- und Entscheidungspositionen der Dax-Konzerne, des Kulturbetriebs, der politischen Parteien?“ Und er erinnert uns daran, was leicht vergessen wird: „Die Kategorien ‚Race‘, ‚Gender‘ und ‚Class‘ sind eng miteinander verbunden.“
Der Roman „Schön ist die Nacht“ erzählt davon mit großer Wucht, mit Liebe und Schmerz. Ich bin als Arbeiterkind im Ruhrgebiet aufgewachsen. Ich kenne das, was Baron erzählt. Ich sehe im Park, durch den ich täglich mit dem Hund gehe, jeden Morgen den alten Mann, der zwischen Abfall und Hundescheiße die leeren Bierflaschen aus den Papierkörben fischt und denke: Ja. Es ist noch relevant. Ich hab einfach nur mehr Glück gehabt als Horst und Willy.
Ihn treibt der Kummer,
die Leben zu beschreiben, die von
Anfang an keine Chancen haben
Wir sehen diese Männer ihrer Klasse verlieren, aber zwischendurch trinken wir viele Bierchen mit ihnen: Alltag in der Kneipe 1977, hier in Dortmund. Foto: Klaus Rose/Imago
„Die soziale Herkunft wird meist vergessen“, schreibt Christian Baron, „sie ist ein blinder Fleck.“
Foto: Hans Scherhaufer
Christian Baron: Schön ist die Nacht. Roman.
Claassen, Berlin 2022.
384 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der zweite Teil von Christian Barons Pfälzer Familienchronik erzählt Rezensentin Lerke von Saalfeld zufolge genauso authentisch und wuchtig vom Elend des Arbeiterlebens in der Provinz wie der erste autobiografische Teil. Während Baron in diesem seine harte Kindheit in eben jenem Milieu schilderte, springt er nun zeitlich zurück und zeichnet die Lebensgeschichte seines Vaters nach, so Saalfeld. Die Erzählung dreht sich um jenen Horst Baron und seinen Jugendfreund Willy, die im Wirtschaftswunder-Deutschland der 70er Jahre daran scheitern, am Aufschwung teilzuhaben, berichtet die Kritikerin. Horst zieht den ehrlichen Willy in seine kriminellen Machenschaften hinein, in beider Familien herrschen Härte und enormes Leid. Baron zeichnet eine Welt ohne Ausweg, schreibt Saalfeld, geprägt von Armut und Gewalt. Dabei geht es ihm nicht um das Mitleid der Leser, sondern um die Offenlegung desaströser Verhältnisse, so die Rezensentin. Beeindruckt ist Saalfeld von der atmosphärischen Dichte und den authentischen Figuren und wartet schon gespannt auf den dritten Teil der "Lauterer Trilogie".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.2023Nur die bekennende Bolschewikin weiß Rat
Der Titel klingt wie Hohn, der Roman selbst ist die Wucht: Christian Barons "Schön ist die Nacht"
Die Pfälzer Familienchronik von Christian Baron befindet sich in Fortsetzung. 2020 erschien sein Debüt "Ein Mann seiner Klasse"; der Autor, geboren 1985 in Kaiserslautern, erzählt darin seine Kindheit in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts, eine Kindheit, die durch Armut, Alkoholismus, Gewalt, Hunger, Unterdrückung und Machtmissbrauch eine "Sozialgeschichte von unten" aufblättert. Die Literaturkritik horchte auf, denn hier beschreibt einer authentisch das erbärmliche Arbeiterleben in der Provinz. Nun setzt Baron seine Autobiographie als Roman fort, verarbeitet werden darin die Lebensgeschichten seiner Familie, aber "alle Figuren sind frei erfunden".
Der Autor schreitet zeitlich nicht voran, sondern geht eine Generation zurück: "Ich wollte wissen, warum mein Vater so geworden ist, wie er geworden ist." Diese Generation, um das Jahr 1930 geboren, will er nicht verklären und nicht verdammen, er will sie verstehen lernen. Was sind ihre Lebenserfahrungen zu einer Zeit, als Baron noch gar nicht geboren war?
Der Roman setzt ein mit einem Epilog im Januar 1944. Zwei Jungen, der eine zehn Jahre alt, der andere noch keine sechzehn, treffen sich im zerbombten Kaiserslautern und kommen ins Gespräch. Der Ältere, als HJ-Junge, will den Jüngeren zurechtweisen und bedroht ihn zunächst, dann erfährt er, dass der Kleine im Waisenhaus lebt, seine Mutter, eine Prostituierte, verloren hat und sein Vater als "Asozialer" im KZ Dachau sitzt. Der Ältere erzählt, seine Eltern seien beide Kommunisten, der Vater wurde in ein Strafbataillon abkommandiert, die Mutter steckte den Sohn in ein Heim, um ungestört ihrer bolschewistischen Arbeit nachgehen zu können. Der Ältere will helfen und den Kleinen verstecken, Ob das nicht zu gefährlich sei, fragt der Kleine, der Große antwortet: "Wir sind anständige Deutsche. So kurz vor dem Endsieg würden die in deinem Waisenhaus das nicht begreifen. Aber danach werden sie mir einen Orden verleihen für die Rettung eines arischen Jungen, da kannst du dich drauf verlassen."
Aufschwung in einer Kneipe namens "Goldmine"
Sie stellen sich vor: Der Kleine heißt Horst Baron, der Große Willy Wagner. Es sind die Großväter väterlicher- und mütterlicherseits des Autors. Und nun macht der Roman einen weiten Sprung in die Siebzigerjahre, die beiden treffen sich im bundesdeutschen Wirtschaftswunderland in Kaiserslautern wieder, 1973, 1976, 1979. Beide wollen ihr Glück machen, teilhaben am Aufschwung, nur sind ihre Charaktere sehr verschieden, Willy möchte ein "anständiger" Mensch sein, "ich will eine sichere Anstellung mit Funktion im Betrieb und mit Frau und Kindern einen guten Lebensstandard haben". In der Kneipe "Goldmine" sitzt Horst: "Alle sprachen sie immer von anständiger Arbeit, doch schon die Idee fand er im Grunde zum Kotzen. Wieso waren sie alle so erpicht darauf, sich gegen ein bisschen Schmerzensgeld kaputtzuschuften? Wie aufs Stichwort stapfte Willy herein in die Spelunke. Der strebsamste aller Männer. Was haben all die Jahre harter Arbeit den Kerl abgewrackt, dachte Horst. Und darauf bildet der sich noch was ein. Horst nickte ihm zu. Willy schüttete sein Pils in sich hinein."
Die Freundschaft ist brüchig, denn keiner von beiden reüssiert, weder wirtschaftlich noch persönlich. Der strebsame Willy braucht lange, bis er endlich eine feste Stellung als Polier findet, und als er die hat, stürzt er vom Dachfirst und ist Invalide; Horst dreht unaufhörlich krumme Touren, in die er auch Willy mit hineinzieht, er landet im Gefängnis und hintergeht Willy, wo er nur kann. Die familiären Verhältnisse sind desaströs. Die Kinder verlassen im Streit die ärmlichen Wohnverhältnisse. Die Ehefrauen beziehungsweise Lebensgefährtinnen werfen sich vor den Zug oder sterben an Krebs, eine Tochter wird mit sechzehn Jahren schwanger und stirbt ebenfalls an Krebs, ein Sohn erliegt dem Suff. Nichts will gelingen. Schlägereien, brutale Wortgefechte, häusliche Kampfszenen sind an der Tagesordnung. Das kapitalistische System muss funktionieren und wird mit aller Härte durchgesetzt. Wer nicht pariert, wird vor die Tür gesetzt. Mitleid gibt es in dieser rauen Welt nicht.
Vehemente Verteidigung des Arbeitermilieus
Wie Hohn klingt der Titel "Schön ist die Nacht" - das ist ein Tango, zu dem Willy und seine Frau Rosi sich verliebt haben, als sie zum ersten Mal miteinander tanzten. Als Rosi auf dem Totenbett liegt, legt Willy zum letzten Mal ihren Lieblings-Tango auf, dann schreit er seine Wut auf das Leben aus dem Fenster. Keiner findet einen Ausweg; so war es auch schon im ersten Teil der Lauterer Chronik. Prekariat bleibt Prekariat. Alle sind gefangen in einem Ghetto der Aussichtslosigkeit. Nur eine weiß Rat: Hulda, die immer noch bekennende Bolschewikin und Mutter von Willy. Alle suchen Trost bei ihr, aber niemand folgt ihren Worten. Willy fragt sie voller Ingrimm: "'Warum liest du die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Du wohnst doch gar nicht in Frankfurt.' 'Sehr witzig', sagte Hulda. 'Man muss den Feind kennen, damit man ihn besiegen kann', deklamierte sie aus ihrem Bestand an Parteitagsgesprächen."
Die Hauptpersonen sprechen ein schlichtes Hochdeutsch, Nebenfiguren (wie Luis der Stinker oder S-Bahn-Dirk) ergehen sich in breitem Pfälzisch. Das schafft eine dichte Atmosphäre. Hier schmeckt nicht einer in eine fremde Welt hinein, hier wird gelebtes Leben erzählt mit all dessen Kanten, Ecken, Ungereimtheiten und Gemeinheiten. Der Autor heischt nicht nach Mitleid beim Publikum, er verteidigt vehement eine Welt im Arbeitermilieu, die abseits der Metropolenliteratur literarisch und poetisch zu Gehör gebracht werden muss. Warten wir also voller Neugier auf den dritten Teil dieser Lauterer Trilogie, an der Baron - beflügelt vom großen bisherigen Erfolg - bereits schreibt. LERKE VON SAALFELD
Christian Baron: "Schön ist die Nacht". Roman.
Claassen Verlag, Berlin 2022. 378 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Titel klingt wie Hohn, der Roman selbst ist die Wucht: Christian Barons "Schön ist die Nacht"
Die Pfälzer Familienchronik von Christian Baron befindet sich in Fortsetzung. 2020 erschien sein Debüt "Ein Mann seiner Klasse"; der Autor, geboren 1985 in Kaiserslautern, erzählt darin seine Kindheit in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts, eine Kindheit, die durch Armut, Alkoholismus, Gewalt, Hunger, Unterdrückung und Machtmissbrauch eine "Sozialgeschichte von unten" aufblättert. Die Literaturkritik horchte auf, denn hier beschreibt einer authentisch das erbärmliche Arbeiterleben in der Provinz. Nun setzt Baron seine Autobiographie als Roman fort, verarbeitet werden darin die Lebensgeschichten seiner Familie, aber "alle Figuren sind frei erfunden".
Der Autor schreitet zeitlich nicht voran, sondern geht eine Generation zurück: "Ich wollte wissen, warum mein Vater so geworden ist, wie er geworden ist." Diese Generation, um das Jahr 1930 geboren, will er nicht verklären und nicht verdammen, er will sie verstehen lernen. Was sind ihre Lebenserfahrungen zu einer Zeit, als Baron noch gar nicht geboren war?
Der Roman setzt ein mit einem Epilog im Januar 1944. Zwei Jungen, der eine zehn Jahre alt, der andere noch keine sechzehn, treffen sich im zerbombten Kaiserslautern und kommen ins Gespräch. Der Ältere, als HJ-Junge, will den Jüngeren zurechtweisen und bedroht ihn zunächst, dann erfährt er, dass der Kleine im Waisenhaus lebt, seine Mutter, eine Prostituierte, verloren hat und sein Vater als "Asozialer" im KZ Dachau sitzt. Der Ältere erzählt, seine Eltern seien beide Kommunisten, der Vater wurde in ein Strafbataillon abkommandiert, die Mutter steckte den Sohn in ein Heim, um ungestört ihrer bolschewistischen Arbeit nachgehen zu können. Der Ältere will helfen und den Kleinen verstecken, Ob das nicht zu gefährlich sei, fragt der Kleine, der Große antwortet: "Wir sind anständige Deutsche. So kurz vor dem Endsieg würden die in deinem Waisenhaus das nicht begreifen. Aber danach werden sie mir einen Orden verleihen für die Rettung eines arischen Jungen, da kannst du dich drauf verlassen."
Aufschwung in einer Kneipe namens "Goldmine"
Sie stellen sich vor: Der Kleine heißt Horst Baron, der Große Willy Wagner. Es sind die Großväter väterlicher- und mütterlicherseits des Autors. Und nun macht der Roman einen weiten Sprung in die Siebzigerjahre, die beiden treffen sich im bundesdeutschen Wirtschaftswunderland in Kaiserslautern wieder, 1973, 1976, 1979. Beide wollen ihr Glück machen, teilhaben am Aufschwung, nur sind ihre Charaktere sehr verschieden, Willy möchte ein "anständiger" Mensch sein, "ich will eine sichere Anstellung mit Funktion im Betrieb und mit Frau und Kindern einen guten Lebensstandard haben". In der Kneipe "Goldmine" sitzt Horst: "Alle sprachen sie immer von anständiger Arbeit, doch schon die Idee fand er im Grunde zum Kotzen. Wieso waren sie alle so erpicht darauf, sich gegen ein bisschen Schmerzensgeld kaputtzuschuften? Wie aufs Stichwort stapfte Willy herein in die Spelunke. Der strebsamste aller Männer. Was haben all die Jahre harter Arbeit den Kerl abgewrackt, dachte Horst. Und darauf bildet der sich noch was ein. Horst nickte ihm zu. Willy schüttete sein Pils in sich hinein."
Die Freundschaft ist brüchig, denn keiner von beiden reüssiert, weder wirtschaftlich noch persönlich. Der strebsame Willy braucht lange, bis er endlich eine feste Stellung als Polier findet, und als er die hat, stürzt er vom Dachfirst und ist Invalide; Horst dreht unaufhörlich krumme Touren, in die er auch Willy mit hineinzieht, er landet im Gefängnis und hintergeht Willy, wo er nur kann. Die familiären Verhältnisse sind desaströs. Die Kinder verlassen im Streit die ärmlichen Wohnverhältnisse. Die Ehefrauen beziehungsweise Lebensgefährtinnen werfen sich vor den Zug oder sterben an Krebs, eine Tochter wird mit sechzehn Jahren schwanger und stirbt ebenfalls an Krebs, ein Sohn erliegt dem Suff. Nichts will gelingen. Schlägereien, brutale Wortgefechte, häusliche Kampfszenen sind an der Tagesordnung. Das kapitalistische System muss funktionieren und wird mit aller Härte durchgesetzt. Wer nicht pariert, wird vor die Tür gesetzt. Mitleid gibt es in dieser rauen Welt nicht.
Vehemente Verteidigung des Arbeitermilieus
Wie Hohn klingt der Titel "Schön ist die Nacht" - das ist ein Tango, zu dem Willy und seine Frau Rosi sich verliebt haben, als sie zum ersten Mal miteinander tanzten. Als Rosi auf dem Totenbett liegt, legt Willy zum letzten Mal ihren Lieblings-Tango auf, dann schreit er seine Wut auf das Leben aus dem Fenster. Keiner findet einen Ausweg; so war es auch schon im ersten Teil der Lauterer Chronik. Prekariat bleibt Prekariat. Alle sind gefangen in einem Ghetto der Aussichtslosigkeit. Nur eine weiß Rat: Hulda, die immer noch bekennende Bolschewikin und Mutter von Willy. Alle suchen Trost bei ihr, aber niemand folgt ihren Worten. Willy fragt sie voller Ingrimm: "'Warum liest du die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Du wohnst doch gar nicht in Frankfurt.' 'Sehr witzig', sagte Hulda. 'Man muss den Feind kennen, damit man ihn besiegen kann', deklamierte sie aus ihrem Bestand an Parteitagsgesprächen."
Die Hauptpersonen sprechen ein schlichtes Hochdeutsch, Nebenfiguren (wie Luis der Stinker oder S-Bahn-Dirk) ergehen sich in breitem Pfälzisch. Das schafft eine dichte Atmosphäre. Hier schmeckt nicht einer in eine fremde Welt hinein, hier wird gelebtes Leben erzählt mit all dessen Kanten, Ecken, Ungereimtheiten und Gemeinheiten. Der Autor heischt nicht nach Mitleid beim Publikum, er verteidigt vehement eine Welt im Arbeitermilieu, die abseits der Metropolenliteratur literarisch und poetisch zu Gehör gebracht werden muss. Warten wir also voller Neugier auf den dritten Teil dieser Lauterer Trilogie, an der Baron - beflügelt vom großen bisherigen Erfolg - bereits schreibt. LERKE VON SAALFELD
Christian Baron: "Schön ist die Nacht". Roman.
Claassen Verlag, Berlin 2022. 378 S., geb., 23,- Euro.
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»Ein fulminanter Roman [...]. Baron lässt uns emotional nie kalt, weil er nicht distanziert von fern erzählt, wie etwa Didier Eribon oder Annie Ernaux...Er steckt voller Schmerz und Zorn, Angst und Hoffnung, Liebe und Hass, das macht das Buch kraftvoll und vor allem sprachlich authentisch. [...] Dieser Roman mutet Wechselbäder der Gefühle zu, und genau das macht ihn lesenswert.« Elke Heidenreich Süddeutsche Zeitung 20220726