Produktdetails
- Verlag: Rogner & Bernhard
- ISBN-13: 9783807710808
- ISBN-10: 3807710809
- Artikelnr.: 34530856
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2012Wer Holz hackt, kann auch Latein lernen
Nach der Gartenarbeit ein paar Seiten Vergil: Tom Hodgkinson singt ein eigenwilliges Lob auf das Landleben
Tom Hodgkinson gehört zu den liebenswerten Käuzen, die in England besonders gut gedeihen, während sie auf dem Kontinent weitgehend ausgestorben sind. Sie provozieren gern mit originellen Ansichten, die meist einen realistischen Kern von Wahrheit enthalten und zum Nachdenken anregen. Zurück zur Natur! Schön wär's ja. Die Maxime wird immer wieder in vielen Variationen durchgespielt, oft theoretisch abgesichert, kapitalismuskritisch und mit den neuesten ökologischen Erkenntnissen ausstaffiert.
So bitterernst nimmt sich unser britischer Autor nicht; ihm sitzt stets auch der Schalk im Nacken. So dürfen wir, ohne ihn zu beleidigen, über sein Loblied des einfachen Lebens auf dem Lande auch schmunzeln und uns an seinen Erfahrungen auf einem zweihundert Jahre alten gepachteten Hof in Devon erfreuen. Sie bestehen vorwiegend aus Lesefrüchten. Fleißig hat er studiert, wie Griechen und Römer ihre Gärten anlegten, welche Gebräuche im Mittelalter gepflegt wurden, wie sie damals gefeiert haben und was leider alles verlorengegangen ist. Mit ihm auf die "Schöne alte Welt" verklärt zurückzublicken ist für Hodgkinsons Leser auch dann ein Vergnügen, wenn Zweifel an seinen Methoden der Bodenbearbeitung angebracht sind.
Mit seinem ersten Buch "Anleitung zum Müßiggang" hat er Furore gemacht. "The Idler" ("Die Müssiggänger") heißt seine Zeitschrift für Gleichgesinnte. Seit immerhin zehn Jahren erprobt er nun - zwar selbstbestimmt, doch wohl keineswegs als Müßiggänger - die Existenz eines Selbstversorgers mit Frau und zwei Kindern im Exmoor, drei Stunden von London entfernt. Mitfühlend nehmen wir teil an schönen Erwartungen wie an herben Enttäuschungen. Wenn Schnecken über Nacht Salat und andere Pflanzen bis auf die Strünke abgefressen haben, können wir die Wut des Gärtners verstehen. Ob der Stolz auf die reiche Ernte von Pastinaken (auch als Viehfutter zu verwenden) den Ärger aufwiegt, wagen wir zu bezweifeln? Hasserfüllt beschimpft er Supermärkte, Fernsehen, die Maschinenwelt und träge Freunde. Die Moderne betrachtet er argwöhnisch als Feind alles Individuellen. Bescheiden und zugleich anspruchsvoll, was die wahren Werte des Lebens betrifft, das ist seine Maxime.
Trotz der Warnung eines Idlers, "work kills", ist für Hodgkinson Gartenarbeit ganz und gar nicht verpönt, sie ist eben lebenswichtig, und zudem muss niemand dabei verdummen, lässt sie sich doch wunderbar mit Lateinlernen verbinden. Latein hat der junge Tom auf einer der teuersten und besten Privatschulen Englands gelernt. Es fällt ihm nicht schwer, seine Kenntnisse beim Hacken und Harken aufzufrischen und abends vor dem Kamin mit der Lektüre von Plinius dem Älteren, Palladius oder Vergil zu vertiefen. Er zitiert gern im Original, was sie über Ackerbau und Viehzucht zu sagen haben, liefert aber nachsichtig auch gleich die Übersetzung, wohl wissend, dass er sonst viele seiner Leser verlieren würde. Ein bisschen Bildungsprotzerei zwischen Hühnerstall und Kartoffelfurchen macht sich gut. Latein schärfe den Verstand, versichert Hodgkinson, und immunisiere zugleich gegen "die Manipulation der Werbeleute". Diese Zeitgenossen zählen neben den Schnecken zu seinen schlimmsten Feinden, dagegen sind Regenwürmer und mittelalterliche Ratgeber wie Thomas Tusser, der Anleitungen für den Landbau in Versen schrieb, seine besten Freunde.
Der Müßiggangapostel zitiert überhaupt sehr gern. Die langen Winterabende verbringt er mit gründlicher Lektüre. Was man im Mittelalter schon über natürliche Düngung wusste, hat Rudolf Steiner nur wieder ausgegraben. (Das nützliche Torf-Plumsklo als Ergänzung zu Hühnermist ist aber wohl doch nicht allgemein zu empfehlen.) Kunstdünger ist selbstverständlich verpönt. Als "radikaler Tory" möchte Hodgkinson verstanden wissen. Ein radikaler Traditionalist hackt sein Holz selbst, kocht Marmelade, bäckt Brot und mästet und schlachtet sein eigenes Schwein. Er stellt auch seine eigenen alkoholischen Getränke her und spart dabei eine Menge Geld. Die notwendige Arbeit stets genießen, das mag nicht immer gelingen, doch nur so lassen sich die Gegensätze zwischen Schuften und Müßiggang in Einklang bringen.
Gelegentlich scheint einem solchen Radikalen im Exmoor dann doch das Leben eines Lohnsklaven in der Stadt "ungemein verlockend". "Den eigenen Ansprüchen entsprechend zu leben", sei mitunter schwierig, gibt er zu. Doch da hat er bereits eine Alternative gefunden: Mitten in London hat er ein Kulturzentrum mit Bibliothek und einem alternativen Café eröffnet, in dem er weiterhin seine Thesen bei selbstgebrautem Bier und anderen Köstlichkeiten verbreiten kann. Außerdem kann man dort Kurse für Latein, Sticken und mittelalterliche Musik belegen. Ein einfallsreicher Tausendsassa. So sieht er auch aus, wie er da in Cordhosen und verdreckten Gummistiefeln auf der Schwelle seines Granithauses hockt.
Sein Buch ist wohl kaum als "Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Lande" zu bezeichnen, doch amüsant, kulturgeschichtlich hochinteressant und herrlich versnobt sind die zwölf Kapitel allemal. In jedem Monat ist an erster Stelle ein Befehl zu befolgen. "Hacke Holz", heißt er im Januar, "Mähe die Wiese" im Juli und nichts weiter als "Feiere" im Dezember. Als Beispiel für ausgiebiges Feiern beschreibt er ein zwölfgängiges Festmahl, bei dem zwischen den Gerichten (mit Messer und Fingern zu essen) Gaukler, Tänzer und Sänger auftreten und Schalmeien das Ende des Schlemmens anzeigen.
MARIA FRISÉ
Tom Hodgkinson: "Schöne alte Welt". Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Lande.
Aus dem Englischen von Anita Krätzer. Rogner & Bernhard Verlag, Berlin 2011. 352 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der Gartenarbeit ein paar Seiten Vergil: Tom Hodgkinson singt ein eigenwilliges Lob auf das Landleben
Tom Hodgkinson gehört zu den liebenswerten Käuzen, die in England besonders gut gedeihen, während sie auf dem Kontinent weitgehend ausgestorben sind. Sie provozieren gern mit originellen Ansichten, die meist einen realistischen Kern von Wahrheit enthalten und zum Nachdenken anregen. Zurück zur Natur! Schön wär's ja. Die Maxime wird immer wieder in vielen Variationen durchgespielt, oft theoretisch abgesichert, kapitalismuskritisch und mit den neuesten ökologischen Erkenntnissen ausstaffiert.
So bitterernst nimmt sich unser britischer Autor nicht; ihm sitzt stets auch der Schalk im Nacken. So dürfen wir, ohne ihn zu beleidigen, über sein Loblied des einfachen Lebens auf dem Lande auch schmunzeln und uns an seinen Erfahrungen auf einem zweihundert Jahre alten gepachteten Hof in Devon erfreuen. Sie bestehen vorwiegend aus Lesefrüchten. Fleißig hat er studiert, wie Griechen und Römer ihre Gärten anlegten, welche Gebräuche im Mittelalter gepflegt wurden, wie sie damals gefeiert haben und was leider alles verlorengegangen ist. Mit ihm auf die "Schöne alte Welt" verklärt zurückzublicken ist für Hodgkinsons Leser auch dann ein Vergnügen, wenn Zweifel an seinen Methoden der Bodenbearbeitung angebracht sind.
Mit seinem ersten Buch "Anleitung zum Müßiggang" hat er Furore gemacht. "The Idler" ("Die Müssiggänger") heißt seine Zeitschrift für Gleichgesinnte. Seit immerhin zehn Jahren erprobt er nun - zwar selbstbestimmt, doch wohl keineswegs als Müßiggänger - die Existenz eines Selbstversorgers mit Frau und zwei Kindern im Exmoor, drei Stunden von London entfernt. Mitfühlend nehmen wir teil an schönen Erwartungen wie an herben Enttäuschungen. Wenn Schnecken über Nacht Salat und andere Pflanzen bis auf die Strünke abgefressen haben, können wir die Wut des Gärtners verstehen. Ob der Stolz auf die reiche Ernte von Pastinaken (auch als Viehfutter zu verwenden) den Ärger aufwiegt, wagen wir zu bezweifeln? Hasserfüllt beschimpft er Supermärkte, Fernsehen, die Maschinenwelt und träge Freunde. Die Moderne betrachtet er argwöhnisch als Feind alles Individuellen. Bescheiden und zugleich anspruchsvoll, was die wahren Werte des Lebens betrifft, das ist seine Maxime.
Trotz der Warnung eines Idlers, "work kills", ist für Hodgkinson Gartenarbeit ganz und gar nicht verpönt, sie ist eben lebenswichtig, und zudem muss niemand dabei verdummen, lässt sie sich doch wunderbar mit Lateinlernen verbinden. Latein hat der junge Tom auf einer der teuersten und besten Privatschulen Englands gelernt. Es fällt ihm nicht schwer, seine Kenntnisse beim Hacken und Harken aufzufrischen und abends vor dem Kamin mit der Lektüre von Plinius dem Älteren, Palladius oder Vergil zu vertiefen. Er zitiert gern im Original, was sie über Ackerbau und Viehzucht zu sagen haben, liefert aber nachsichtig auch gleich die Übersetzung, wohl wissend, dass er sonst viele seiner Leser verlieren würde. Ein bisschen Bildungsprotzerei zwischen Hühnerstall und Kartoffelfurchen macht sich gut. Latein schärfe den Verstand, versichert Hodgkinson, und immunisiere zugleich gegen "die Manipulation der Werbeleute". Diese Zeitgenossen zählen neben den Schnecken zu seinen schlimmsten Feinden, dagegen sind Regenwürmer und mittelalterliche Ratgeber wie Thomas Tusser, der Anleitungen für den Landbau in Versen schrieb, seine besten Freunde.
Der Müßiggangapostel zitiert überhaupt sehr gern. Die langen Winterabende verbringt er mit gründlicher Lektüre. Was man im Mittelalter schon über natürliche Düngung wusste, hat Rudolf Steiner nur wieder ausgegraben. (Das nützliche Torf-Plumsklo als Ergänzung zu Hühnermist ist aber wohl doch nicht allgemein zu empfehlen.) Kunstdünger ist selbstverständlich verpönt. Als "radikaler Tory" möchte Hodgkinson verstanden wissen. Ein radikaler Traditionalist hackt sein Holz selbst, kocht Marmelade, bäckt Brot und mästet und schlachtet sein eigenes Schwein. Er stellt auch seine eigenen alkoholischen Getränke her und spart dabei eine Menge Geld. Die notwendige Arbeit stets genießen, das mag nicht immer gelingen, doch nur so lassen sich die Gegensätze zwischen Schuften und Müßiggang in Einklang bringen.
Gelegentlich scheint einem solchen Radikalen im Exmoor dann doch das Leben eines Lohnsklaven in der Stadt "ungemein verlockend". "Den eigenen Ansprüchen entsprechend zu leben", sei mitunter schwierig, gibt er zu. Doch da hat er bereits eine Alternative gefunden: Mitten in London hat er ein Kulturzentrum mit Bibliothek und einem alternativen Café eröffnet, in dem er weiterhin seine Thesen bei selbstgebrautem Bier und anderen Köstlichkeiten verbreiten kann. Außerdem kann man dort Kurse für Latein, Sticken und mittelalterliche Musik belegen. Ein einfallsreicher Tausendsassa. So sieht er auch aus, wie er da in Cordhosen und verdreckten Gummistiefeln auf der Schwelle seines Granithauses hockt.
Sein Buch ist wohl kaum als "Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Lande" zu bezeichnen, doch amüsant, kulturgeschichtlich hochinteressant und herrlich versnobt sind die zwölf Kapitel allemal. In jedem Monat ist an erster Stelle ein Befehl zu befolgen. "Hacke Holz", heißt er im Januar, "Mähe die Wiese" im Juli und nichts weiter als "Feiere" im Dezember. Als Beispiel für ausgiebiges Feiern beschreibt er ein zwölfgängiges Festmahl, bei dem zwischen den Gerichten (mit Messer und Fingern zu essen) Gaukler, Tänzer und Sänger auftreten und Schalmeien das Ende des Schlemmens anzeigen.
MARIA FRISÉ
Tom Hodgkinson: "Schöne alte Welt". Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Lande.
Aus dem Englischen von Anita Krätzer. Rogner & Bernhard Verlag, Berlin 2011. 352 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit einem Lächeln nimmt Maria Frise die Erfahrungen und Erkenntnisse zur Kenntnis, die der exzentrische britische Bestseller-Autors Tom Hodgkinson in seinem jüngsten Buch vom Landleben zum Besten gibt. Als Anarchist, erklärter Müßiggänger und Verächter der modernen Lebensweise berichtet er hier ohne sich allzu ernst zu nehmen vom Leben auf dem Land, wobei er seine Leser gleichermaßen an den Erfolgen und Enttäuschungen seiner Landwirtschaft, wie zitatenreich an seinen "Lesefrüchten" teilhaben lässt, so die Rezensentin amüsiert. Der Autor zitiert ausgiebig, besonders gern lateinische Autoren im Original, macht aber Konzessionen an sein weniger gebildetes Lesepublikum, indem er die Übersetzung mitliefert, so Frise, die ihren Spaß an den kurzweiligen, kulturgeschichtlich kenntnisreichen und nicht zuletzt "herrlich versnobten" Ausführungen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.01.2013Also bis morgen
Sie schlafen lang, verschieben Wichtiges grundsätzlich nach hinten
und tun manchmal tatsächlich: gar nichts? Dann sind Sie hier richtig
VON PETRA STEINBERGER
Wir werden zunächst angewandte Küchenpsychologie betreiben und erklären: Wenn Sie das hier lesen, gehören Sie dazu. Oder, falls das nicht zutrifft, kennen Sie zumindest jemanden in Ihrer allernächsten Umgebung, der Ihnen mit diesem besonderen Verhalten das Leben schwermacht – und Sie hoffen, endlich ein Rezept, eine Handlungsanweisung zu erhalten, wie man das ändern kann. Nun denn, reden wir über Faulheit.
Folgende Charakterzüge mögen auf Sie oder Ihre Nemesis zutreffen: Sie kommen andauernd zu spät. Sie verbummeln allerlei Sachen, die man Ihnen aufgetragen hat. Sie schrammen mindestens einmal täglich am Abgrund des Diesmal-ist-leider-wirklich-nichts-mehr-zu-machen entlang. Sie sind ein bisschen sehr schlampig, zumindest jedenfalls schlonzig. Sie haben in den vergangenen 48 Stunden mindestens einmal wertvolle Zeit damit verbracht, irrelevante Fakten auf dem Computer zu recherchieren, einfach, weil Sie irgendein Link immer weiter und tiefer hineingezogen hat in den enzyklopädischen Treibsand des WWW. Sie ruhen sich gern aus und raffen sich selten auf. Und wie, Sie haben oft noch nicht mal Lust, Ihre knappe Freizeit mit erhabenen Kulturveranstaltungen oder gesundheitsförderndem Sport auszufüllen? Wenn Sie etwas Wichtiges zu erledigen haben, finden Sie mindestens zwanzig andere Aufgaben, die viel interessanter erscheinen, auch wenn Sie genau wissen, dass das eigentlich gar nicht so ist. Manchmal starren Sie. Lange. Irgendwohin. Und bei all diesen Nicht-Tätigkeiten haben Sie ziemlich oft ein ziemlich schlechtes Gewissen.
Sie sind vermutlich das, was man landläufig einen Faulenzer nennt, einen Schlumpf, einen Sandler. Halbwegs positiv könnte man vielleicht Tagträumer daraus machen. Sie halten sich nicht für besonders produktiv, immerhin verschwenden Sie Ihre Zeit mit Pausen und Ruhephasen. Und Zeitverschwendung, das ist so ziemlich das Allerletzte, was man sich in diesen Tagen leisten sollte, jetzt, da doch jeder allzeit erreichbar und verfügbar sein muss, um nicht Gefahr zu laufen, als unproduktives Mitglied der Gesellschaft zu gelten.
Der Backlash gegen die allgemeine Umtriebigkeit ist im vollen Gange, wieder einmal. Große Firmen verkünden, dass sie ab jetzt von ihren Mitarbeitern keineswegs mehr verlangen würden, auch noch nachts und am Wochenende die E-Mails zu checken, um deren wohlverdiente Erholungsphase nicht zu gefährden. Gewerkschaften verweisen auf das Recht auf Freizeit. Und in der letzten Zeit sind denn auch eine Menge Bücher auf den Markt gekommen, in denen es um das „Lob der Faulheit“ geht, um das „Lob der Pause“ und um Müßiggang im Allgemeinen. Aber darum geht es hier gar nicht. Denn die üblichen Ratgeber wollen Faulenzer wie Sie gar nicht verändern, sondern Ihnen zeigen, wie wichtig, positiv und notwendig ein solches Verhalten eigentlich ist – wenn Sie bitte nur ein paar winzige, für das große Ganze unerhebliche Schwachstellen in Ihrem ausgeklügelten System der Selbsttäuschung korrigieren könnten?
Das macht John Perry nicht. Der inzwischen emeritierte Professor für Philosophie in Stanford ist bekennender Prokrastinierer, was so viel bedeutet wie: ein chronischer Aufschieber. Prokrastination, also das ständige Vor-sich-her-schieben, könnte man als eine Unterart der Faulheit bezeichnen, wenn sich auch die Symptome lesen wie der Beginn einer leichten bis mittleren Geisteskrankheit. Sein Leben lang quälte sich Perry mit seinem Verhalten ab, fühlte sich schuldig – und schrieb eines Tages einen Essay darüber. Das tat er wirklich nur, um einer anderen, viel wichtigeren Aufgabe zu entkommen – eben das klassische Muster eines Aufschiebers. „Ich hatte einen Stapel Papiere, die ich benoten sollte, und noch ein paar andere Dinge zu erledigen, und ich machte es nicht, was typisch ist für mich. Es gab gar keinen Grund, es nicht zu erledigen, aber ich tat es trotzdem nicht und fing an, depressiv zu werden und mich richtig mies zu fühlen“, erzählte Perry kürzlich im National Public Radio. „Aber dann fiel mir auf, dass ich eigentlich eine Menge Dinge erledigt bekomme. Immerhin hielten die Leute in Stanford mich für einen rührigen Macher, sie setzten mich in einen Haufen Komitees und übertrugen mir viele Aufgaben. Und ich veröffentliche ziemlich viel und schaffte es, meinen Job zu behalten.“
Perrys kleiner Aufsatz machte bald im Internet die Runde – und fand unglaubliche Resonanz. Eigentlich kein Wunder, das Phänomen der „Erledigungsblockade“ ist weiter verbreitet, als Sie annehmen: In einer Umfrage von 1999 erklärten beispielsweise 40 Prozent aller befragten Amerikaner, dass ihnen wegen ihrer Prokrastination bereits Nachteile entstanden wären, ein Viertel von ihnen meinte sogar, sie würden unter chronischem Handlungsaufschub leiden. Diesen Sommer, schlappe 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Essays, hat Perry ein Büchlein daraus gemacht, knapp über hundert Seiten, große Zeilenabstände – und es ist genau das, was Sie brauchen, um mit Ihrer Schwäche ins Reine zu kommen. Denn Perrys These besagt: Liegenlasser und Aufschieber mit Plan schaffen in Wahrheit enorm viel. Gerade weil sie alles vertrödeln und tausend andere Dinge finden, die sie stattdessen erledigen. Hey, Sie sind toll! Und im Zuge seines Spaziergangs durch die Irrungen der Prokrastination schweift Perry gleich in einen kleinen Diskurs über die Irrationalität des Menschen im Allgemeinen und die Nützlichkeit des Tagträumens im Besonderen ab – kleiner Zugewinn für ein Buch, das man zweifellos jedem drögen Geschäftsbericht vorziehen sollte.
Falls Sie wissen wollen, welchen praktischen Nutzen außer dem theoretischen Gutgefühl man aus seiner individuellen Faulheit noch ziehen kann: Schauen Sie sich bei den britischen Müßiggängern um, vor allem bei den zwei Herausgebern des Idler , eines Magazins, das sich als einmal jährlich erscheinendes Buch tarnt. Der eine, Tom Hodgkinson, hat sich aufs Land zurückgezogen und befasst sich damit, die anfallenden Arbeiten des Jahres in angenehme Aufgaben zu portionieren. (Was übrigens ein wirklich funktionierender Trick ist, um Schwächeanfälle zu überwinden: Zerteilen Sie eine unüberwindliche Aufgabe in möglichst viele kleine Schritte.) Also: Holzhacken im Januar. Bienen im Juni. Bierbrauen im Oktober. Fest im Dezember.
Der andere Idler, Gavin Pretor-Pinney, betrachtet lieber. Beispielsweise Wolken. Das liegt schließlich nahe, wenn man gern auf dem Rücken liegend in den Himmel sieht. Und dann, tagträumend, Gestalten in ihnen entdeckt, möglicherweise im Internet stundenlang den Kumulus-Wolken hinterherjagt und schließlich sogar ein Buch darüber schreibt: „Wolkengucken“. Dann, eines Tages am Meer: keine Wolke, nirgends. Pretor-Pinney musste zwangsläufig den Blick nach unten richten und entdeckte: Wellen. Schrieb ein Buch über sie. Bekam den renommiertesten britischen Wissenschaftsbuchpreis dafür. Tja.
Wellen und Wolken und das Betrachten derselben: Es gibt wohl keine größere Antithese zum ratrace , zum Handyklingeln also, zum E-Mail-Schreiben, Twittern und ununterbrochenen Geplapper der beschäftigten Welt, für die jeder Augenblick mit wesentlichen Inhalten gefüllt werden muss. Wobei die Betonung auf wesentlich liegt.
Aber wenn es Ihnen tatsächlich so wichtig ist, das schlechte Gewissen in den Griff zu bekommen, hier ein paar Referenzen von Leuten, die es trotzdem geschafft haben. Albert Einstein praktizierte das Nickerchen. Er behielt beim Dösen seinen Schlüsselbund in der Hand, wenn der ihm entglitt, bedeutete das: aufwachen, sonst folgt der Tiefschlaf. Marcel Proust wiederum lag wochenlang im Bett. Einmal lud er einen Gast auf einen Kurzbesuch in sein Schlafzimmer – um sich zu vergewissern, dass er diesen auch richtig beschrieben hatte in seinem Roman. Der hieß „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Nicht schlecht für eine Schlafmütze.
Tom Hodgkinson: Schöne alte Welt: Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Lande. Rogner & Bernhard 2011.
Gavin Pretor-Pinney: Kleine Wellenkunde für Dilettanten, Rogner & Bernhard 2011.
Thomas Hohensee: Lob der Faulheit. Warum Disziplin und Arbeitseifer uns nur schaden. Gütersloher Verlagshaus 2012.
Karlheinz A. Geißler: Lob der Pause. Von der Vielfalt der Zeiten und der Poesie des Augenblicks. oekom 2012.
Der Backlash gegen die
allgemeine Umtriebigkeit
ist in vollem Gange
Liegenlasser und
Aufschieber mit Plan schaffen
in Wahrheit viel
Beliebte Frage im Kreuzworträtsel:
Ai ist ein anderer Name für –
das Weißkehl-Faultier (Bradypus
Tridactylus) aus der Familie
der Dreifinger-Faultiere. Und so weit kommt es im Monat:
einen Kilometer. FOTO: GETTY IMAGES
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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und tun manchmal tatsächlich: gar nichts? Dann sind Sie hier richtig
VON PETRA STEINBERGER
Wir werden zunächst angewandte Küchenpsychologie betreiben und erklären: Wenn Sie das hier lesen, gehören Sie dazu. Oder, falls das nicht zutrifft, kennen Sie zumindest jemanden in Ihrer allernächsten Umgebung, der Ihnen mit diesem besonderen Verhalten das Leben schwermacht – und Sie hoffen, endlich ein Rezept, eine Handlungsanweisung zu erhalten, wie man das ändern kann. Nun denn, reden wir über Faulheit.
Folgende Charakterzüge mögen auf Sie oder Ihre Nemesis zutreffen: Sie kommen andauernd zu spät. Sie verbummeln allerlei Sachen, die man Ihnen aufgetragen hat. Sie schrammen mindestens einmal täglich am Abgrund des Diesmal-ist-leider-wirklich-nichts-mehr-zu-machen entlang. Sie sind ein bisschen sehr schlampig, zumindest jedenfalls schlonzig. Sie haben in den vergangenen 48 Stunden mindestens einmal wertvolle Zeit damit verbracht, irrelevante Fakten auf dem Computer zu recherchieren, einfach, weil Sie irgendein Link immer weiter und tiefer hineingezogen hat in den enzyklopädischen Treibsand des WWW. Sie ruhen sich gern aus und raffen sich selten auf. Und wie, Sie haben oft noch nicht mal Lust, Ihre knappe Freizeit mit erhabenen Kulturveranstaltungen oder gesundheitsförderndem Sport auszufüllen? Wenn Sie etwas Wichtiges zu erledigen haben, finden Sie mindestens zwanzig andere Aufgaben, die viel interessanter erscheinen, auch wenn Sie genau wissen, dass das eigentlich gar nicht so ist. Manchmal starren Sie. Lange. Irgendwohin. Und bei all diesen Nicht-Tätigkeiten haben Sie ziemlich oft ein ziemlich schlechtes Gewissen.
Sie sind vermutlich das, was man landläufig einen Faulenzer nennt, einen Schlumpf, einen Sandler. Halbwegs positiv könnte man vielleicht Tagträumer daraus machen. Sie halten sich nicht für besonders produktiv, immerhin verschwenden Sie Ihre Zeit mit Pausen und Ruhephasen. Und Zeitverschwendung, das ist so ziemlich das Allerletzte, was man sich in diesen Tagen leisten sollte, jetzt, da doch jeder allzeit erreichbar und verfügbar sein muss, um nicht Gefahr zu laufen, als unproduktives Mitglied der Gesellschaft zu gelten.
Der Backlash gegen die allgemeine Umtriebigkeit ist im vollen Gange, wieder einmal. Große Firmen verkünden, dass sie ab jetzt von ihren Mitarbeitern keineswegs mehr verlangen würden, auch noch nachts und am Wochenende die E-Mails zu checken, um deren wohlverdiente Erholungsphase nicht zu gefährden. Gewerkschaften verweisen auf das Recht auf Freizeit. Und in der letzten Zeit sind denn auch eine Menge Bücher auf den Markt gekommen, in denen es um das „Lob der Faulheit“ geht, um das „Lob der Pause“ und um Müßiggang im Allgemeinen. Aber darum geht es hier gar nicht. Denn die üblichen Ratgeber wollen Faulenzer wie Sie gar nicht verändern, sondern Ihnen zeigen, wie wichtig, positiv und notwendig ein solches Verhalten eigentlich ist – wenn Sie bitte nur ein paar winzige, für das große Ganze unerhebliche Schwachstellen in Ihrem ausgeklügelten System der Selbsttäuschung korrigieren könnten?
Das macht John Perry nicht. Der inzwischen emeritierte Professor für Philosophie in Stanford ist bekennender Prokrastinierer, was so viel bedeutet wie: ein chronischer Aufschieber. Prokrastination, also das ständige Vor-sich-her-schieben, könnte man als eine Unterart der Faulheit bezeichnen, wenn sich auch die Symptome lesen wie der Beginn einer leichten bis mittleren Geisteskrankheit. Sein Leben lang quälte sich Perry mit seinem Verhalten ab, fühlte sich schuldig – und schrieb eines Tages einen Essay darüber. Das tat er wirklich nur, um einer anderen, viel wichtigeren Aufgabe zu entkommen – eben das klassische Muster eines Aufschiebers. „Ich hatte einen Stapel Papiere, die ich benoten sollte, und noch ein paar andere Dinge zu erledigen, und ich machte es nicht, was typisch ist für mich. Es gab gar keinen Grund, es nicht zu erledigen, aber ich tat es trotzdem nicht und fing an, depressiv zu werden und mich richtig mies zu fühlen“, erzählte Perry kürzlich im National Public Radio. „Aber dann fiel mir auf, dass ich eigentlich eine Menge Dinge erledigt bekomme. Immerhin hielten die Leute in Stanford mich für einen rührigen Macher, sie setzten mich in einen Haufen Komitees und übertrugen mir viele Aufgaben. Und ich veröffentliche ziemlich viel und schaffte es, meinen Job zu behalten.“
Perrys kleiner Aufsatz machte bald im Internet die Runde – und fand unglaubliche Resonanz. Eigentlich kein Wunder, das Phänomen der „Erledigungsblockade“ ist weiter verbreitet, als Sie annehmen: In einer Umfrage von 1999 erklärten beispielsweise 40 Prozent aller befragten Amerikaner, dass ihnen wegen ihrer Prokrastination bereits Nachteile entstanden wären, ein Viertel von ihnen meinte sogar, sie würden unter chronischem Handlungsaufschub leiden. Diesen Sommer, schlappe 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Essays, hat Perry ein Büchlein daraus gemacht, knapp über hundert Seiten, große Zeilenabstände – und es ist genau das, was Sie brauchen, um mit Ihrer Schwäche ins Reine zu kommen. Denn Perrys These besagt: Liegenlasser und Aufschieber mit Plan schaffen in Wahrheit enorm viel. Gerade weil sie alles vertrödeln und tausend andere Dinge finden, die sie stattdessen erledigen. Hey, Sie sind toll! Und im Zuge seines Spaziergangs durch die Irrungen der Prokrastination schweift Perry gleich in einen kleinen Diskurs über die Irrationalität des Menschen im Allgemeinen und die Nützlichkeit des Tagträumens im Besonderen ab – kleiner Zugewinn für ein Buch, das man zweifellos jedem drögen Geschäftsbericht vorziehen sollte.
Falls Sie wissen wollen, welchen praktischen Nutzen außer dem theoretischen Gutgefühl man aus seiner individuellen Faulheit noch ziehen kann: Schauen Sie sich bei den britischen Müßiggängern um, vor allem bei den zwei Herausgebern des Idler , eines Magazins, das sich als einmal jährlich erscheinendes Buch tarnt. Der eine, Tom Hodgkinson, hat sich aufs Land zurückgezogen und befasst sich damit, die anfallenden Arbeiten des Jahres in angenehme Aufgaben zu portionieren. (Was übrigens ein wirklich funktionierender Trick ist, um Schwächeanfälle zu überwinden: Zerteilen Sie eine unüberwindliche Aufgabe in möglichst viele kleine Schritte.) Also: Holzhacken im Januar. Bienen im Juni. Bierbrauen im Oktober. Fest im Dezember.
Der andere Idler, Gavin Pretor-Pinney, betrachtet lieber. Beispielsweise Wolken. Das liegt schließlich nahe, wenn man gern auf dem Rücken liegend in den Himmel sieht. Und dann, tagträumend, Gestalten in ihnen entdeckt, möglicherweise im Internet stundenlang den Kumulus-Wolken hinterherjagt und schließlich sogar ein Buch darüber schreibt: „Wolkengucken“. Dann, eines Tages am Meer: keine Wolke, nirgends. Pretor-Pinney musste zwangsläufig den Blick nach unten richten und entdeckte: Wellen. Schrieb ein Buch über sie. Bekam den renommiertesten britischen Wissenschaftsbuchpreis dafür. Tja.
Wellen und Wolken und das Betrachten derselben: Es gibt wohl keine größere Antithese zum ratrace , zum Handyklingeln also, zum E-Mail-Schreiben, Twittern und ununterbrochenen Geplapper der beschäftigten Welt, für die jeder Augenblick mit wesentlichen Inhalten gefüllt werden muss. Wobei die Betonung auf wesentlich liegt.
Aber wenn es Ihnen tatsächlich so wichtig ist, das schlechte Gewissen in den Griff zu bekommen, hier ein paar Referenzen von Leuten, die es trotzdem geschafft haben. Albert Einstein praktizierte das Nickerchen. Er behielt beim Dösen seinen Schlüsselbund in der Hand, wenn der ihm entglitt, bedeutete das: aufwachen, sonst folgt der Tiefschlaf. Marcel Proust wiederum lag wochenlang im Bett. Einmal lud er einen Gast auf einen Kurzbesuch in sein Schlafzimmer – um sich zu vergewissern, dass er diesen auch richtig beschrieben hatte in seinem Roman. Der hieß „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Nicht schlecht für eine Schlafmütze.
Tom Hodgkinson: Schöne alte Welt: Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Lande. Rogner & Bernhard 2011.
Gavin Pretor-Pinney: Kleine Wellenkunde für Dilettanten, Rogner & Bernhard 2011.
Thomas Hohensee: Lob der Faulheit. Warum Disziplin und Arbeitseifer uns nur schaden. Gütersloher Verlagshaus 2012.
Karlheinz A. Geißler: Lob der Pause. Von der Vielfalt der Zeiten und der Poesie des Augenblicks. oekom 2012.
Der Backlash gegen die
allgemeine Umtriebigkeit
ist in vollem Gange
Liegenlasser und
Aufschieber mit Plan schaffen
in Wahrheit viel
Beliebte Frage im Kreuzworträtsel:
Ai ist ein anderer Name für –
das Weißkehl-Faultier (Bradypus
Tridactylus) aus der Familie
der Dreifinger-Faultiere. Und so weit kommt es im Monat:
einen Kilometer. FOTO: GETTY IMAGES
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