Es beginnt wie ein Roadmovie. Im gemieteten Transporter fahren Martin und sein bester Freund Noah über die Autobahn. Auf der Ladefläche der Speer der bronzenen Athene vom Münchner Königsplatz, Trophäe einer rauschhaften Sommernacht. Sechs Stunden später sind sie zurück an den Orten ihrer Kindheit: Die Spielstraßen, die Fenchelfelder, die Kiesgrube haben sie vor Jahren hinter sich gelassen. Auch Mugo ist zurück, die kluge, wütende Mugo, die immer vom Ausbruch aus der Provinz geträumt und Martin damit angesteckt hat. Sie wollte raus aus der Kleinstadt, aus dem Plattenbau mit Blick auf Einfamilienhäuser und Carports. Nun arbeitet sie an der Tankstelle am Ortseingang und will nichts mehr von Martin wissen. Sogar Noah wird ihm in der vertrauten Umgebung immer fremder. Auf sich allein gestellt, ist Martin gezwungen, das Verhältnis zur eigenen Herkunft zu überdenken.
Einfühlsam und mit Witz erzählt Kristin Höller in ihrem Romandebüt vom Erwachsenwerden: von der Verwundbarkeit, der Neugierde, der Liebe und der Wut, von großen Plänen und den Sackgassen, in denen sie oftmals enden. Sie erzählt von der Entschlossenheit der Mütter und dem Erwartungsdruck der Väter, vom Ende einer Freundschaft und der Schönheit von Regionalbahnhöfen. Existenziell, tröstlich, hinreißend.
Einfühlsam und mit Witz erzählt Kristin Höller in ihrem Romandebüt vom Erwachsenwerden: von der Verwundbarkeit, der Neugierde, der Liebe und der Wut, von großen Plänen und den Sackgassen, in denen sie oftmals enden. Sie erzählt von der Entschlossenheit der Mütter und dem Erwartungsdruck der Väter, vom Ende einer Freundschaft und der Schönheit von Regionalbahnhöfen. Existenziell, tröstlich, hinreißend.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2019Speerwerfen in der rheinischen Provinz
Viel mehr als ein charmantes Jugendbuch zum Knuddeln: Kristin Höllers Debüt "Schöner als überall"
Es fängt an wie eine kleine Geschichte und plustert sich auch nie zum großen Drama auf. Noah und Martin klauen in sommerlicher Partylaune den Speer der Athene vom Münchner Königsplatz, und weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Trophäe, fahren sie spontan nach Hause, sechshundert Kilometer in das Kaff im Rheinland, von wo sie vor zwei Jahren auszogen. Nichts ist in der Heimat besser als in München, höchstens der Anisgeruch der Fenchelfelder und das speckige Ledersofa im Wohnzimmer der ersten Liebe. Die Einfamilien- und Architektenhäuser am Ende der Spielstraße, die verkehrsberuhigten Wohlfühlzonen mit ihren Glasfassaden und Thujahecken, Carports und Edeka-Käsetheken sind hässlich wie überall, und für die Dagebliebenen gibt es höchstens Praktika bei der Sparkasse und freitags die Grillparty bei den Nachbarn.
Noah aber gefällt diese kleine heile Welt. Er braucht dringend eine "Auszeit", Entschleunigung bei Mama, zwinkerzwinker. Seine Karriere als Teeniestar einer Fernsehserie ist ins Stocken geraten; da lässt man sich zu Hause gern bemuttern und von den alten Freunden als heimgekehrter Odysseus feiern.
Bei Martin ist alles komplizierter. Er kommt aus einer Mittelstandsfamilie, für deren Spießigkeit er sich schämt, und ist so durchschnittlich, dass es ihm selbst wehtut. Noah ist seit Kindertagen sein bester Freund, auch weil der ihn seine soziale Privilegiertheit und intellektuelle Überlegenheit nie spüren ließen, aber jetzt steht der Speer zwischen ihnen. Als Noah das blöde Ding in der Kiesgrube entsorgt und um sein bisschen Karriere zittert, weil die Sache auffliegen könnte, ist der sonst so stille und demütige Martin außer sich: Wollten sie nicht immer anders als ihre Eltern sein, mutiger, freier, wahrhaftiger? Und jetzt denkt dieser Egoist nur an seinen lächerlichen Ruf als C-Promi.
Den Hass auf die selbstzufriedenen "Bonzen" hat Martin von seiner großen Liebe Maria alias Mugo (wie "Mutter Gottes"). Sie wohnt im Plattenbau und jobbt in der Tankstelle und konnte Noah noch nie ausstehen. Martin war schon immer verknallt in das ebenso kluge wie unversöhnlich wütende Energiebündel, aber seit ihm Noah fremd geworden ist, himmelt er Mugo wie eine Heilige an. Wenn er ihren alten Roller sieht, hüpft sein Herz wie ein Flummi, ihre Sprüche sind für ihn Orakel, und wenn er mit ihr wie früher auf dem Dach des Regionalbahnhofs sitzt, wird sogar das Hässliche schön. Mugo ist seine Erlöserin, die Mutter Gottes, die ihm Schutz und Schirm und einen heiligen Zorn auf die Lauen und Krämer gewährt. Mädchen sind klüger, stärker, treuer und sowieso liebenswerter als die dummen Jungs mit ihren Dummejungenstreichen, und Martin ist in diesem Sinne auch eines.
So weit wäre "Schöner als überall" nur eine klassische Spießerfarce, das Coming-of-Age eines altklug schwadronierenden Holden Caulfield. Seit "Tschick" werden auch ältere Herren und A-Promis aus dem Fernsehmilieu auf der literarischen Suche nach ihrer verlorenen Jugendzeit sentimental, so zuletzt Axel Milberg in "Düsternbrook" und Matthias Brandt in "Blackbird". Aber so einfach macht es sich Kristin Höller nicht. "Alles hier sieht aus wie eine Kulisse, wie die Attrappe einer Provinz, hergerichtet für einen Kinofilm über wütende Jugendliche", aber es gibt weder eine Explosion noch ein versöhnliches Happy End. "Es wird alles immer komplizierter, je länger man darüber nachdenkt": Niemand ist ganz gut oder völlig schlecht, jeder ein Prisma, ein verpixeltes Bild, ein Puzzle aus hundert Teilen.
Mugo ist keine Heilige, nur ein "bockiger Teenager", hängengeblieben in der Provinz, gescheitert mit ihren Ambitionen und vorbestraft. Noah ist kein narzisstisches Arschloch, seine Mutter nicht die verzweifelte, frustrierte Vorstadttussi, für die Martin sie hielt, und auch dessen eigene Eltern sind keine peinlichen Gartenzwerge. Ja, sie legen Wert auf Anstand und Eigenheim, sichern ihre Tischdecken mit Klippern und schützen den Partysalat mit Gummis überm Cellophan, aber sie lieben Martin auf ihre scheue, ungelenke Weise. Wenn seine Mutter ihm wortlos eine selbstgezogene Tomate reicht, ist das "das Netteste überhaupt, wie ein Griff an meinen Arm, bloß in Form von Gemüse".
Man muss Höller für solche Sätze einfach mögen. Die Dreiundzwanzigjährige hat als Lokaljournalistin gelernt, aus wenig eine runde Geschichte zu machen. "Schöner als überall" ist eigentlich nur eine kleine Erzählung über Weggehen, Heimkehren und den Abschied von der Kindheit, und das kann manchmal schon ziemlich sentimental werden. Aber in diesem Romandebüt steckt so viel Zartheit, Wahrheit und poetische Originalität, dass es viel mehr ist als nur ein charmantes Jugendbuch zum Knuddeln. Man merkt der rhythmisch pulsierenden Prosa an, dass die Autorin aus der Poetry-Slam-Szene kommt. Höller setzt nicht auf sichere Pointen und stilistische Perfektion, sondern baut lieber leicht verrutschte, unscharfe Metaphern ein, damit Martins Monolog nicht zu hemmungslos romantisch wird. Sie verzichtet auf die üblichen Ingredienzien des Pubertätsromans, auf popkulturelle Distinktionen und Playlists zum Eingrooven, und arbeitet viel mit "Und"-Ketten und nachgestellten Partikeln wie "eigentlich", "unbedingt", "wahrscheinlich" oder "später" (spätestens seit Judith Hermanns "Sommerhaus, später" die Erkennungsmelodie gepflegter Melancholie). Das alles schafft einen schönen, sommerlich leichten Rhythmus, und es stört nicht einmal, wenn die Ölpfützen im Neonlicht "super filmig" schimmern, manchmal.
"Schöner als überall" ist erstaunlich abgeklärt, selbst die feministischen Duftmarken bleiben diskret und "weich von innen". Damals, im Sommer am Ende der Spielstraße, schien alles möglich. Jetzt sind alle Auswege mit Käsetheken, Carports und Alltagskram verbaut, aber das ist kein Grund zum Verzweifeln. Martin kehrt allein nach München zurück. Er hat jetzt keine Götter und Heiligen mehr, aber ein paar Freunde fürs Leben, und er weiß jetzt, was er will. Man muss keine Speere in den Baggersee werfen, um Kreise zu ziehen.
MARTIN HALTER
Kristin Höller: "Schöner als überall". Roman.
Suhrkamp Nova, Berlin 2019. 221 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viel mehr als ein charmantes Jugendbuch zum Knuddeln: Kristin Höllers Debüt "Schöner als überall"
Es fängt an wie eine kleine Geschichte und plustert sich auch nie zum großen Drama auf. Noah und Martin klauen in sommerlicher Partylaune den Speer der Athene vom Münchner Königsplatz, und weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Trophäe, fahren sie spontan nach Hause, sechshundert Kilometer in das Kaff im Rheinland, von wo sie vor zwei Jahren auszogen. Nichts ist in der Heimat besser als in München, höchstens der Anisgeruch der Fenchelfelder und das speckige Ledersofa im Wohnzimmer der ersten Liebe. Die Einfamilien- und Architektenhäuser am Ende der Spielstraße, die verkehrsberuhigten Wohlfühlzonen mit ihren Glasfassaden und Thujahecken, Carports und Edeka-Käsetheken sind hässlich wie überall, und für die Dagebliebenen gibt es höchstens Praktika bei der Sparkasse und freitags die Grillparty bei den Nachbarn.
Noah aber gefällt diese kleine heile Welt. Er braucht dringend eine "Auszeit", Entschleunigung bei Mama, zwinkerzwinker. Seine Karriere als Teeniestar einer Fernsehserie ist ins Stocken geraten; da lässt man sich zu Hause gern bemuttern und von den alten Freunden als heimgekehrter Odysseus feiern.
Bei Martin ist alles komplizierter. Er kommt aus einer Mittelstandsfamilie, für deren Spießigkeit er sich schämt, und ist so durchschnittlich, dass es ihm selbst wehtut. Noah ist seit Kindertagen sein bester Freund, auch weil der ihn seine soziale Privilegiertheit und intellektuelle Überlegenheit nie spüren ließen, aber jetzt steht der Speer zwischen ihnen. Als Noah das blöde Ding in der Kiesgrube entsorgt und um sein bisschen Karriere zittert, weil die Sache auffliegen könnte, ist der sonst so stille und demütige Martin außer sich: Wollten sie nicht immer anders als ihre Eltern sein, mutiger, freier, wahrhaftiger? Und jetzt denkt dieser Egoist nur an seinen lächerlichen Ruf als C-Promi.
Den Hass auf die selbstzufriedenen "Bonzen" hat Martin von seiner großen Liebe Maria alias Mugo (wie "Mutter Gottes"). Sie wohnt im Plattenbau und jobbt in der Tankstelle und konnte Noah noch nie ausstehen. Martin war schon immer verknallt in das ebenso kluge wie unversöhnlich wütende Energiebündel, aber seit ihm Noah fremd geworden ist, himmelt er Mugo wie eine Heilige an. Wenn er ihren alten Roller sieht, hüpft sein Herz wie ein Flummi, ihre Sprüche sind für ihn Orakel, und wenn er mit ihr wie früher auf dem Dach des Regionalbahnhofs sitzt, wird sogar das Hässliche schön. Mugo ist seine Erlöserin, die Mutter Gottes, die ihm Schutz und Schirm und einen heiligen Zorn auf die Lauen und Krämer gewährt. Mädchen sind klüger, stärker, treuer und sowieso liebenswerter als die dummen Jungs mit ihren Dummejungenstreichen, und Martin ist in diesem Sinne auch eines.
So weit wäre "Schöner als überall" nur eine klassische Spießerfarce, das Coming-of-Age eines altklug schwadronierenden Holden Caulfield. Seit "Tschick" werden auch ältere Herren und A-Promis aus dem Fernsehmilieu auf der literarischen Suche nach ihrer verlorenen Jugendzeit sentimental, so zuletzt Axel Milberg in "Düsternbrook" und Matthias Brandt in "Blackbird". Aber so einfach macht es sich Kristin Höller nicht. "Alles hier sieht aus wie eine Kulisse, wie die Attrappe einer Provinz, hergerichtet für einen Kinofilm über wütende Jugendliche", aber es gibt weder eine Explosion noch ein versöhnliches Happy End. "Es wird alles immer komplizierter, je länger man darüber nachdenkt": Niemand ist ganz gut oder völlig schlecht, jeder ein Prisma, ein verpixeltes Bild, ein Puzzle aus hundert Teilen.
Mugo ist keine Heilige, nur ein "bockiger Teenager", hängengeblieben in der Provinz, gescheitert mit ihren Ambitionen und vorbestraft. Noah ist kein narzisstisches Arschloch, seine Mutter nicht die verzweifelte, frustrierte Vorstadttussi, für die Martin sie hielt, und auch dessen eigene Eltern sind keine peinlichen Gartenzwerge. Ja, sie legen Wert auf Anstand und Eigenheim, sichern ihre Tischdecken mit Klippern und schützen den Partysalat mit Gummis überm Cellophan, aber sie lieben Martin auf ihre scheue, ungelenke Weise. Wenn seine Mutter ihm wortlos eine selbstgezogene Tomate reicht, ist das "das Netteste überhaupt, wie ein Griff an meinen Arm, bloß in Form von Gemüse".
Man muss Höller für solche Sätze einfach mögen. Die Dreiundzwanzigjährige hat als Lokaljournalistin gelernt, aus wenig eine runde Geschichte zu machen. "Schöner als überall" ist eigentlich nur eine kleine Erzählung über Weggehen, Heimkehren und den Abschied von der Kindheit, und das kann manchmal schon ziemlich sentimental werden. Aber in diesem Romandebüt steckt so viel Zartheit, Wahrheit und poetische Originalität, dass es viel mehr ist als nur ein charmantes Jugendbuch zum Knuddeln. Man merkt der rhythmisch pulsierenden Prosa an, dass die Autorin aus der Poetry-Slam-Szene kommt. Höller setzt nicht auf sichere Pointen und stilistische Perfektion, sondern baut lieber leicht verrutschte, unscharfe Metaphern ein, damit Martins Monolog nicht zu hemmungslos romantisch wird. Sie verzichtet auf die üblichen Ingredienzien des Pubertätsromans, auf popkulturelle Distinktionen und Playlists zum Eingrooven, und arbeitet viel mit "Und"-Ketten und nachgestellten Partikeln wie "eigentlich", "unbedingt", "wahrscheinlich" oder "später" (spätestens seit Judith Hermanns "Sommerhaus, später" die Erkennungsmelodie gepflegter Melancholie). Das alles schafft einen schönen, sommerlich leichten Rhythmus, und es stört nicht einmal, wenn die Ölpfützen im Neonlicht "super filmig" schimmern, manchmal.
"Schöner als überall" ist erstaunlich abgeklärt, selbst die feministischen Duftmarken bleiben diskret und "weich von innen". Damals, im Sommer am Ende der Spielstraße, schien alles möglich. Jetzt sind alle Auswege mit Käsetheken, Carports und Alltagskram verbaut, aber das ist kein Grund zum Verzweifeln. Martin kehrt allein nach München zurück. Er hat jetzt keine Götter und Heiligen mehr, aber ein paar Freunde fürs Leben, und er weiß jetzt, was er will. Man muss keine Speere in den Baggersee werfen, um Kreise zu ziehen.
MARTIN HALTER
Kristin Höller: "Schöner als überall". Roman.
Suhrkamp Nova, Berlin 2019. 221 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[Kristin Höller] gelingt es, ihr literarisches Talent immer wieder in großartigen Szenen mit witzigen Dialogen auszuspielen ... In der Suche nach Antworten auf die großen Fragen lässt sie ihre Figuren sehr zart und weise auch ihr Scheitern eingestehen.« Antje Weber Süddeutsche Zeitung 20200424