Mitten im Boom der Erinnerungsliteratur und Familienromane erschien 2013 ein Buch mit einem aufsehenerregenden Untertitel: »Kein Familienroman«, deklariert Christoph Geiser auf dem Cover von Schöne Bescherung. Gesetzt wird diese Lektüreanweisung ausgerechnet von jenem Autor, der mit seinen frühen Werken Grünsee (1978) und Brachland (1980) die wichtigsten Familienromane der jüngeren Schweizer Literatur schuf. In der Tat findet Geiser in Schöne Bescherung zu einem neuartigen erzählerischen Umgang mit Erinnerung, mit der eigenen Herkunftsidentität und vor allem der eigenen Endlichkeit. Der Erzählfluss, in der Wir-Form gehalten und in einem intellektuellen und darum nicht minder witzigen Parlando dahinplätschernd, beginnt mit dem Krebstod der Mutter, durch den die alternde Erzählinstanz »von Beruf Erbe« wird. Geplagt von eigenen Gebresten und selbstzweiflerischem Hadern mit der Schriftstellertätigkeit, ergeht sich dieser bald lustvoll flanierende, bald vom als »Monsieur Lamort« personifizierten Tod gehetzte Erzähler in Reflexionen über Ästhetik, Sex und Tod, die nie selbstverliebt oder selbstquälerisch anmuten, sondern stets beeindruckend-blitzlichthafte Einblicke eröffnen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Trotz feuilletonistischer Anerkennung gelang dem Schweizer Autor Christoph Geiser nie der große Durchbruch, bedauert Rezensent Philipp Theisohn und hofft zugleich, dass sich dies mit der von Moritz Wagner und Julian Reidy besorgten, auf dreizehn Bände angelegten Werkausgabe ändern könnte. Die in den achtziger Jahren veröffentlichten Romane "Grünsee" und "Brachland" sowie der 2013 publizierte Roman "Schöne Bescherung" sind bereits erschienen und Theisohn rät dringend zur Lektüre. Denn die Zeit dürfte jetzt reif sein für Geisers "radikal autobiografisches" Schreiben, auch wenn der Schweizer Autor in seiner Prosa anders als etwa Ernaux, Ditlevsen oder Knausgard auf einen in der Vergangenheit liegenden, abgeschotteten "helvetischen Kosmos" blickt, erläutert der Rezensent. Der Zugang zu Geisers "Selbstlebenserschreibung" ist dementsprechend zwar ein wenig mühsam, warnt der Kritiker vor, der sich aber schnell mitreißen lässt. Ob Geiser vom Niedergang der bürgerlichen, mit den Nazis verbandelten Familie seiner Großeltern erzählt, die Traumata der Eltern beschreibt oder die Krebserkrankung seiner Mutter zum Anlass für einen Roman nimmt - stets ist ihm das Sentimentale fremd, versichert Theisohn. Vielmehr ist das Werk geprägt von einer "demütigen Distanz zur seelischen Erschütterung" und nicht zuletzt von "bestechender Klugheit", schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2023Eine schreckliche Familie wird besichtigt
Im Tal warten die Skilehrer: Den Schweizer Autor Christoph Geiser ehrt eine Werkausgabe
Es sei die "indirekte Beleuchtung des psychischen Raums", in der dieser Erzähler seine große Stärke besitze, das vorsichtige, penible Entlanggleiten an der "Oberfläche der Dinge" und den "topographischen Verhältnissen", das immer wieder urplötzlich in das kategorische Urteil kippt, hier nicht sein, etwas nicht tun zu können. "Keines der Hauptthemen der Romandichtung" stehe hier mehr im Mittelpunkt, nicht die Liebe, nicht irgendeine Form menschlicher Konfliktstellungen überhaupt, nur die Droge des Selbst. Und doch kommt Josef Quack am 11. März 1978 auf der Literaturseite der F.A.Z. zu dem Schluss, dass jenem jungen Autor aus der Schweiz - einem Kommunisten, der lieber ins Gefängnis ging, als sich von der Schweizer Armee rekrutieren zu lassen - "ein bemerkenswerter Roman" gelungen sei.
Der Gegenstand von Quacks ausführlicher Besprechung ist Christoph Geisers "Grünsee"; und so deutlich sich auch die historische Patina der Rezension in ihrer Erleichterung über das Abstehen des Romans von politischer Agitation und "von einem exhibitionistischen Drang diktierter literarischer Selbstenthüllung" abzeichnet, so hellsichtig erkennt sie in Geisers Romandebüt ein ambitioniertes poetisches Projekt. Ein Projekt, das sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte über ein großes OEuvre erstrecken wird und sich nun, dank der seit diesem Jahr bei Secession erscheinenden Ausgabe der Werke Christoph Geisers, wieder von Neuem entdecken lässt.
Den Anfang in der von Moritz Wagner und Julian Reidy verantworteten und auf dreizehn Bände angelegten Edition machen dabei neben "Grünsee" der Folgeroman "Brachland" (1980) und die 2013 erschienene "Schöne Bescherung". Der chronologische Sprung mag zunächst verwirren. Indessen ermöglicht er zugleich eine die Zeiten durchmessende Spurensuche innerhalb eines Werks, das trotz ständigen Lobes und feuilletonistischer Anerkennung immer etwas im Abseits stand, zumal Geisers Texte für einen heute mehr denn je nachgefragten Typus eines unaufdringlichen wie radikalen autobiographischen Schreibens stehen, in dem sich Introspektion und Zeitdiagnostik ineinander verschränken.
Über die Gründe dieser Verschattung lässt sich spekulieren; nicht abzuweisen wäre der Befund, dass Geisers ostentative Hinwendung zum Sujet mitunter auch gewalthaft erfahrener und explizit erschriebener Homosexualität, wie sie sich ab der "Wüstenwanderung" (1984), spätestens aber ab "Das Gefängnis der Wünsche" (1992) abzeichnet, von der Verlagswelt wie der Literaturkritik der Achtziger- und Neunzigerjahre mit einer Zurückdrängung in die Nische beantwortet wurde.
Ein anderer Verdacht führt in die Tiefe dieser Poetik. Denn auch wenn Geisers Prosa sich immer wieder an einer Investigation des eigenen Werdens abarbeitet, teilt sie das Labor, in dem diese Experimente veranstaltet werden, weder mit den depraviert Entrüsteten noch mit der schamvoll vorgetragenen Schamlosigkeit. Zorn ist in ihr kaum. Durchzogen wird sie vielmehr von einem resignativen Gestus, der sie immer wieder an jene "schreckliche Familie" verweist, von der Geiser in seiner "Selberlebensbeschreibung" spricht und deren Schrecken sich nicht darin erschöpft, dass einer seiner Großväter Schweizer Botschafter im "Dritten Reich" war und dessen Frau, Geisers Großmutter, den Vater des ersten Schweizer Rechtspopulisten James Schwarzenbach heiratete. "Schrecklich" ist diese Familie vor allem deshalb, weil sie sich schon überlebt hat, bevor dieser Erzähler in ihr zu leben beginnt, weil sie "fertig" ist.
So nimmt "Grünsee" seinen Anfang beim Vorhaben des Erzählers, eine Geschichte über die Typhusepidemie in Zermatt 1963 zu schreiben, stürzt aber sogleich in die mit Zermatt aufs Engste verbundene Geschichte der Großmutter mütterlicherseits und das sich im Urlaubsdomizil der Familie geisterhaft vollziehende Verschwinden einer Jugend. An die Stelle der Typhusgeschichte tritt eine "Gespenstergeschichte", der Roman einer sich überlebt habenden Spezies, die um die Haltlosigkeit ihres Daseins weiß. Die Großmutter selbst ist es, die Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit" gelesen hat und ihren Nachkommen vom "Anachronismus der bürgerlichen Familie" erzählt. In der Tat: Die Menschen, die hier zusammenleben, Eltern, Kinder, Freunde - sie leben "anachron". Warum sie überhaupt noch da ist, diese Sippschaft aus vermengtem Basler und Berner Patriziat, vermögen sie nicht anzugeben, und so nimmt man auch den Suizid des Cousins Pingger, der aus dem Wallis nach Sizilien geflüchtet war, nicht als eine Katastrophe, sondern als Folgerichtigkeit hin. Hat man die Welt der großbürgerlichen Familiarität ohnehin verspätet betreten, dann ist der Entschluss, sie vorzeitig wieder zu verlassen, kein "Missgeschick, sondern die Konsequenz eines seit langem wirksamen inneren Impulses".
Geiser erlernt sein Erzählen in der Kälte, in der demütigen Distanz zur seelischen Erschütterung. Wenn auf der Beerdigung des Cousins "Es, nicht ich heulte", so ist das wahr gesprochen: Das Bedauern und die Trauer sind hier Rituale einer ohnehin stets den eigenen Untergang beklagenden und phrasierenden Gemeinschaft, vor dem sie nur ihr Formbewusstsein rettet. Wenn die Großmutter schwört, dass sie wegen Pingger "keinen Zahn" verliere, dann flüchtet sie sich ins Zitat: Bloß kein Thomas Buddenbrook sein - die Geschichte geht noch weiter, auch wenn niemand mehr weiß, wozu. Hier das Siechtum, dort der beherzte Schritt in den Abgrund, hier "La Peste", dort "La Chute" - von Camus' Texten bevorzugt der Erzähler, wie man nicht ohne Grund erfährt, den letzteren, den Sturz. Gründlich schreitet das Ich die verschneiten Familienlandschaften ab, am Ende hat man alles gesehen, und es läge an einem selber, "es zu machen", zu springen, dem toten Cousin nachzufolgen und sich den Skilehrern auszuliefern, die am Ende des Romans die "Leichen der Abgestürzten ins Tal" tragen. Auf den letzten Metern jedoch ersinnt sich das Erzählen im Wirtshaus "Grünsee" einen unwirklichen, nebelhaften Schutzraum; hier überlebt der Chronist seiner selbst - um zwei Jahre später im "Brachland" wieder aufzutauchen.
Auch das "Brachland" ist allegorische Fügung: Es ist die Welt der Eltern, die längst zersplittert ist, in der jedem sein Refugium zugewiesen wurde, in dem er die Erbmasse an Traumata allein verarbeiten darf. Der Vater, ein vormaliger Kinderarzt, hat sein Domizil gegen eine Jagdhütte im Elsass eingetauscht; die Mutter, einst Schauspielerin, dann Malerin, dann Hausfrau, hält die Ehe aufrecht, besorgt, unterstützt von Kinder- und Zugehfrauen, die Geschäfte und flüchtet sich in Diskussionsgruppen feministischer Theologinnen. Dazwischen die zwei Söhne, der eine frenetisch lebensmutig, der andere der Erzähler, auf dem Weg ins Brachland, zum Vater. Das Haus des Vaters - symbolischer geht es dann kaum - ist umgeben von einer Einöde, "kahl, grau und leer", auch hier kein Garten, den sich der Vater immer gewünscht hat, nichts kann gedeihen. Und erneut: keine Verbitterung, kein Hass, keine Trauer über eine ungelebte Vater-Sohn-Beziehung, nur die Einsicht, dass es nicht anders ging. Dort, wo man leben, wo die Szene der Familie sich entfalten soll, kommt die Vergangenheit in die Quere. "Särge" sind es, "die den Weg zur Wohnungstür verstellen - die Särge meiner Ahnen", halluziniert das kindliche Ich. Die Toten mischen sich unentwegt in diese Welt, sie exerzieren das Recht der Väter, löschen die Lichter und sorgen dafür, dass man "sich in dieser verdunkelten Wohnung sowieso ständig verfehlt", das Nötige unausgesprochen bleibt.
Das Psychogramm, das "Brachland" erstellt, ist von bestechender Klugheit. Nicht zuletzt das im Zwiegespräch mit Kierkegaard in den Vordergrund tretende Sohnesopfer, die Bindung Isaaks (Geiser wäre fast Theologe geworden), vermag die um sich greifende Desertion vor den Ahnen und ihren Verpflichtungen zu begründen: Für die einen liegt in der Errettung Isaaks durch den Widder im Dornbusch der Beweis für das göttliche Erbarmen, denn sie sehen die Welt von oben. In der Abstraktion, auf dem Papier existiert das Bündnis über das Blut, sind Vermächtnisse wirksam, bedarf es keiner Begründung und keiner Rechtfertigung. Der Sohn aber, den man zum Opfer geschleift hat, der diese Welt von unten sieht, kann in der Verschonung keine Gerechtigkeit mehr sehen: Er hat über dieser Geschichte "den Glauben verloren", wie es bei Kierkegaard heißt.
Das Existenzielle ist Geisers Größe, seine unwandelbare Währung. "Nur die gemeineren Naturen vergessen sich selbst und werden etwas Neues", lernt der Erzähler vom dänischen Philosophen - und das ist dann doch etwas Schlimmes, man würde ja gerne etwas Neues, Anderes werden, in einer anderen Landschaft sich niederlassen und wohnen. In dieser Desillusionierung aber liegt der entscheidende Unterschied zwischen Geisers Lebensschrift und den in den letzten Jahren populär gewordenen oder wiederentdeckten autobiographischen Erzählprojekten. Wo Geisers Prosa vor den Trümmern der eigenen Geschichte und Vorgeschichte ausharrt, da weisen etwa die von Ernaux, Ditlevsen oder Knausgård niedergeschriebenen Lebensläufe auf eine Zukunft, die in unterschiedlicher Weise literarisch erkämpft werden musste. Der Resonanzraum Geisers ist dagegen ein schon bei seiner Entdeckung sich wieder verschließender, in die Vergangenheit gestürzter und hierin auch sehr helvetischer Kosmos. Die Wandlung der Wut und der Enttäuschung zur Bestandsaufnahme ist diesem Kosmos zu eigen; angelegt finden wir sie schon in Paul Nizons programmatischem "Diskurs in der Enge" (1970), wir finden sie bei Geisers dunklem Bruder Hermann Burger in "Die künstliche Mutter" (1982) oder in dem Erzählstrom Reto Hännys, der 1984 mit "Ruch" seinen Anfang nimmt.
Man versteht diese Literatur nicht mehr allzu leicht, sie ist sperrig, sie drängt sich nicht zu uns und schaut auch nicht nach vorne, es geht ihr weder um Kritik noch um Selbstbehauptung. Sie entstammt einem Zwischenreich, und dort verweilt sie auch. Noch dreißig Jahre später hält sich Christoph Geisers Prosa hier auf. "Schöne Bescherung", wie der Genrezusatz verrät "Kein Familienroman", kehrt abermals zurück zur Mutter, die, gerade in hohem Alter an Krebs verstorben, ihren Sohn zu einem vermögenden Erben gemacht hat, was gut ist, denn jetzt ist er immerhin wieder etwas außer "Dichter a. D., literarisch tot gesagt". Lauter ist er geworden, lakonischer, ein "wir", kein "ich mehr"; die männliche Geschlechtsreife gereicht nun nicht mehr allein zum Gegenstand von "Gesprächsrunden" (wie noch in "Brachland"), sondern wird Faszinosum und Phantasma. Berlin-Wilmersdorf ist sein Ort. Glaubt er. Aber hinab zieht ihn unweigerlich abermals die Familie, diesmal in die Tiefen eines Spitals am Bodensee. Langsam, aber unabweisbar kehren die Zeichen der Herkunft wieder; hier ein berndeutsches "Item!", dort ein "massiger Schatten im nächtlichen Dunkel der Wohnung", immer und ruhelos webt die Erinnerung in diesem Werk. Es nimmt einen mit. Man möchte es ganz wiederlesen. Bald kann man es. PHILIPP THEISOHN
Christoph Geiser: "Grünsee". Roman.
Nachwort von Moritz Wagner. Secession, Berlin 2022. 271 S., geb., 26,- Euro.
Christoph Geiser: "Brachland". Roman.
Nachwort von Julian Reidy und Moritz Wagner.
Secession, Berlin 2022. 335 S., geb., 26,- Euro.
Christoph Geiser: "Schöne Bescherung". Kein Familienroman.
Nachwort von Julian Reidy. Secession, Berlin 2022. 153 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Tal warten die Skilehrer: Den Schweizer Autor Christoph Geiser ehrt eine Werkausgabe
Es sei die "indirekte Beleuchtung des psychischen Raums", in der dieser Erzähler seine große Stärke besitze, das vorsichtige, penible Entlanggleiten an der "Oberfläche der Dinge" und den "topographischen Verhältnissen", das immer wieder urplötzlich in das kategorische Urteil kippt, hier nicht sein, etwas nicht tun zu können. "Keines der Hauptthemen der Romandichtung" stehe hier mehr im Mittelpunkt, nicht die Liebe, nicht irgendeine Form menschlicher Konfliktstellungen überhaupt, nur die Droge des Selbst. Und doch kommt Josef Quack am 11. März 1978 auf der Literaturseite der F.A.Z. zu dem Schluss, dass jenem jungen Autor aus der Schweiz - einem Kommunisten, der lieber ins Gefängnis ging, als sich von der Schweizer Armee rekrutieren zu lassen - "ein bemerkenswerter Roman" gelungen sei.
Der Gegenstand von Quacks ausführlicher Besprechung ist Christoph Geisers "Grünsee"; und so deutlich sich auch die historische Patina der Rezension in ihrer Erleichterung über das Abstehen des Romans von politischer Agitation und "von einem exhibitionistischen Drang diktierter literarischer Selbstenthüllung" abzeichnet, so hellsichtig erkennt sie in Geisers Romandebüt ein ambitioniertes poetisches Projekt. Ein Projekt, das sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte über ein großes OEuvre erstrecken wird und sich nun, dank der seit diesem Jahr bei Secession erscheinenden Ausgabe der Werke Christoph Geisers, wieder von Neuem entdecken lässt.
Den Anfang in der von Moritz Wagner und Julian Reidy verantworteten und auf dreizehn Bände angelegten Edition machen dabei neben "Grünsee" der Folgeroman "Brachland" (1980) und die 2013 erschienene "Schöne Bescherung". Der chronologische Sprung mag zunächst verwirren. Indessen ermöglicht er zugleich eine die Zeiten durchmessende Spurensuche innerhalb eines Werks, das trotz ständigen Lobes und feuilletonistischer Anerkennung immer etwas im Abseits stand, zumal Geisers Texte für einen heute mehr denn je nachgefragten Typus eines unaufdringlichen wie radikalen autobiographischen Schreibens stehen, in dem sich Introspektion und Zeitdiagnostik ineinander verschränken.
Über die Gründe dieser Verschattung lässt sich spekulieren; nicht abzuweisen wäre der Befund, dass Geisers ostentative Hinwendung zum Sujet mitunter auch gewalthaft erfahrener und explizit erschriebener Homosexualität, wie sie sich ab der "Wüstenwanderung" (1984), spätestens aber ab "Das Gefängnis der Wünsche" (1992) abzeichnet, von der Verlagswelt wie der Literaturkritik der Achtziger- und Neunzigerjahre mit einer Zurückdrängung in die Nische beantwortet wurde.
Ein anderer Verdacht führt in die Tiefe dieser Poetik. Denn auch wenn Geisers Prosa sich immer wieder an einer Investigation des eigenen Werdens abarbeitet, teilt sie das Labor, in dem diese Experimente veranstaltet werden, weder mit den depraviert Entrüsteten noch mit der schamvoll vorgetragenen Schamlosigkeit. Zorn ist in ihr kaum. Durchzogen wird sie vielmehr von einem resignativen Gestus, der sie immer wieder an jene "schreckliche Familie" verweist, von der Geiser in seiner "Selberlebensbeschreibung" spricht und deren Schrecken sich nicht darin erschöpft, dass einer seiner Großväter Schweizer Botschafter im "Dritten Reich" war und dessen Frau, Geisers Großmutter, den Vater des ersten Schweizer Rechtspopulisten James Schwarzenbach heiratete. "Schrecklich" ist diese Familie vor allem deshalb, weil sie sich schon überlebt hat, bevor dieser Erzähler in ihr zu leben beginnt, weil sie "fertig" ist.
So nimmt "Grünsee" seinen Anfang beim Vorhaben des Erzählers, eine Geschichte über die Typhusepidemie in Zermatt 1963 zu schreiben, stürzt aber sogleich in die mit Zermatt aufs Engste verbundene Geschichte der Großmutter mütterlicherseits und das sich im Urlaubsdomizil der Familie geisterhaft vollziehende Verschwinden einer Jugend. An die Stelle der Typhusgeschichte tritt eine "Gespenstergeschichte", der Roman einer sich überlebt habenden Spezies, die um die Haltlosigkeit ihres Daseins weiß. Die Großmutter selbst ist es, die Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit" gelesen hat und ihren Nachkommen vom "Anachronismus der bürgerlichen Familie" erzählt. In der Tat: Die Menschen, die hier zusammenleben, Eltern, Kinder, Freunde - sie leben "anachron". Warum sie überhaupt noch da ist, diese Sippschaft aus vermengtem Basler und Berner Patriziat, vermögen sie nicht anzugeben, und so nimmt man auch den Suizid des Cousins Pingger, der aus dem Wallis nach Sizilien geflüchtet war, nicht als eine Katastrophe, sondern als Folgerichtigkeit hin. Hat man die Welt der großbürgerlichen Familiarität ohnehin verspätet betreten, dann ist der Entschluss, sie vorzeitig wieder zu verlassen, kein "Missgeschick, sondern die Konsequenz eines seit langem wirksamen inneren Impulses".
Geiser erlernt sein Erzählen in der Kälte, in der demütigen Distanz zur seelischen Erschütterung. Wenn auf der Beerdigung des Cousins "Es, nicht ich heulte", so ist das wahr gesprochen: Das Bedauern und die Trauer sind hier Rituale einer ohnehin stets den eigenen Untergang beklagenden und phrasierenden Gemeinschaft, vor dem sie nur ihr Formbewusstsein rettet. Wenn die Großmutter schwört, dass sie wegen Pingger "keinen Zahn" verliere, dann flüchtet sie sich ins Zitat: Bloß kein Thomas Buddenbrook sein - die Geschichte geht noch weiter, auch wenn niemand mehr weiß, wozu. Hier das Siechtum, dort der beherzte Schritt in den Abgrund, hier "La Peste", dort "La Chute" - von Camus' Texten bevorzugt der Erzähler, wie man nicht ohne Grund erfährt, den letzteren, den Sturz. Gründlich schreitet das Ich die verschneiten Familienlandschaften ab, am Ende hat man alles gesehen, und es läge an einem selber, "es zu machen", zu springen, dem toten Cousin nachzufolgen und sich den Skilehrern auszuliefern, die am Ende des Romans die "Leichen der Abgestürzten ins Tal" tragen. Auf den letzten Metern jedoch ersinnt sich das Erzählen im Wirtshaus "Grünsee" einen unwirklichen, nebelhaften Schutzraum; hier überlebt der Chronist seiner selbst - um zwei Jahre später im "Brachland" wieder aufzutauchen.
Auch das "Brachland" ist allegorische Fügung: Es ist die Welt der Eltern, die längst zersplittert ist, in der jedem sein Refugium zugewiesen wurde, in dem er die Erbmasse an Traumata allein verarbeiten darf. Der Vater, ein vormaliger Kinderarzt, hat sein Domizil gegen eine Jagdhütte im Elsass eingetauscht; die Mutter, einst Schauspielerin, dann Malerin, dann Hausfrau, hält die Ehe aufrecht, besorgt, unterstützt von Kinder- und Zugehfrauen, die Geschäfte und flüchtet sich in Diskussionsgruppen feministischer Theologinnen. Dazwischen die zwei Söhne, der eine frenetisch lebensmutig, der andere der Erzähler, auf dem Weg ins Brachland, zum Vater. Das Haus des Vaters - symbolischer geht es dann kaum - ist umgeben von einer Einöde, "kahl, grau und leer", auch hier kein Garten, den sich der Vater immer gewünscht hat, nichts kann gedeihen. Und erneut: keine Verbitterung, kein Hass, keine Trauer über eine ungelebte Vater-Sohn-Beziehung, nur die Einsicht, dass es nicht anders ging. Dort, wo man leben, wo die Szene der Familie sich entfalten soll, kommt die Vergangenheit in die Quere. "Särge" sind es, "die den Weg zur Wohnungstür verstellen - die Särge meiner Ahnen", halluziniert das kindliche Ich. Die Toten mischen sich unentwegt in diese Welt, sie exerzieren das Recht der Väter, löschen die Lichter und sorgen dafür, dass man "sich in dieser verdunkelten Wohnung sowieso ständig verfehlt", das Nötige unausgesprochen bleibt.
Das Psychogramm, das "Brachland" erstellt, ist von bestechender Klugheit. Nicht zuletzt das im Zwiegespräch mit Kierkegaard in den Vordergrund tretende Sohnesopfer, die Bindung Isaaks (Geiser wäre fast Theologe geworden), vermag die um sich greifende Desertion vor den Ahnen und ihren Verpflichtungen zu begründen: Für die einen liegt in der Errettung Isaaks durch den Widder im Dornbusch der Beweis für das göttliche Erbarmen, denn sie sehen die Welt von oben. In der Abstraktion, auf dem Papier existiert das Bündnis über das Blut, sind Vermächtnisse wirksam, bedarf es keiner Begründung und keiner Rechtfertigung. Der Sohn aber, den man zum Opfer geschleift hat, der diese Welt von unten sieht, kann in der Verschonung keine Gerechtigkeit mehr sehen: Er hat über dieser Geschichte "den Glauben verloren", wie es bei Kierkegaard heißt.
Das Existenzielle ist Geisers Größe, seine unwandelbare Währung. "Nur die gemeineren Naturen vergessen sich selbst und werden etwas Neues", lernt der Erzähler vom dänischen Philosophen - und das ist dann doch etwas Schlimmes, man würde ja gerne etwas Neues, Anderes werden, in einer anderen Landschaft sich niederlassen und wohnen. In dieser Desillusionierung aber liegt der entscheidende Unterschied zwischen Geisers Lebensschrift und den in den letzten Jahren populär gewordenen oder wiederentdeckten autobiographischen Erzählprojekten. Wo Geisers Prosa vor den Trümmern der eigenen Geschichte und Vorgeschichte ausharrt, da weisen etwa die von Ernaux, Ditlevsen oder Knausgård niedergeschriebenen Lebensläufe auf eine Zukunft, die in unterschiedlicher Weise literarisch erkämpft werden musste. Der Resonanzraum Geisers ist dagegen ein schon bei seiner Entdeckung sich wieder verschließender, in die Vergangenheit gestürzter und hierin auch sehr helvetischer Kosmos. Die Wandlung der Wut und der Enttäuschung zur Bestandsaufnahme ist diesem Kosmos zu eigen; angelegt finden wir sie schon in Paul Nizons programmatischem "Diskurs in der Enge" (1970), wir finden sie bei Geisers dunklem Bruder Hermann Burger in "Die künstliche Mutter" (1982) oder in dem Erzählstrom Reto Hännys, der 1984 mit "Ruch" seinen Anfang nimmt.
Man versteht diese Literatur nicht mehr allzu leicht, sie ist sperrig, sie drängt sich nicht zu uns und schaut auch nicht nach vorne, es geht ihr weder um Kritik noch um Selbstbehauptung. Sie entstammt einem Zwischenreich, und dort verweilt sie auch. Noch dreißig Jahre später hält sich Christoph Geisers Prosa hier auf. "Schöne Bescherung", wie der Genrezusatz verrät "Kein Familienroman", kehrt abermals zurück zur Mutter, die, gerade in hohem Alter an Krebs verstorben, ihren Sohn zu einem vermögenden Erben gemacht hat, was gut ist, denn jetzt ist er immerhin wieder etwas außer "Dichter a. D., literarisch tot gesagt". Lauter ist er geworden, lakonischer, ein "wir", kein "ich mehr"; die männliche Geschlechtsreife gereicht nun nicht mehr allein zum Gegenstand von "Gesprächsrunden" (wie noch in "Brachland"), sondern wird Faszinosum und Phantasma. Berlin-Wilmersdorf ist sein Ort. Glaubt er. Aber hinab zieht ihn unweigerlich abermals die Familie, diesmal in die Tiefen eines Spitals am Bodensee. Langsam, aber unabweisbar kehren die Zeichen der Herkunft wieder; hier ein berndeutsches "Item!", dort ein "massiger Schatten im nächtlichen Dunkel der Wohnung", immer und ruhelos webt die Erinnerung in diesem Werk. Es nimmt einen mit. Man möchte es ganz wiederlesen. Bald kann man es. PHILIPP THEISOHN
Christoph Geiser: "Grünsee". Roman.
Nachwort von Moritz Wagner. Secession, Berlin 2022. 271 S., geb., 26,- Euro.
Christoph Geiser: "Brachland". Roman.
Nachwort von Julian Reidy und Moritz Wagner.
Secession, Berlin 2022. 335 S., geb., 26,- Euro.
Christoph Geiser: "Schöne Bescherung". Kein Familienroman.
Nachwort von Julian Reidy. Secession, Berlin 2022. 153 S., geb., 22,- Euro.
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