Hereinspaziert! Zwischen Karussells zund Achterbahn, zwischen Grottenbahn und Panoptikum, Kasperltheater und Wanderkino, Fakiren und Seiltänzern ist dieses Buch ein faszinierender Tauchgang in die Welt des Bizarren und Skurrilen, eine seltsame und anrührende Verbindung von Realität und Irrealität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2005Die Unschuld der Herrscherin aller Karussellpferde
Es ist Sonntag nachmittag. Die Sonne lacht. Die Kinder toben. Die Wohnung ist mal wieder zu klein. Die Familie, soll der Segen über ihr erhalten bleiben, muß raus an die frische Luft. Die Familie steht jetzt vor der Tür und überlegt gemeinsam: Wohin in der Stadt? Sie wissen es. Denn auch im katholischen Österreich rennen die Familien sehr gerne am Sonntag nachmittag auf den Jahrmarkt. Dort mischen sich die Generationen. Dort erwarten den erwachsenen Besucher Sinnesattraktionen, die ihn mit Reizen aus der Kindheit verbinden: schaukeln und sausen, kreiseln und gruseln und kreischen - und vor allem: staunen. Gerhard Eberstaller zeigt in seinem Buch über die österreichischen Jahrmärkte viele, auch alte Fotografien.
Auf dem Jahrmarkt angelangt, entpuppt sich der erwachsene Mensch sofort als der Kindskopf, der er im Grunde seiner Seele immer ist. Die im Alltag oft mühevoll, mit Zwang und Autorität aufrechterhaltene Distanz zum kindlichen Daseinsgefühl fällt in der bunten Budenstadt, und zwar unter der tatkräftigen Mithilfe der Erwachsenen, sofort in sich zusammen. Aus der Mutter drängt das Mädchen, aus dem Vater drängt der Junge heraus. Sigmund Freud hat auf die sexuelle Erregung des kleinen Kindes beim Schaukeln hingewiesen. Topographisch gesehen war der aus Vergnügen summende Prater wahrscheinlich das Vorbild für das Freudsche Lust-Es in den sich weit hinstreckenden Über-Ich-Wohnvierteln, in denen die Menschen in der ihnen möglichen Ich-Verfassung ihr Heim bestellten, beim Mittagessen saßen und aus dem Fenster schielten. Mögen damals auch sehr viele Wiener über die Entdeckung des Schaukeltriebes durch ihren wenig zum Schaukeln aufgelegten Mitbürger den Kopf geschüttelt haben - einmal auf dem Prater angekommen, hingen die Frauen mit flatternden Haaren, Röcken, Blusen auch schon kreischend in den Kettenkarussells. Noch heute verbreiten völlig kirre gewordene Mädchenscharen ganze Kreischwellen über den gesamten Jahrmarkt hin, sobald sie in den Schaukeln angeschnallt sind. Auf manchen Jahrmärkten tauchten damals auch Wanderkinos auf, in denen ab und an als Reiseberichtstreifen getarnte pornographische Filme für die alten Jungs gezeigt wurden, denen mit Schaukeln nicht mehr zu helfen war. Die Kinder hockten vor dem Kasperletheater.
Der stumme königliche Ernst, der aus Kindergesichtern blicken kann, während sich das Karussell dreht, läßt darauf schließen, daß die Kinder nicht mit sich spaßen lassen, wenn es um die elementaren Strukturen der Verwandtschaft geht, die auf dem Jahrmarkt gelten: Mutter hin, Vater her, das ist ihr Spiel und ihre Runde.
EBERHARD RATHGEB.
Gerhard Eberstaller: "Schön ist so ein Ringspiel". Schausteller, Jahrmärkte und Volksfeste in Österreich. Geschichte und Gegenwart. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2005. 143 S., zahlreiche Abbildungen, geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist Sonntag nachmittag. Die Sonne lacht. Die Kinder toben. Die Wohnung ist mal wieder zu klein. Die Familie, soll der Segen über ihr erhalten bleiben, muß raus an die frische Luft. Die Familie steht jetzt vor der Tür und überlegt gemeinsam: Wohin in der Stadt? Sie wissen es. Denn auch im katholischen Österreich rennen die Familien sehr gerne am Sonntag nachmittag auf den Jahrmarkt. Dort mischen sich die Generationen. Dort erwarten den erwachsenen Besucher Sinnesattraktionen, die ihn mit Reizen aus der Kindheit verbinden: schaukeln und sausen, kreiseln und gruseln und kreischen - und vor allem: staunen. Gerhard Eberstaller zeigt in seinem Buch über die österreichischen Jahrmärkte viele, auch alte Fotografien.
Auf dem Jahrmarkt angelangt, entpuppt sich der erwachsene Mensch sofort als der Kindskopf, der er im Grunde seiner Seele immer ist. Die im Alltag oft mühevoll, mit Zwang und Autorität aufrechterhaltene Distanz zum kindlichen Daseinsgefühl fällt in der bunten Budenstadt, und zwar unter der tatkräftigen Mithilfe der Erwachsenen, sofort in sich zusammen. Aus der Mutter drängt das Mädchen, aus dem Vater drängt der Junge heraus. Sigmund Freud hat auf die sexuelle Erregung des kleinen Kindes beim Schaukeln hingewiesen. Topographisch gesehen war der aus Vergnügen summende Prater wahrscheinlich das Vorbild für das Freudsche Lust-Es in den sich weit hinstreckenden Über-Ich-Wohnvierteln, in denen die Menschen in der ihnen möglichen Ich-Verfassung ihr Heim bestellten, beim Mittagessen saßen und aus dem Fenster schielten. Mögen damals auch sehr viele Wiener über die Entdeckung des Schaukeltriebes durch ihren wenig zum Schaukeln aufgelegten Mitbürger den Kopf geschüttelt haben - einmal auf dem Prater angekommen, hingen die Frauen mit flatternden Haaren, Röcken, Blusen auch schon kreischend in den Kettenkarussells. Noch heute verbreiten völlig kirre gewordene Mädchenscharen ganze Kreischwellen über den gesamten Jahrmarkt hin, sobald sie in den Schaukeln angeschnallt sind. Auf manchen Jahrmärkten tauchten damals auch Wanderkinos auf, in denen ab und an als Reiseberichtstreifen getarnte pornographische Filme für die alten Jungs gezeigt wurden, denen mit Schaukeln nicht mehr zu helfen war. Die Kinder hockten vor dem Kasperletheater.
Der stumme königliche Ernst, der aus Kindergesichtern blicken kann, während sich das Karussell dreht, läßt darauf schließen, daß die Kinder nicht mit sich spaßen lassen, wenn es um die elementaren Strukturen der Verwandtschaft geht, die auf dem Jahrmarkt gelten: Mutter hin, Vater her, das ist ihr Spiel und ihre Runde.
EBERHARD RATHGEB.
Gerhard Eberstaller: "Schön ist so ein Ringspiel". Schausteller, Jahrmärkte und Volksfeste in Österreich. Geschichte und Gegenwart. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2005. 143 S., zahlreiche Abbildungen, geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main