Seit Kant stehen sich zwei Modelle der Lust am Schönen gegenüber: Das eine versteht die ästhetische Lust als Freude an einer besonderen Erkenntnis, das andere beschreibt diese Lust als Vergnügen an einem Spiel, in dem wir gerade frei sind von Erkenntnis. Beide Modelle, das Erkenntnismodell der hermeneutischen wie das Spielmodell der formalistischen Tradition, sind, so Kerns These, in einem falschen Gegensatz gefangen. Kern löst diesen Gegensatz auf, indem sie im Anschluß an Kant die Theorie der ästhetischen Erfahrung von deren entscheidendem Merkmal her entwickelt: der ästhetischen Lust. Die ästhetische Erfahrung ist autonom, argumentiert Kern, nicht, weil sie ohne Bezug zum Erkennen ist, sondern weil sie unser Erkennen in ein Moment des Spiels verwandelt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2000Lustige Lust
Andrea Kerns Ästhetik nach Kant ist eigentlich urkomisch
Aus einem gewissen Abstand betrachtet, wirken die Bemühungen der philosophischen Ästhetik leicht merkwürdig und sogar komisch. Flaubert, der einen Blick für derlei Effekte besaß, läßt in seiner "Éducation sentimentale" einen Maler namens Pellerin auftreten, von dem es heißt, er habe sämtliche ästhetischen Schriften gelesen, um nun endlich Meisterwerke zustande zu bringen. Ausgestattet mit einem gesunden Selbstbewußtsein, glaubte er an Systeme, an Gesetzmäßigkeiten in der Kunst, "an tausenderlei läppisches Zeug". In seiner Überspanntheit wirkte der Mann gekünstelt und natürlich zugleich, schreibt Flaubert, was "zusammen den Komödianten macht".
Pellerin ist lächerlich, weil er erwartet, daß die ästhetischen Systeme dem Künstler als Richtschnur dienen können und ihn zu den höchsten Höhen des Schaffens geleiten. Lächerlich ist aber vor allem die Ästhetik, die sich eingestehen muß, daß sie dem Künstler in seiner Not nichts zu sagen hat. Sie verfügt gar nicht über die Mittel, die es ihr erlauben würden, zu den Werken und, um es mit Gadamer zu sagen, zu ihrer "eigenen Weise des Wahrseins" durchzudringen. Der Streit um die Ästhetik ist alt, so alt wie die Ästhetik selbst, und nur die wenigsten Vertreter des Faches dürften sich vom Spott Flauberts getroffen fühlen. Zum einzelnen Werk will die Ästhetik gar nicht Stellung nehmen, ihr Augenmerk gilt vielmehr der "Erfahrung des Schönen".
Dies wiederum ist eine Formel, die auf Kant zurückgeht. Kant rückt den Kunstgegenstand auf Distanz, um die Aufmerksamkeit auf die Erfahrung zu lenken, die wir Wahrnehmenden mit ihm machen. Spezifisch ästhetisch ist das Interesse für die Lust und das Wohlgefallen, das wir am Gegenstand empfinden, ohne doch den Anspruch auf die Allgemeingültigkeit unseres Urteils aufzugeben. Dabei verdient auch die Bedeutung des Gegenstandes Beachtung, doch das ästhetische Urteil kommt ohne sie aus: Es ist von eigener Art. Als ästhetischer Grundsatz gilt somit, daß - so Kants "Kritik der Urteilskraft" von 1790 - "Schönheit ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjekts für sich nichts ist".
Seit den Tagen dieser Vorgabe verwirklicht sich die Ästhetik als eine Reihe von Fußnoten zu Kant. Es entspricht denn auch dem Comment, wenn Andrea Kern, mag ihre Schrift auch noch so verheißungsvoll betitelt sein, ihr Bekenntnis zur Stifterfigur der neuen Ästhetik mit einer weitgehend werkfreien Theoriediskussion verbindet. Gut kantianisch konzentriert sich ihr Interesse auf "die Analyse der Lust". Das philosophische Problem, das Kern freilegt, entspringt einer Unentschiedenheit im Argumentationsgang der "Kritik der Urteilskraft". Kants Schrift läßt die Autonomie des ästhetischen Urteils, mithin einen auf die Erfahrung des Schönen zielenden "lusttheoretischen Ansatz", und das Wissen um die Bedeutung des Gegenstandes, also einen "verstehenstheoretischen Ansatz", unvermittelt nebeneinanderstehen. Aus dieser Unentschiedenheit, argumentiert Kern, seien theoriegeschichtlich zwei Modelle der Ästhetik hervorgegangen, die bis heute im Streit liegen. Die Berliner Dissertation will die zeitgenössische Debatte an den Ursprung dieses Zerwürfnisses zurückführen und zeigen, daß die gegensätzlichen Positionen auf irrigen und durchaus vermeidbaren Vereinseitigungen beruhen.
Die unlängst von Carsten Zelle vertretene These, daß die Geschichte der Disziplin von Boileau bis Nietzsche überhaupt als "doppelte Ästhetik" erzählt werden müsse (siehe F.A.Z. vom 1. Oktober 1996), findet allerdings keine Beachtung. Die Verfasserin kennt nur Kant. Um das von der "Kritik der Urteilskraft" hinterlassene Dilemma zu bearbeiten, schickt sie mit der Hermeneutik und dem Dekonstruktivismus zwei kritisch auf Kant bezogene Ästhetiken ins Rennen und wägt die Konkurrenzangebote ab. Der Verlierer des Wettbewerbs heißt, wenig überraschend, Hermeneutik. Kern bescheinigt ihr, zugunsten der Bedeutungsdimension die lusttheoretische Pointe der "Kritik der Urteilskraft" zu verschenken. Mit einem Wort: Die Hermeneutik ist nicht kantianisch genug.
Solche Argumentationen wirken nicht nur, sie sind scholastisch. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt Kerns Umgang mit den Gegenständen, für den immerhin fast dreißig Seiten zur Verfügung stehen. Die Sprache, die hier wie auch an anderer Stelle vorherrscht, läßt bald erkennen, daß die Werke keineswegs als solche, sondern nur illustrationshalber interessieren. Die Verfasserin will Ästhetin, nicht Interpretin sein. Ihre Beispiele - eine Erzählung Blanchots, eine Bibelstelle und Rembrandts "Bathseba" - dienen bloß als "Anlässe", um theoretische Vorentscheidungen zu bestätigen: den Lösungsvorschlag nämlich, daß die Erfahrung des Schönen in Situationen "ästhetischer Unentscheidbarkeit" gründe. In der ästhetischen Erfahrung werden demnach voneinander unabhängige Zirkel des Verstehens so aktiviert, daß das Subjekt sich des Spiels der von ihm selbst angestoßenen Deutungskonkurrenzen, und das soll letztlich heißen: sich seiner selbst erfreut.
Das ist in der Tat hermeneutisch nicht mehr vermittelbar und gibt der Vermutung Raum, daß auf der Metaebene der Ästhetik nun durchaus entsprechende Situationen, Situationen "theoretischer Unentscheidbarkeit", Einzug halten. Die Vertreter der ästhetischen Theorie werden es gelassen zur Kenntnis nehmen. Aus ihrer Sicht ist damit lediglich eine neue Diskussionsrunde eröffnet, mag auch ein Hauch von Komik über alldem liegen.
RALF KONERSMANN
Andrea Kern: "Schöne Lust". Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 322 S., br., 22,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrea Kerns Ästhetik nach Kant ist eigentlich urkomisch
Aus einem gewissen Abstand betrachtet, wirken die Bemühungen der philosophischen Ästhetik leicht merkwürdig und sogar komisch. Flaubert, der einen Blick für derlei Effekte besaß, läßt in seiner "Éducation sentimentale" einen Maler namens Pellerin auftreten, von dem es heißt, er habe sämtliche ästhetischen Schriften gelesen, um nun endlich Meisterwerke zustande zu bringen. Ausgestattet mit einem gesunden Selbstbewußtsein, glaubte er an Systeme, an Gesetzmäßigkeiten in der Kunst, "an tausenderlei läppisches Zeug". In seiner Überspanntheit wirkte der Mann gekünstelt und natürlich zugleich, schreibt Flaubert, was "zusammen den Komödianten macht".
Pellerin ist lächerlich, weil er erwartet, daß die ästhetischen Systeme dem Künstler als Richtschnur dienen können und ihn zu den höchsten Höhen des Schaffens geleiten. Lächerlich ist aber vor allem die Ästhetik, die sich eingestehen muß, daß sie dem Künstler in seiner Not nichts zu sagen hat. Sie verfügt gar nicht über die Mittel, die es ihr erlauben würden, zu den Werken und, um es mit Gadamer zu sagen, zu ihrer "eigenen Weise des Wahrseins" durchzudringen. Der Streit um die Ästhetik ist alt, so alt wie die Ästhetik selbst, und nur die wenigsten Vertreter des Faches dürften sich vom Spott Flauberts getroffen fühlen. Zum einzelnen Werk will die Ästhetik gar nicht Stellung nehmen, ihr Augenmerk gilt vielmehr der "Erfahrung des Schönen".
Dies wiederum ist eine Formel, die auf Kant zurückgeht. Kant rückt den Kunstgegenstand auf Distanz, um die Aufmerksamkeit auf die Erfahrung zu lenken, die wir Wahrnehmenden mit ihm machen. Spezifisch ästhetisch ist das Interesse für die Lust und das Wohlgefallen, das wir am Gegenstand empfinden, ohne doch den Anspruch auf die Allgemeingültigkeit unseres Urteils aufzugeben. Dabei verdient auch die Bedeutung des Gegenstandes Beachtung, doch das ästhetische Urteil kommt ohne sie aus: Es ist von eigener Art. Als ästhetischer Grundsatz gilt somit, daß - so Kants "Kritik der Urteilskraft" von 1790 - "Schönheit ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjekts für sich nichts ist".
Seit den Tagen dieser Vorgabe verwirklicht sich die Ästhetik als eine Reihe von Fußnoten zu Kant. Es entspricht denn auch dem Comment, wenn Andrea Kern, mag ihre Schrift auch noch so verheißungsvoll betitelt sein, ihr Bekenntnis zur Stifterfigur der neuen Ästhetik mit einer weitgehend werkfreien Theoriediskussion verbindet. Gut kantianisch konzentriert sich ihr Interesse auf "die Analyse der Lust". Das philosophische Problem, das Kern freilegt, entspringt einer Unentschiedenheit im Argumentationsgang der "Kritik der Urteilskraft". Kants Schrift läßt die Autonomie des ästhetischen Urteils, mithin einen auf die Erfahrung des Schönen zielenden "lusttheoretischen Ansatz", und das Wissen um die Bedeutung des Gegenstandes, also einen "verstehenstheoretischen Ansatz", unvermittelt nebeneinanderstehen. Aus dieser Unentschiedenheit, argumentiert Kern, seien theoriegeschichtlich zwei Modelle der Ästhetik hervorgegangen, die bis heute im Streit liegen. Die Berliner Dissertation will die zeitgenössische Debatte an den Ursprung dieses Zerwürfnisses zurückführen und zeigen, daß die gegensätzlichen Positionen auf irrigen und durchaus vermeidbaren Vereinseitigungen beruhen.
Die unlängst von Carsten Zelle vertretene These, daß die Geschichte der Disziplin von Boileau bis Nietzsche überhaupt als "doppelte Ästhetik" erzählt werden müsse (siehe F.A.Z. vom 1. Oktober 1996), findet allerdings keine Beachtung. Die Verfasserin kennt nur Kant. Um das von der "Kritik der Urteilskraft" hinterlassene Dilemma zu bearbeiten, schickt sie mit der Hermeneutik und dem Dekonstruktivismus zwei kritisch auf Kant bezogene Ästhetiken ins Rennen und wägt die Konkurrenzangebote ab. Der Verlierer des Wettbewerbs heißt, wenig überraschend, Hermeneutik. Kern bescheinigt ihr, zugunsten der Bedeutungsdimension die lusttheoretische Pointe der "Kritik der Urteilskraft" zu verschenken. Mit einem Wort: Die Hermeneutik ist nicht kantianisch genug.
Solche Argumentationen wirken nicht nur, sie sind scholastisch. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt Kerns Umgang mit den Gegenständen, für den immerhin fast dreißig Seiten zur Verfügung stehen. Die Sprache, die hier wie auch an anderer Stelle vorherrscht, läßt bald erkennen, daß die Werke keineswegs als solche, sondern nur illustrationshalber interessieren. Die Verfasserin will Ästhetin, nicht Interpretin sein. Ihre Beispiele - eine Erzählung Blanchots, eine Bibelstelle und Rembrandts "Bathseba" - dienen bloß als "Anlässe", um theoretische Vorentscheidungen zu bestätigen: den Lösungsvorschlag nämlich, daß die Erfahrung des Schönen in Situationen "ästhetischer Unentscheidbarkeit" gründe. In der ästhetischen Erfahrung werden demnach voneinander unabhängige Zirkel des Verstehens so aktiviert, daß das Subjekt sich des Spiels der von ihm selbst angestoßenen Deutungskonkurrenzen, und das soll letztlich heißen: sich seiner selbst erfreut.
Das ist in der Tat hermeneutisch nicht mehr vermittelbar und gibt der Vermutung Raum, daß auf der Metaebene der Ästhetik nun durchaus entsprechende Situationen, Situationen "theoretischer Unentscheidbarkeit", Einzug halten. Die Vertreter der ästhetischen Theorie werden es gelassen zur Kenntnis nehmen. Aus ihrer Sicht ist damit lediglich eine neue Diskussionsrunde eröffnet, mag auch ein Hauch von Komik über alldem liegen.
RALF KONERSMANN
Andrea Kern: "Schöne Lust". Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 322 S., br., 22,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ralf Konersmann ist nicht überzeugt von diesem Buch, dem er unfreiwillige Komik attestiert. Er kritisiert, dass die Autorin eine "werkfreie Theoriediskussion" vom Zaun bricht, die sich der besprochenen Werke lediglich als Illustration der von vornherein festliegenden "ästhetischen Vorentscheidungen" bediene. Zudem stütze sie sich ausschließlich auf Kant und ignoriere neuere Forschung zur Ästhetik. Die Untersuchung ist im Kern "scholastisch", tadelt der Rezensent, den die Ergebnisse der Autorin noch dazu "wenig überraschen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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