Deutschland - ein Russen-Märchen: Niemandem gelingt es besser als Wladimir Kaminer, uns das eigene Land wie ein Panoptikum bemerkenswerter Menschen, merkwürdiger Schicksale und unerhörter Begebenheiten erscheinen zu lassen. Wer hätte beispielsweise vermutet, dass Einkaufen zum Abenteuer werden kann? Auf der Schönhauser Allee kann es das, dank einiger Vietnamesen die ohne Sprachkenntnisse und Zählvermögen den "Laden Lebensmittel" betreiben. Hier wird die Ware ungeachtet ihres Inhalts nach Verpackung sortiert und der Preis nach Größe festgelegt. Sollte den Besitzern bei dieser Methode einmal das Geld ausgehen, können sie ja im Spielsalon "Pure Freude", der von Erik betrieben wird, ihr Glück versuchen. Erik stammt aus Baku, war im früheren Leben Musiker und spielte in der ersten und letzten Heavy Metal Band der aserbeidschanischen Hauptstadt. Doch nicht nur im Spielsalon, überall kann man hier den unverhofften Glückstreffer landen. Ein überfüllter Müllcontainer entpuppt sich als letzte Ruhestätte einer Bibliothek, aus der es wahre Schätze zu bergen gilt. Vielleicht nicht den Ratgeber "Woher die kleinen Kinder kommen", ist es doch interessanter zu erfahren, wo die kleinen Kinder hingehen, wenn sie größer werden. Bedenkenswert sind allerdings die "Stilistischen Grundtendenzen in Lenins Sprache", die Seite an Seite mit der "Blechtrommel" und dem bang fragenden "Bin ich ein Verfassungsfeind?" zwischen Spinatresten verfallen. Ganz zu schweigen von russischer Lyrik inklusive Kriegspoem - guter Soldat, hübsche Strophen, alles gereimt. Wäre doch schade drum. Schade übrigens auch um das Restaurant, das bei dem Versuch, gebratenes Sushi zu kreieren, in Asche gelegt wurde. So ist eben immer etwas geboten auf den Straßen Berlins...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2002 DAS HÖRBUCH
Tosend
Wladimir Kaminer
liest „Schönhauser Allee”
Wladimir Kaminer lebt seit 1990 in Deutschland und schreibt erfolgreich deutsche Bücher über sein zuvor in Russland beobachtetes Leben sowie sein jetziges. Er wohnt nun an der Schönhauser Allee, einer breiten Straße, durch Autoverkehr, Straßenbahn und die auf dem Viadukt polternde U-Bahn weltstädtisches Leben vorgebend, in Wirklichkeit nur vom Transport mit Krach erfüllt.
Der Prenzlauer Berg ist in Mode und mit ihm seine Kiezliteraten. Die Symptome des städtischen Gärens beschäftigen auch Wladimir Kaminer. In seinen kleinen Texten über die Schönhauser Allee befasst er sich mit erlebten und ausgedachten vermeintlichen Skurrilitäten wie Büchern im Müllcontainer, Namen von Kindergärten, dem großen Kaufhaus und Silvesterknallern. Spaßtexte, in denen man nichts über die Schönhauser Allee und Unwichtiges über den Alltag des Autors erfährt.
Aber wer sich an den Lebensprotokollen der „Generation Golf” delektierte, wird auch mit denen der „Generation Sputnik” zufrieden sein.
Deren Schlichtheit entspricht die Inszenierung im Hörbuch. Kaminer sagt „Schönnhauserr Alleeje”. Sollte ausgerechnet dem Schriftsteller der deutsche Akzent so viel schwerer fallen als anderen Russen? Obacht, er spielt ohne Sorgfalt: Das Wort „Kaffee” beherrscht er, obwohl es sich um denselben Schlussvokal handelt.
Kaminer kann nach zwölf Jahren vermutlich akzentfrei Deutsch sprechen. Aber er denkt, dass wir Deutschen uns gerne über den Russen erheben, ihn am liebsten mögen als ein bisschen doof radebrechend, dabei aber bauernschlau unsere weggeworfenen Bücher kommentierend. Kaminer liest fast ohne Betonung. Lakonik aber wird nur zum künstlerischen Mittel, wenn Belangvolles unterbetont wird. Lakonisch nichts zu sagen, ist nur Geräusch, nichts sagend wie das Tosen auf der Schönhauser Allee.
MARTIN Z. SCHRÖDER
WLADIMIR KAMINER: Schönhauser Allee. Kurzgeschichten aus gleichnamigem Buch. Gelesen vom Autor. Random House Audio, Köln 2002. 1 CD, 75 Minuten, 14, 50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Tosend
Wladimir Kaminer
liest „Schönhauser Allee”
Wladimir Kaminer lebt seit 1990 in Deutschland und schreibt erfolgreich deutsche Bücher über sein zuvor in Russland beobachtetes Leben sowie sein jetziges. Er wohnt nun an der Schönhauser Allee, einer breiten Straße, durch Autoverkehr, Straßenbahn und die auf dem Viadukt polternde U-Bahn weltstädtisches Leben vorgebend, in Wirklichkeit nur vom Transport mit Krach erfüllt.
Der Prenzlauer Berg ist in Mode und mit ihm seine Kiezliteraten. Die Symptome des städtischen Gärens beschäftigen auch Wladimir Kaminer. In seinen kleinen Texten über die Schönhauser Allee befasst er sich mit erlebten und ausgedachten vermeintlichen Skurrilitäten wie Büchern im Müllcontainer, Namen von Kindergärten, dem großen Kaufhaus und Silvesterknallern. Spaßtexte, in denen man nichts über die Schönhauser Allee und Unwichtiges über den Alltag des Autors erfährt.
Aber wer sich an den Lebensprotokollen der „Generation Golf” delektierte, wird auch mit denen der „Generation Sputnik” zufrieden sein.
Deren Schlichtheit entspricht die Inszenierung im Hörbuch. Kaminer sagt „Schönnhauserr Alleeje”. Sollte ausgerechnet dem Schriftsteller der deutsche Akzent so viel schwerer fallen als anderen Russen? Obacht, er spielt ohne Sorgfalt: Das Wort „Kaffee” beherrscht er, obwohl es sich um denselben Schlussvokal handelt.
Kaminer kann nach zwölf Jahren vermutlich akzentfrei Deutsch sprechen. Aber er denkt, dass wir Deutschen uns gerne über den Russen erheben, ihn am liebsten mögen als ein bisschen doof radebrechend, dabei aber bauernschlau unsere weggeworfenen Bücher kommentierend. Kaminer liest fast ohne Betonung. Lakonik aber wird nur zum künstlerischen Mittel, wenn Belangvolles unterbetont wird. Lakonisch nichts zu sagen, ist nur Geräusch, nichts sagend wie das Tosen auf der Schönhauser Allee.
MARTIN Z. SCHRÖDER
WLADIMIR KAMINER: Schönhauser Allee. Kurzgeschichten aus gleichnamigem Buch. Gelesen vom Autor. Random House Audio, Köln 2002. 1 CD, 75 Minuten, 14, 50 Euro.
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"Kaminer gewinnt selbst den finstersten Typen noch etwas Sympthisches, selbst den tragischsten Situationen noch etwas Komisches ab." Münchner Merkur