Ein Dorf mit Siedlungshäusern, Villen, einem Tennisplatz und einem Löschteich. Ein Bergwerk, vor dessen Tor seit Jahren ein stummer Akkordeonspieler und Carlos, ein sonderlicher, elternloser Junge, musizieren. Doch dann geschieht ein schweres Grubenunglück mit mehreren Todesfällen, und die überlebenden Bewohner müssen den Ort verlassen. Für den Jungen beginnt eine Reise ins Ungewisse, auf der er sich sein Leben erzählt: seine erbärmliche Kindheit und seine erträumte Zukunft, vor allem aber die große Liebe, die ihn irgendwo erwartet.
Arno Geiger, Meister sprudelnder Sprachphantasie, beweist in 'Schöne Freunde', dass er es versteht, Romane zu schreiben, die zwar die Untiefen der menschlichen Seele berühren, aber doch durch und durch komisch sind.
Arno Geiger, Meister sprudelnder Sprachphantasie, beweist in 'Schöne Freunde', dass er es versteht, Romane zu schreiben, die zwar die Untiefen der menschlichen Seele berühren, aber doch durch und durch komisch sind.
"Eine wunderbare kleine Nachtmusik." -- Markus Clauer, Die Zeit
"In 'Schöne Freunde' zeigt sich Geiger als hinreißend sympathischer Erzähler, der eine kunstvoll versponnene Demonstration seines Könnens abgibt." -- Profil
"Arno Geiger schreibt große Literatur, mit jonglierender und doch so bodennaher Kunst wie man sie kaum findet im neuen Österreich oder sonst wo." -- Franz Haas, Der Standard
"In 'Schöne Freunde' zeigt sich Geiger als hinreißend sympathischer Erzähler, der eine kunstvoll versponnene Demonstration seines Könnens abgibt." -- Profil
"Arno Geiger schreibt große Literatur, mit jonglierender und doch so bodennaher Kunst wie man sie kaum findet im neuen Österreich oder sonst wo." -- Franz Haas, Der Standard
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2002Jetzt bitte denken!
Was ist hier passiert?
Arno Geigers „Schöne Freunde”
Hier ist eine bunte, kitschige, unwirkliche Welt: Arno Geiger lässt sein Personal in einem fröhlichen Ort auftanzen, auf dessen Tennisplatz Frau Doktor Bianchi und Frau Doktor Grüneisen sich abwechselnd besiegen. In der Nähe ist ein Bergwerk, vor dessen Toren täglich ein Akkordeonspieler und ein Junge musizieren. Jeder hat zu tun, soziale Unterschiede erzeugen allenfalls schöne Melancholieeffekte, im Ganzen gesehen ist man aufeinander eingespielt.
Dann aber geschieht ein schlimmer Unfall im Bergwerk, bei dem viele Arbeiter ums Leben kommen, und der Direktor, ein Scheusal, scheint von Schuld nicht frei. Es ist aber keine von jenen Ortschaften, in denen man sich um Schuld kümmert: Die Bevölkerung, bestehend aus Klischees, muss den Ort verlassen, man begibt sich gemeinsam auf ein Schiff, brüllt sich an, und dann passiert ein kleines Unglück und dann ein größeres, wobei es aber auch möglich ist, dass das größere früher einmal passiert ist. So oder so: Geigers Buch aufzuschlagen ist, als beträte man ein verkorkstes Ruhrgebiet, in dem alle rückwärts gehen, sich morgens den Kaffee auf die linke Schulter schütten, statt ihn zu trinken und es keiner übel nimmt, wenn man ihm ein Bein stellt. Die Natur ist beschaulich, scheint aber von Radioaktivität nicht frei: „Bittere Düfte tropften von Fieberbäumen in einen grünschillernden Teich.” Der 1968 geborene Wiener Autor, man merkt es bald, ist ein verspäteter Surrealist.
Gut möglich, dass er der Meinung ist, dass wir alle in so einer Geiger- Welt leben. Schließlich zeigt er sich als Freund symbolischer Didaktik. Er sprengt Abschnitte ein, in denen vom Unfall Betroffene, Verstorbene und Hinterbliebene Geschichten von sich zum Besten geben, die einfach sind und enigmatisch enden. Unter jeder steht (in unsichtbarer Schrift): „Jetzt bitte denken!” Leider denkt man nicht über alle Geschichten gerne nach. Sprengmeister Binder ist so ein Fall. Er ist ein Koloss von einem Mann. Eines Tages isst er große Mengen Schweinsschädel, Schinken, Krakauer Wurst, Käse und sechzig Brötchen, um ein Wettessen zu gewinnen. Er siegt und ist so stolz wie noch nie in seinem Leben. Doch am selben Abend erlischt ihm die Liebe seiner neben ihm liegenden Frau. „Was ist passiert?” fragt sich der Sprengmeister am Ende der Geschichte. „Ich würde es gerne wissen und weiß es nicht.”
Dabei hatte das Buch so vielversprechend angefangen. „Ich habe Talent fürs Tennisspielen, für Umgang, geistige Struktur und Satzbau,” sagte der jugendliche Erzähler. Eine strukturalistische Tennisgeschichte wäre zu diesem Zeitpunkt durchaus noch möglich gewesen. Aber dann haben schon die roten, gelben, grünen Klischees durch Geigers Welt zu tanzen begonnen, und der Rest der Probleme, verpasste Chancen, Alkoholismus und anderes drängen sich in die Geschichte, ohne sie besser zu machen. Weniger wäre mehr gewesen.
Der Roman weiß von seinen Mängeln, aber es dauert lange, bis sein Drang zum Bekenntnis stärker geworden ist als sein Wille zur Literatur. Dann sagt der Erzähler: „Ich weinte, weil ich mich fragte, was ich hier machte, was mich das alles anging und wer mich in diese Stadt und in diese Situation gebracht hatte.”
KAI MARTIN WIEGANDT
ARNO GEIGER: Schöne Freunde. Roman. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2002. 165 Seiten, 15,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Was ist hier passiert?
Arno Geigers „Schöne Freunde”
Hier ist eine bunte, kitschige, unwirkliche Welt: Arno Geiger lässt sein Personal in einem fröhlichen Ort auftanzen, auf dessen Tennisplatz Frau Doktor Bianchi und Frau Doktor Grüneisen sich abwechselnd besiegen. In der Nähe ist ein Bergwerk, vor dessen Toren täglich ein Akkordeonspieler und ein Junge musizieren. Jeder hat zu tun, soziale Unterschiede erzeugen allenfalls schöne Melancholieeffekte, im Ganzen gesehen ist man aufeinander eingespielt.
Dann aber geschieht ein schlimmer Unfall im Bergwerk, bei dem viele Arbeiter ums Leben kommen, und der Direktor, ein Scheusal, scheint von Schuld nicht frei. Es ist aber keine von jenen Ortschaften, in denen man sich um Schuld kümmert: Die Bevölkerung, bestehend aus Klischees, muss den Ort verlassen, man begibt sich gemeinsam auf ein Schiff, brüllt sich an, und dann passiert ein kleines Unglück und dann ein größeres, wobei es aber auch möglich ist, dass das größere früher einmal passiert ist. So oder so: Geigers Buch aufzuschlagen ist, als beträte man ein verkorkstes Ruhrgebiet, in dem alle rückwärts gehen, sich morgens den Kaffee auf die linke Schulter schütten, statt ihn zu trinken und es keiner übel nimmt, wenn man ihm ein Bein stellt. Die Natur ist beschaulich, scheint aber von Radioaktivität nicht frei: „Bittere Düfte tropften von Fieberbäumen in einen grünschillernden Teich.” Der 1968 geborene Wiener Autor, man merkt es bald, ist ein verspäteter Surrealist.
Gut möglich, dass er der Meinung ist, dass wir alle in so einer Geiger- Welt leben. Schließlich zeigt er sich als Freund symbolischer Didaktik. Er sprengt Abschnitte ein, in denen vom Unfall Betroffene, Verstorbene und Hinterbliebene Geschichten von sich zum Besten geben, die einfach sind und enigmatisch enden. Unter jeder steht (in unsichtbarer Schrift): „Jetzt bitte denken!” Leider denkt man nicht über alle Geschichten gerne nach. Sprengmeister Binder ist so ein Fall. Er ist ein Koloss von einem Mann. Eines Tages isst er große Mengen Schweinsschädel, Schinken, Krakauer Wurst, Käse und sechzig Brötchen, um ein Wettessen zu gewinnen. Er siegt und ist so stolz wie noch nie in seinem Leben. Doch am selben Abend erlischt ihm die Liebe seiner neben ihm liegenden Frau. „Was ist passiert?” fragt sich der Sprengmeister am Ende der Geschichte. „Ich würde es gerne wissen und weiß es nicht.”
Dabei hatte das Buch so vielversprechend angefangen. „Ich habe Talent fürs Tennisspielen, für Umgang, geistige Struktur und Satzbau,” sagte der jugendliche Erzähler. Eine strukturalistische Tennisgeschichte wäre zu diesem Zeitpunkt durchaus noch möglich gewesen. Aber dann haben schon die roten, gelben, grünen Klischees durch Geigers Welt zu tanzen begonnen, und der Rest der Probleme, verpasste Chancen, Alkoholismus und anderes drängen sich in die Geschichte, ohne sie besser zu machen. Weniger wäre mehr gewesen.
Der Roman weiß von seinen Mängeln, aber es dauert lange, bis sein Drang zum Bekenntnis stärker geworden ist als sein Wille zur Literatur. Dann sagt der Erzähler: „Ich weinte, weil ich mich fragte, was ich hier machte, was mich das alles anging und wer mich in diese Stadt und in diese Situation gebracht hatte.”
KAI MARTIN WIEGANDT
ARNO GEIGER: Schöne Freunde. Roman. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2002. 165 Seiten, 15,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Wenn Liebe in die Grube fährt
Arno Geigers Ankunft auch ohne Ziel / Von Edo Reents
Daß Kinder nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie von der Liebe reden, ist eine Unterstellung, die sich weniger auf die Liebesfähigkeit als vielmehr auf das Erkenntnisvermögen, das doch auch dazugehört, bezieht. Woher wollen sie wissen, ob sie jemanden lieben? Daß sie es grundsätzlich können, trauen wir ihnen zu; hapern tut es mit etwas anderem: Sie wissen nicht recht, was das überhaupt bedeutet, jemanden zu lieben. Aber wir Erwachsene, wissen wir es denn?
Arno Geiger ist nicht der erste, der über die Sehnsucht nach Liebe einen Roman geschrieben hat; aber was sein drittes Werk zu einem besonderen macht, ist, daß es das Thema mit einer Verhaltenheit behandelt, wie sie nur einer kindlichen Erzählperspektive geschuldet sein kann, die wir uns so gerne als unschuldig denken. Ob man von Unschuld auch tatsächlich sprechen kann, das geht aus den hundertsechzig Seiten bis zuletzt nicht eindeutig hervor. Insofern ist "Schöne Freunde" ein gutes Buch.
Nachdem der Österreicher vor fünf Jahren mit dem Schelmenroman "Kleine Schule des Karussellfahrens" debütiert und aufgrund seiner stilistischen Eleganz und der darin verarbeiteten fixen Idee, daß das Jahr 1989 ein langweiliges gewesen sei, zumindest den Respekt einiger, wenn auch nicht sehr vieler Kritiker erworben hat; nachdem er aber im drei Jahre später folgenden Werk "Irrlichterloh" den Kredit so ziemlich wieder verspielt hat - kaum ein Rezensent, der die stoffliche wie formale Beliebigkeit dieser Junge-Leute-Geschichte nicht getadelt hätte -, kommt er uns nun mit einer wohltuend beschränkten Geschichte. Diese Beschränkung ist um so bemerkenswerter, als die zeitliche und räumliche Verankerung der Handlung denkbar vage gehalten sind. Das Bergwerksunglück, das die Geschichte katastrophisch in Gang setzt, könnte sich in den fünfziger Jahren zugetragen haben, könnte aber auch in den neunziger Jahren passiert sein. Und wo? Auch das erfahren wir nicht. Die Liste der Verunglückten, die sich leitmotivisch durch das Buch zieht, klingt nach Osteuropa, aber auf die Toten kommt es nicht mehr an; die Namen der Hauptfiguren deuten auf ein deutschsprachiges Land. Auch das Alter des Ich-Erzählers wird nicht mitgeteilt; er kann zehn, zwölf, auch vierzehn Jahre alt sein - zu jung auf jeden Fall, als daß er verstehen könnte, was um ihn herum vorgeht. Doch ist es auch nicht recht zu verstehen.
Durch ein Unglück kommt nicht nur ein für die Bergwerksarbeiter überlebenswichtiger Schacht zum Einstürzen, sondern auch das ganze soziale System, das längst brüchig war. Der Junge Carlo, dessen Name uns nur einmal mitgeteilt wird, verbringt seine Tage damit, vor dem Bergwerkstor herumzulungern und für einen kleinen Geldbetrag den Hut zu ziehen, sobald jemand hindurchwill. Von dieser Schlüsselposition aus beobachtet er die Erwachsenen und verzeichnet mit kindlich-sorgfältiger Aufmerksamkeit, aber ohne Neugierde die sich immer wieder anbahnenden Affären und sexuellen Handgreiflichkeiten, die Schlägereien und Saufereien. Sein merkwürdig stiller Gefährte ist ein Akkordeonist, der all dies mit dissonantem Spiel kommentiert.
Zu tun hat es der Junge hauptsächlich mit dem Direktor des Bergwerks, dem er bei der Beschaffung von Alkoholika und auch sonst behilflich ist; abgesehen hat er es auf dessen junge Angestellte, von der wir nicht wissen, wie jung sie ist - vermutlich alt genug, um in dem Jungen ein Gefühl zu wecken, das dieser für Liebe hält. Nur ist der Junge vermutlich noch nicht alt genug, damit wir erkennen können, was es mit dieser Liebe auf sich hat. "Ich liebe dich" - diesen Satz lauscht er den Erwachsenen ab und bildet sich ein, daß ihn auch die Angestellte einmal gesagt hat, und zwar zu ihm, dem Jungen, der es nicht abwarten kann, endlich erwachsen zu sein und die junge Angestellte mit starken Armen fortzutragen. Doch diese ist längst verschwunden, wohin wissen wir nicht, begraben mit den einundsechzig Arbeitern ist sie jedenfalls nicht. Nachdem ein Untersuchungsbeamter die Lage sondiert hat, bleibt den Bewohnern nur noch die Abreise aus ihrem Ort. Man schifft sich ein, der Direktor, eine Frau Doktor Grüneisen, der Akkordeonspieler und der Junge natürlich. Das Ziel ist ungewiß, ob es erreicht wird, auch.
Dies alles klingt, nicht nur aufgrund des typisierten Personals, etwas aufdringlich, aber nicht zu aufdringlich nach Kafka. Wie ein etwas jüngerer Karl Roßmann kommt uns dieser Bursche bisweilen vor, dessen Sinne von der Öde des Ortes nicht etwa abgestumpft, sondern geschärft erscheinen. Keine Unschuld vom Lande, sondern ein Kind mit einem Instinkt für richtiges und falsches Tun. Daß es für dessen Erprobung genügend Stoff gibt, ist indes nicht dem Ereignisreichtum dieses bemerkenswerten, sprachlich strengen Romans zu verdanken; zu verdanken ist es der erzählerischen Präzision, zu der sich Geiger, unsicher gemacht womöglich von der zuletzt doch etwas harschen Kritik, anzuhalten weiß.
Es ist ein nachträgliches Protokoll, das der junge Erzähler angefertigt hat und das bedrückend, teilweise mit absurder Komik Auskunft gibt über verpaßtes, latent katastrophisches und auch mutwillig ruiniertes Leben und die karge Ausleuchtung einer kindlichen Existenz mitten darin, von der wir nur vermuten können, was sie umtreibt: Es ist wohl so etwas wie ein einsamer Idealismus der Liebe, zu dem es aber keinen Grund gibt, weil da niemand ist, der ihn teilt. Daß der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen darauf hinauslaufen kann, ist selten so unaufdringlich, so wenig plakativ erzählt worden wie hier.
Arno Geiger: "Schöne Freunde". Roman. Carl Hanser Verlag, München 2002. 165 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arno Geigers Ankunft auch ohne Ziel / Von Edo Reents
Daß Kinder nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie von der Liebe reden, ist eine Unterstellung, die sich weniger auf die Liebesfähigkeit als vielmehr auf das Erkenntnisvermögen, das doch auch dazugehört, bezieht. Woher wollen sie wissen, ob sie jemanden lieben? Daß sie es grundsätzlich können, trauen wir ihnen zu; hapern tut es mit etwas anderem: Sie wissen nicht recht, was das überhaupt bedeutet, jemanden zu lieben. Aber wir Erwachsene, wissen wir es denn?
Arno Geiger ist nicht der erste, der über die Sehnsucht nach Liebe einen Roman geschrieben hat; aber was sein drittes Werk zu einem besonderen macht, ist, daß es das Thema mit einer Verhaltenheit behandelt, wie sie nur einer kindlichen Erzählperspektive geschuldet sein kann, die wir uns so gerne als unschuldig denken. Ob man von Unschuld auch tatsächlich sprechen kann, das geht aus den hundertsechzig Seiten bis zuletzt nicht eindeutig hervor. Insofern ist "Schöne Freunde" ein gutes Buch.
Nachdem der Österreicher vor fünf Jahren mit dem Schelmenroman "Kleine Schule des Karussellfahrens" debütiert und aufgrund seiner stilistischen Eleganz und der darin verarbeiteten fixen Idee, daß das Jahr 1989 ein langweiliges gewesen sei, zumindest den Respekt einiger, wenn auch nicht sehr vieler Kritiker erworben hat; nachdem er aber im drei Jahre später folgenden Werk "Irrlichterloh" den Kredit so ziemlich wieder verspielt hat - kaum ein Rezensent, der die stoffliche wie formale Beliebigkeit dieser Junge-Leute-Geschichte nicht getadelt hätte -, kommt er uns nun mit einer wohltuend beschränkten Geschichte. Diese Beschränkung ist um so bemerkenswerter, als die zeitliche und räumliche Verankerung der Handlung denkbar vage gehalten sind. Das Bergwerksunglück, das die Geschichte katastrophisch in Gang setzt, könnte sich in den fünfziger Jahren zugetragen haben, könnte aber auch in den neunziger Jahren passiert sein. Und wo? Auch das erfahren wir nicht. Die Liste der Verunglückten, die sich leitmotivisch durch das Buch zieht, klingt nach Osteuropa, aber auf die Toten kommt es nicht mehr an; die Namen der Hauptfiguren deuten auf ein deutschsprachiges Land. Auch das Alter des Ich-Erzählers wird nicht mitgeteilt; er kann zehn, zwölf, auch vierzehn Jahre alt sein - zu jung auf jeden Fall, als daß er verstehen könnte, was um ihn herum vorgeht. Doch ist es auch nicht recht zu verstehen.
Durch ein Unglück kommt nicht nur ein für die Bergwerksarbeiter überlebenswichtiger Schacht zum Einstürzen, sondern auch das ganze soziale System, das längst brüchig war. Der Junge Carlo, dessen Name uns nur einmal mitgeteilt wird, verbringt seine Tage damit, vor dem Bergwerkstor herumzulungern und für einen kleinen Geldbetrag den Hut zu ziehen, sobald jemand hindurchwill. Von dieser Schlüsselposition aus beobachtet er die Erwachsenen und verzeichnet mit kindlich-sorgfältiger Aufmerksamkeit, aber ohne Neugierde die sich immer wieder anbahnenden Affären und sexuellen Handgreiflichkeiten, die Schlägereien und Saufereien. Sein merkwürdig stiller Gefährte ist ein Akkordeonist, der all dies mit dissonantem Spiel kommentiert.
Zu tun hat es der Junge hauptsächlich mit dem Direktor des Bergwerks, dem er bei der Beschaffung von Alkoholika und auch sonst behilflich ist; abgesehen hat er es auf dessen junge Angestellte, von der wir nicht wissen, wie jung sie ist - vermutlich alt genug, um in dem Jungen ein Gefühl zu wecken, das dieser für Liebe hält. Nur ist der Junge vermutlich noch nicht alt genug, damit wir erkennen können, was es mit dieser Liebe auf sich hat. "Ich liebe dich" - diesen Satz lauscht er den Erwachsenen ab und bildet sich ein, daß ihn auch die Angestellte einmal gesagt hat, und zwar zu ihm, dem Jungen, der es nicht abwarten kann, endlich erwachsen zu sein und die junge Angestellte mit starken Armen fortzutragen. Doch diese ist längst verschwunden, wohin wissen wir nicht, begraben mit den einundsechzig Arbeitern ist sie jedenfalls nicht. Nachdem ein Untersuchungsbeamter die Lage sondiert hat, bleibt den Bewohnern nur noch die Abreise aus ihrem Ort. Man schifft sich ein, der Direktor, eine Frau Doktor Grüneisen, der Akkordeonspieler und der Junge natürlich. Das Ziel ist ungewiß, ob es erreicht wird, auch.
Dies alles klingt, nicht nur aufgrund des typisierten Personals, etwas aufdringlich, aber nicht zu aufdringlich nach Kafka. Wie ein etwas jüngerer Karl Roßmann kommt uns dieser Bursche bisweilen vor, dessen Sinne von der Öde des Ortes nicht etwa abgestumpft, sondern geschärft erscheinen. Keine Unschuld vom Lande, sondern ein Kind mit einem Instinkt für richtiges und falsches Tun. Daß es für dessen Erprobung genügend Stoff gibt, ist indes nicht dem Ereignisreichtum dieses bemerkenswerten, sprachlich strengen Romans zu verdanken; zu verdanken ist es der erzählerischen Präzision, zu der sich Geiger, unsicher gemacht womöglich von der zuletzt doch etwas harschen Kritik, anzuhalten weiß.
Es ist ein nachträgliches Protokoll, das der junge Erzähler angefertigt hat und das bedrückend, teilweise mit absurder Komik Auskunft gibt über verpaßtes, latent katastrophisches und auch mutwillig ruiniertes Leben und die karge Ausleuchtung einer kindlichen Existenz mitten darin, von der wir nur vermuten können, was sie umtreibt: Es ist wohl so etwas wie ein einsamer Idealismus der Liebe, zu dem es aber keinen Grund gibt, weil da niemand ist, der ihn teilt. Daß der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen darauf hinauslaufen kann, ist selten so unaufdringlich, so wenig plakativ erzählt worden wie hier.
Arno Geiger: "Schöne Freunde". Roman. Carl Hanser Verlag, München 2002. 165 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr viel Genaues weiß man nicht: wo genau der Roman spielt und wann bleibt ebenso unbekannt wie das Alter des Jungen, der der Ich-Erzähler ist, oder das der Frau, in die er sich zu verlieben glaubt. Darum geht es: um die "Sehnsucht nach Liebe", mit der der Junge sich konfrontiert findet. Im Zentrum, so viel steht fest, steht ein Bergwerk und eine Katastrophe: ein wichtiger Schacht stürzt ein, der Junge steht am Tor zum Bergwerk und zieht den Hut, wen einer kommt, damit verdient er sein Geld. Er beobachtet die Leute, vor allem den Direktor und dessen Angestellte, von der der Junge eben glaubt, sie liebt ihn. Am Ende, nach der Katastrophe, kommt's zur allgemeinen Abreise. Der Rezensent Edo Reents fühlt sich an Kafka erinnert, "aber nicht zu aufdringlich", er weiß die "erzählerische Präzision" des Autors zu schätzen, und lobt das Werk, weil es auf alles Plakative verzichtet, als "gutes Buch".
© Perlentaucher Medien GmbH
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