Die Eine: eine Lyrikerin und Cover-Girl des Spiegels 1954. Der Andere: der »zornige junge Mann«, Netzwerker, zugleich Strippenzieher im Literaturbetrieb, dessen Lyrik-Karriere 1957 startet. Ingeborg Bachmann (Jahrgang 1926) und Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929) lernen sich im Oktober 1955 bei der Tagung der Gruppe 47 in Tübingen kennen. Nach einem erneuten Zusammentreffen anlässlich einer Gesprächsrunde zur Literaturkritik in Wuppertal im Oktober 1957 kommt es am 27. November 1957 zur ersten (brieflichen) Kontaktaufnahme: Die Initiative geht von Enzensberger aus. Danach setzt eine Korrespondenz ein, von der insgesamt 130 Stücke überliefert sind: 53 von Bachmann, 77 von Enzensberger.
Die beiden emblematischen Figuren, die Ikonen, der deutschen Nachkriegsliteratur tauschen sich aus über Literatur im Allgemeinen wie über deren Details, über eigene Vorhaben (kritischer wie großer Moment: die Debatten um das legendäre Böhmen liegt am Meer, dem von Bachmann publizierten Gedicht in Enzensbergers Kursbuch), reflektieren über das Zeitgeschehen, polemisieren gegen alles und halten sich mit ihrem Urteil auch über die lieben Kollegen nicht zurück. Dabei prallen die unterschiedlichen (Schreib-) Charaktere aufeinander: Auseinandersetzungen, die der eine pragmatisch-ironisch ausficht, die andere prinzipiell.
Der bisher unpublizierte und unbekannte Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger macht nacherlebbar, wie zwei der überragenden Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die Welt, die Literatur, den Betrieb, sondern auch sich selbst darstellen und gesehen werden wollen.
Die beiden emblematischen Figuren, die Ikonen, der deutschen Nachkriegsliteratur tauschen sich aus über Literatur im Allgemeinen wie über deren Details, über eigene Vorhaben (kritischer wie großer Moment: die Debatten um das legendäre Böhmen liegt am Meer, dem von Bachmann publizierten Gedicht in Enzensbergers Kursbuch), reflektieren über das Zeitgeschehen, polemisieren gegen alles und halten sich mit ihrem Urteil auch über die lieben Kollegen nicht zurück. Dabei prallen die unterschiedlichen (Schreib-) Charaktere aufeinander: Auseinandersetzungen, die der eine pragmatisch-ironisch ausficht, die andere prinzipiell.
Der bisher unpublizierte und unbekannte Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger macht nacherlebbar, wie zwei der überragenden Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die Welt, die Literatur, den Betrieb, sondern auch sich selbst darstellen und gesehen werden wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2018So wird aus diesen Schätzen schnödes Katzengold
Warum das Kursbuch entstanden ist: Im Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger suchen zwei entgegengesetzte Geister den Einklang
Auf dem Briefbogen eines texanischen Hotels schreibt der achtundzwanzigjährige Enzensberger aus dem norwegischen Stranda im November 1957 an die gebürtige Klagenfurterin Bachmann, die gerade von Rom nach München umgezogen ist. Dieser Anfang kennzeichnet den jetzt publizierten Briefwechsel der beiden Schriftsteller. Ständig wechselnde Aufenthaltsorte bringen es mit sich, dass darin ebenso häufig von geplanten oder verpassten Begegnungen die Rede ist wie von Buch- und Zeitschriftenprojekten und von der jeweiligen Gemütslage der Schreibenden.
Sowenig sesshaft die Briefpartner sind, ist ihr unstetes Leben doch von ganz unterschiedlicher Natur. Er ist ein Weltreisender, der unentwegt an Schriftstellertreffen und politischen Kongressen in aller Herren Ländern teilnimmt - ein agiler Akteur des Literaturbetriebs, vor dem er sich immer wieder in sein ländliches Refugium in Norwegen zurückzieht. Hingegen glaubt sie nicht an das einfache Leben, wie sie einmal bekennt. Seit sie mit 26 Jahren aus Wien aufbrach, ist sie immerzu auf der Suche nach einem Ort, an dem sie arbeiten, leben und atmen kann. Eine Unbehauste, die sich fast überall fremd fühlt: in Zürich, das für sie "von sympathischer Öde" ist, wie auch in Berlin, wo sie sich als "displaced person" empfindet. Ihr Vorhaben, in Italien eine Wohnstatt zu finden, benötigt vier Anläufe: den ersten beim wahlverwandten Künstlergeist Hans Werner Henze in Neapel, den dritten zusammen mit Max Frisch in Rom, was desaströs scheitert; dauerhafter gelingt es allein (das erste Mal 1953 bis 1958 und dann 1965 bis zum Tod 1973).
Als Enzensberger einige Monate in Italien lebt, tut er sich schwer, das zu sehen, was Bachmann in Rom sah und hörte. Erst durch ihre Augen kann er in seinem Aufenthalt ein "Geschenk der Götter" wahrnehmen, doch "sobald deine augen nicht mehr darauf ruhn, wird aus diesen schätzen das katzengold, das es vordem für mich war". Obwohl aus dem über ein Jahrzehnt geführten Briefwechsel zwei extrem unterschiedliche Persönlichkeiten hervortreten, zeugt er von überraschender Nähe - ganz ohne Nebentöne, geprägt von Offenheit, persönlichem Vertrauen und weit größeren Gemeinsamkeiten im literaturpolitischen Engagement, als die Klischeebilder von der "weltfernen Dichterin" und dem "enragierten Autor" es wollen. Die Offenheit verdankt sich der Tatsache, dass der um drei Jahre jüngere Enzensberger, anders als viele andere Schriftsteller-Kollegen, die intellektuelle Überlegenheit und das sichere Urteilsvermögen Bachmanns problemlos anerkennen, ja bewundern konnte, "denn du bist klüger als ich". Neidlos beneidet er sie um ihr Leben, "weil und soweit es eben ein schreibendes leben ist". Und er weiß ihre Fähigkeiten zu nutzen.
Nach zweimaligen Begegnungen (1955 bei der Gruppe 47, 1957 bei einem Seminar zur Literaturkritik) und etlichen gewechselten Briefen kommt es 1959, während Enzensbergers Aufenthalt in einem Haus außerhalb Roms, zu einem kurzen Sommer der Liebe - Enzensbergers Briefton wird poetisch; nach ihrer Abreise "steht die luft still", er fürchtet sich, denkt immerzu an sie und will mit ihr "die sieben himmel befliegen"; und sie ist glücklich über seine Briefe. Nach einer weiteren Begegnung bei der Gruppe 47 in Elmau wandeln sie ihren "Beziehungswahn" in Freundschaft um. Von nun an herrscht im Briefwechsel ein Grundton rhetorischer Gesten, mit denen sie sich ihrer Freundschaft, ihres Vertrauens und ihrer Zuneigung versichern, "schreibe bald das, was nicht in die zeitschrift gehört: nämlich wie dir zumute ist, damit wir einer des andern wieder versichern", so Enzensberger. "Ich bin Dir, auf diesem kalten Stern, immer zugetan", so Bachmann. Dies ist der Rahmen, in dem die gegensätzlichsten Haltungen zu Leben und Schreiben Platz haben und der intellektuelle Austausch stattfindet: über die je eigenen Arbeiten und über die Unternehmungen, zu denen Enzensberger Bachmann animiert: zu Beginn das Museum der modernen Poesie, am Ende das Kursbuch und zwischendrin ihre Ungaretti-Übersetzungen und das gemeinsame Engagement für das dreisprachige europäische Zeitschriftenprojekt "Gulliver".
Enzensbergers Briefe kommen eher leicht, oft ironisch, auch selbstironisch, daher: Seine Katastrophen hätten leichte Füße. Darauf kontert sie: "auch ohne Katastrophentalent und -neigung - wir kommen alle nicht heil raus." Während er mit 36 Jahren nahezu lakonisch resümiert, dass ihn nichts überzeugt von dem, was er gemacht hat, ist zwar auch Bachmann gegenüber den eigenen Produkten äußerst skrupulös. Doch dass sie mehr von dem, was sie schreibt, verwirft als veröffentlicht, liegt daran, dass sie höchste Ansprüche an sich stellt und weiß, dass sie das darf. Und sie weiß, was wirklich gelungen ist. Als sie ihm für das "Kursbuch" einige Gedichte zusammenstellt, erkennt sie in "Böhmen liegt am Meer" "das beste Gedicht, das ich je geschrieben habe". Zu Recht, es sind Verse, die ins Museum der modernen Poesie gehörten.
Diesen Titel trägt die Anthologie mit großen Gedichten der internationalen Moderne - von Baudelaire über Rimbaud, Mandelstam, Eliot, Rilke, Lorca bis Kaschnitz -, mit deren Plan Enzensberger sich zu Beginn des Briefwechsels an Bachmann wandte. Mit ihren Gedichtbänden "Die gestundete Zeit" (1953) und "Anrufung des Großen Bären" (1956) war sie da bereits bewunderte Dichterin; von ihm war gerade der erste Gedichtband "Verteidigung der Wölfe" erschienen. Für die Auswahl der Autoren und Gedichte setzt er auf ihre Belesenheit in der europäischen Literatur und bittet sie um die Übersetzung der Gedichte Ungarettis - woraus zudem die Idee für einen ganzen Band mit Bachmanns Übertragungen von Ungarettis Lyrik entsteht. Enzensberger kannte Bachmann bereits so gut, dass er sicher sein konnte, sein Programm würde bei ihr offene Ohren finden. Es ging um das neue Terrain einer Sprache der Poesie "jenseits aller ,richtungen', ,bewegungen', bis zu dem hohen grad sogar jenseits der nationalen zungen", um eine "koiné oder lingua franca", die man nur aus Verlegenheit modern getauft habe.
Ein solch kosmopolitisches Literaturverständnis, in dem das Besondere gerade jenseits nationalliterarischer Merkmale seinen Ort hat, verband beide Autoren, auch in ihrer inneren Reserve gegenüber der Gruppe 47. Nicht ganz so satirisch wie in der Korrespondenz mit Hildesheimer, aber doch auch ironisch kommentiert Bachmann die Gruppe 47 hier. Vor deren Zusammenkunft 1960 in Aschaffenburg freut sie sich vor allem auf ein Treffen mit Enzensberger am Vorabend in Frankfurt, "ehe uns Aschaffenburg zum Kinderglauben an die Literatur zwingt", und schlägt als Ort eine "Sansi-bar" vor, in Anspielung auf Alfred Anderschs Roman der sogenannten Aufarbeitungsliteratur, "Sansibar oder der letzte Grund" (1957). Als sie den Treffen der Gruppe 47 immer häufiger fernbleibt und auch die Reise zu deren Tagung in Princeton 1966 kurzfristig absagt, schickt er ihr einen ernüchternden Bericht. Sie solle nur froh sein, nicht gekommen zu sein; es sei öde gewesen, die Kritik dumm, die Texte schlecht, aber "noch mehr hat mich die vollkommene immunität dieser versammlung verstimmt, diese luftdichte beschränktheit, die unbegrenzt transportabel ist und nie merken wird, wo sie sich aufhält".
Dieser knappe Bericht ist gespickt mit präzisen Anspielungen. Denn die Gruppe tagte in der Tat hinter verschlossenen Türen und den dicken Marmormauern der nahezu fensterlosen Whig Hall, während auf dem Campus am selben Wochenende unter dem Titel "What's Happening: The Arts 1966" ein flirrendes Kulturfestival stattfand, an dem Persönlichkeiten wie Tom Wolfe oder Allen Ginsberg teilnahmen und Duke Ellington ein Konzert gab. All dies wurde von der Mehrheit der Gruppe ignoriert, die sich, auch wenn sie im Ausland tagte, als Forum der deutschen Literatur verstand. Leider erfahren die Leser der Edition nichts von solchen Hintergründen, da der Stellenkommentar nur die dürftigen Informationen bringt, die seit Jahrzehnten in den Annalen der Literaturgeschichte verzeichnet sind. Wie entstellend die sind und wie treffend dagegen Enzensbergers knapper Bericht, lässt sich leicht an der Rekonstruktion des Treffens durch das German Department der Princeton University anhand der wiederaufgefundenen Ton-Aufzeichnungen des Treffens feststellen.
Die Edition ergänzt die 185 Seiten Brieftext um einen umfangreichen Kommentar und ein siebzigseitiges Nachwort, in dem lange Briefpassagen und vieles aus den Kommentaren nochmals auftaucht. Zwar erläutert der Stellenkommentar sämtliche Namen und Titel in wikipediaähnlichen biographischen Einträgen, da heute mit Lesern zu rechnen ist, die mit Namen wie Hermann Kesten nichts mehr anfangen können. Dagegen befremdet es, dass die Forschung nur selektiv herangezogen wird. Das ist besonders ärgerlich im Blick auf die literaturgeschichtlich interessanten Passagen des Briefwechsels, auch im Falle des Zeitschriftenprojekts "Gulliver", für das sich Enzensberger und Bachmann jahrelang engagiert haben. Die dreisprachige europäische Zeitschrift sollte aus der Zusammenarbeit dreier Redaktionsgruppen aus Italien, Frankreich und Deutschland entstehen. Beteiligt waren Autoren wie Blanchot, Nadeau, Butor, Robbe-Grillet und andere; auf deutscher Seite war erst Enzensberger die treibende Kraft, dann übernahm Uwe Johnson die Redaktion. Es gab etliche Redaktionstreffen, bis das Unternehmen an den Kontroversen über die vorliegenden Texte der ersten Nummer scheiterte, speziell an der deutschen Kritik am Stil der französischen Texte.
Noch steht eine Gesamtdarstellung dieses Zeitschriftenprojekts aus, aus dem ein kulturelles Medium im Prozess der Europäisierung hätte werden können. Im Briefwechsel von Bachmann und Enzensberger taucht die Idee erstmals 1961 auf; es folgen etliche Briefe, in denen von Redaktionstreffen und Gesprächen mit einzelnen Protagonisten berichtet wird und die entstandenen Probleme erörtert werden; besonders aufschlussreich ist Bachmanns Brief, in dem sie von der letzten Sitzung im April 1963 in Paris berichtet, und der resümierende Rundbrief Enzensbergers vom Mai 1963, in dem er das Scheitern als vorläufig interpretiert. Darin tritt er als Realpolitiker des Literaturbetriebs auf und unterbreitet Vorschläge für einen neuen Versuch mit längerem Atem.
Eine Konsequenz aus dem Scheitern war die Gründung des "Kursbuchs"; von der Idee spricht Enzensberger erstmals Mitte 1964. Die Vorgeschichte zur Veröffentlichung von Bachmanns Gedichten 1968 in der fünfzehnten "Kursbuch"-Ausgabe durchzieht den Briefwechsel zwei Jahre lang; hier zeigt Bachmann sich als Künstlerin des Zögerns und Versprechens, während Enzensberger so sanft wie beharrlich die Sendung einfordert und ihre anfänglichen Bedenken zerstreut, "dass man eben keine Gedichte zwischen Vietnam und Südamerika unterbringen kann". Es sind weniger politische Bedenken, denn im Mai 1968 schreibt sie: "vor Kulturrevolution hab ich wirklich keine Angst." Sie sorgt sich vielmehr um den Ort der Literatur in der Achtundsechziger-Bewegung; das belegt auch ihre Reaktion auf Karl Markus Michels Artikel "Ein Kranz für die Literatur" im selben Heft, in der sie bedauert, dass ihr Gedicht "Keine Delikatessen" geradewegs "in die Kerbe schlägt, die sie gerade erst erfunden haben, das wollte ich nicht".
SIGRID WEIGEL
Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger: "Schreib alles was wahr ist auf". Briefe.
Piper Verlag/Suhrkamp Verlag, München/Berlin 2018. 479 S., geb., 44,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum das Kursbuch entstanden ist: Im Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger suchen zwei entgegengesetzte Geister den Einklang
Auf dem Briefbogen eines texanischen Hotels schreibt der achtundzwanzigjährige Enzensberger aus dem norwegischen Stranda im November 1957 an die gebürtige Klagenfurterin Bachmann, die gerade von Rom nach München umgezogen ist. Dieser Anfang kennzeichnet den jetzt publizierten Briefwechsel der beiden Schriftsteller. Ständig wechselnde Aufenthaltsorte bringen es mit sich, dass darin ebenso häufig von geplanten oder verpassten Begegnungen die Rede ist wie von Buch- und Zeitschriftenprojekten und von der jeweiligen Gemütslage der Schreibenden.
Sowenig sesshaft die Briefpartner sind, ist ihr unstetes Leben doch von ganz unterschiedlicher Natur. Er ist ein Weltreisender, der unentwegt an Schriftstellertreffen und politischen Kongressen in aller Herren Ländern teilnimmt - ein agiler Akteur des Literaturbetriebs, vor dem er sich immer wieder in sein ländliches Refugium in Norwegen zurückzieht. Hingegen glaubt sie nicht an das einfache Leben, wie sie einmal bekennt. Seit sie mit 26 Jahren aus Wien aufbrach, ist sie immerzu auf der Suche nach einem Ort, an dem sie arbeiten, leben und atmen kann. Eine Unbehauste, die sich fast überall fremd fühlt: in Zürich, das für sie "von sympathischer Öde" ist, wie auch in Berlin, wo sie sich als "displaced person" empfindet. Ihr Vorhaben, in Italien eine Wohnstatt zu finden, benötigt vier Anläufe: den ersten beim wahlverwandten Künstlergeist Hans Werner Henze in Neapel, den dritten zusammen mit Max Frisch in Rom, was desaströs scheitert; dauerhafter gelingt es allein (das erste Mal 1953 bis 1958 und dann 1965 bis zum Tod 1973).
Als Enzensberger einige Monate in Italien lebt, tut er sich schwer, das zu sehen, was Bachmann in Rom sah und hörte. Erst durch ihre Augen kann er in seinem Aufenthalt ein "Geschenk der Götter" wahrnehmen, doch "sobald deine augen nicht mehr darauf ruhn, wird aus diesen schätzen das katzengold, das es vordem für mich war". Obwohl aus dem über ein Jahrzehnt geführten Briefwechsel zwei extrem unterschiedliche Persönlichkeiten hervortreten, zeugt er von überraschender Nähe - ganz ohne Nebentöne, geprägt von Offenheit, persönlichem Vertrauen und weit größeren Gemeinsamkeiten im literaturpolitischen Engagement, als die Klischeebilder von der "weltfernen Dichterin" und dem "enragierten Autor" es wollen. Die Offenheit verdankt sich der Tatsache, dass der um drei Jahre jüngere Enzensberger, anders als viele andere Schriftsteller-Kollegen, die intellektuelle Überlegenheit und das sichere Urteilsvermögen Bachmanns problemlos anerkennen, ja bewundern konnte, "denn du bist klüger als ich". Neidlos beneidet er sie um ihr Leben, "weil und soweit es eben ein schreibendes leben ist". Und er weiß ihre Fähigkeiten zu nutzen.
Nach zweimaligen Begegnungen (1955 bei der Gruppe 47, 1957 bei einem Seminar zur Literaturkritik) und etlichen gewechselten Briefen kommt es 1959, während Enzensbergers Aufenthalt in einem Haus außerhalb Roms, zu einem kurzen Sommer der Liebe - Enzensbergers Briefton wird poetisch; nach ihrer Abreise "steht die luft still", er fürchtet sich, denkt immerzu an sie und will mit ihr "die sieben himmel befliegen"; und sie ist glücklich über seine Briefe. Nach einer weiteren Begegnung bei der Gruppe 47 in Elmau wandeln sie ihren "Beziehungswahn" in Freundschaft um. Von nun an herrscht im Briefwechsel ein Grundton rhetorischer Gesten, mit denen sie sich ihrer Freundschaft, ihres Vertrauens und ihrer Zuneigung versichern, "schreibe bald das, was nicht in die zeitschrift gehört: nämlich wie dir zumute ist, damit wir einer des andern wieder versichern", so Enzensberger. "Ich bin Dir, auf diesem kalten Stern, immer zugetan", so Bachmann. Dies ist der Rahmen, in dem die gegensätzlichsten Haltungen zu Leben und Schreiben Platz haben und der intellektuelle Austausch stattfindet: über die je eigenen Arbeiten und über die Unternehmungen, zu denen Enzensberger Bachmann animiert: zu Beginn das Museum der modernen Poesie, am Ende das Kursbuch und zwischendrin ihre Ungaretti-Übersetzungen und das gemeinsame Engagement für das dreisprachige europäische Zeitschriftenprojekt "Gulliver".
Enzensbergers Briefe kommen eher leicht, oft ironisch, auch selbstironisch, daher: Seine Katastrophen hätten leichte Füße. Darauf kontert sie: "auch ohne Katastrophentalent und -neigung - wir kommen alle nicht heil raus." Während er mit 36 Jahren nahezu lakonisch resümiert, dass ihn nichts überzeugt von dem, was er gemacht hat, ist zwar auch Bachmann gegenüber den eigenen Produkten äußerst skrupulös. Doch dass sie mehr von dem, was sie schreibt, verwirft als veröffentlicht, liegt daran, dass sie höchste Ansprüche an sich stellt und weiß, dass sie das darf. Und sie weiß, was wirklich gelungen ist. Als sie ihm für das "Kursbuch" einige Gedichte zusammenstellt, erkennt sie in "Böhmen liegt am Meer" "das beste Gedicht, das ich je geschrieben habe". Zu Recht, es sind Verse, die ins Museum der modernen Poesie gehörten.
Diesen Titel trägt die Anthologie mit großen Gedichten der internationalen Moderne - von Baudelaire über Rimbaud, Mandelstam, Eliot, Rilke, Lorca bis Kaschnitz -, mit deren Plan Enzensberger sich zu Beginn des Briefwechsels an Bachmann wandte. Mit ihren Gedichtbänden "Die gestundete Zeit" (1953) und "Anrufung des Großen Bären" (1956) war sie da bereits bewunderte Dichterin; von ihm war gerade der erste Gedichtband "Verteidigung der Wölfe" erschienen. Für die Auswahl der Autoren und Gedichte setzt er auf ihre Belesenheit in der europäischen Literatur und bittet sie um die Übersetzung der Gedichte Ungarettis - woraus zudem die Idee für einen ganzen Band mit Bachmanns Übertragungen von Ungarettis Lyrik entsteht. Enzensberger kannte Bachmann bereits so gut, dass er sicher sein konnte, sein Programm würde bei ihr offene Ohren finden. Es ging um das neue Terrain einer Sprache der Poesie "jenseits aller ,richtungen', ,bewegungen', bis zu dem hohen grad sogar jenseits der nationalen zungen", um eine "koiné oder lingua franca", die man nur aus Verlegenheit modern getauft habe.
Ein solch kosmopolitisches Literaturverständnis, in dem das Besondere gerade jenseits nationalliterarischer Merkmale seinen Ort hat, verband beide Autoren, auch in ihrer inneren Reserve gegenüber der Gruppe 47. Nicht ganz so satirisch wie in der Korrespondenz mit Hildesheimer, aber doch auch ironisch kommentiert Bachmann die Gruppe 47 hier. Vor deren Zusammenkunft 1960 in Aschaffenburg freut sie sich vor allem auf ein Treffen mit Enzensberger am Vorabend in Frankfurt, "ehe uns Aschaffenburg zum Kinderglauben an die Literatur zwingt", und schlägt als Ort eine "Sansi-bar" vor, in Anspielung auf Alfred Anderschs Roman der sogenannten Aufarbeitungsliteratur, "Sansibar oder der letzte Grund" (1957). Als sie den Treffen der Gruppe 47 immer häufiger fernbleibt und auch die Reise zu deren Tagung in Princeton 1966 kurzfristig absagt, schickt er ihr einen ernüchternden Bericht. Sie solle nur froh sein, nicht gekommen zu sein; es sei öde gewesen, die Kritik dumm, die Texte schlecht, aber "noch mehr hat mich die vollkommene immunität dieser versammlung verstimmt, diese luftdichte beschränktheit, die unbegrenzt transportabel ist und nie merken wird, wo sie sich aufhält".
Dieser knappe Bericht ist gespickt mit präzisen Anspielungen. Denn die Gruppe tagte in der Tat hinter verschlossenen Türen und den dicken Marmormauern der nahezu fensterlosen Whig Hall, während auf dem Campus am selben Wochenende unter dem Titel "What's Happening: The Arts 1966" ein flirrendes Kulturfestival stattfand, an dem Persönlichkeiten wie Tom Wolfe oder Allen Ginsberg teilnahmen und Duke Ellington ein Konzert gab. All dies wurde von der Mehrheit der Gruppe ignoriert, die sich, auch wenn sie im Ausland tagte, als Forum der deutschen Literatur verstand. Leider erfahren die Leser der Edition nichts von solchen Hintergründen, da der Stellenkommentar nur die dürftigen Informationen bringt, die seit Jahrzehnten in den Annalen der Literaturgeschichte verzeichnet sind. Wie entstellend die sind und wie treffend dagegen Enzensbergers knapper Bericht, lässt sich leicht an der Rekonstruktion des Treffens durch das German Department der Princeton University anhand der wiederaufgefundenen Ton-Aufzeichnungen des Treffens feststellen.
Die Edition ergänzt die 185 Seiten Brieftext um einen umfangreichen Kommentar und ein siebzigseitiges Nachwort, in dem lange Briefpassagen und vieles aus den Kommentaren nochmals auftaucht. Zwar erläutert der Stellenkommentar sämtliche Namen und Titel in wikipediaähnlichen biographischen Einträgen, da heute mit Lesern zu rechnen ist, die mit Namen wie Hermann Kesten nichts mehr anfangen können. Dagegen befremdet es, dass die Forschung nur selektiv herangezogen wird. Das ist besonders ärgerlich im Blick auf die literaturgeschichtlich interessanten Passagen des Briefwechsels, auch im Falle des Zeitschriftenprojekts "Gulliver", für das sich Enzensberger und Bachmann jahrelang engagiert haben. Die dreisprachige europäische Zeitschrift sollte aus der Zusammenarbeit dreier Redaktionsgruppen aus Italien, Frankreich und Deutschland entstehen. Beteiligt waren Autoren wie Blanchot, Nadeau, Butor, Robbe-Grillet und andere; auf deutscher Seite war erst Enzensberger die treibende Kraft, dann übernahm Uwe Johnson die Redaktion. Es gab etliche Redaktionstreffen, bis das Unternehmen an den Kontroversen über die vorliegenden Texte der ersten Nummer scheiterte, speziell an der deutschen Kritik am Stil der französischen Texte.
Noch steht eine Gesamtdarstellung dieses Zeitschriftenprojekts aus, aus dem ein kulturelles Medium im Prozess der Europäisierung hätte werden können. Im Briefwechsel von Bachmann und Enzensberger taucht die Idee erstmals 1961 auf; es folgen etliche Briefe, in denen von Redaktionstreffen und Gesprächen mit einzelnen Protagonisten berichtet wird und die entstandenen Probleme erörtert werden; besonders aufschlussreich ist Bachmanns Brief, in dem sie von der letzten Sitzung im April 1963 in Paris berichtet, und der resümierende Rundbrief Enzensbergers vom Mai 1963, in dem er das Scheitern als vorläufig interpretiert. Darin tritt er als Realpolitiker des Literaturbetriebs auf und unterbreitet Vorschläge für einen neuen Versuch mit längerem Atem.
Eine Konsequenz aus dem Scheitern war die Gründung des "Kursbuchs"; von der Idee spricht Enzensberger erstmals Mitte 1964. Die Vorgeschichte zur Veröffentlichung von Bachmanns Gedichten 1968 in der fünfzehnten "Kursbuch"-Ausgabe durchzieht den Briefwechsel zwei Jahre lang; hier zeigt Bachmann sich als Künstlerin des Zögerns und Versprechens, während Enzensberger so sanft wie beharrlich die Sendung einfordert und ihre anfänglichen Bedenken zerstreut, "dass man eben keine Gedichte zwischen Vietnam und Südamerika unterbringen kann". Es sind weniger politische Bedenken, denn im Mai 1968 schreibt sie: "vor Kulturrevolution hab ich wirklich keine Angst." Sie sorgt sich vielmehr um den Ort der Literatur in der Achtundsechziger-Bewegung; das belegt auch ihre Reaktion auf Karl Markus Michels Artikel "Ein Kranz für die Literatur" im selben Heft, in der sie bedauert, dass ihr Gedicht "Keine Delikatessen" geradewegs "in die Kerbe schlägt, die sie gerade erst erfunden haben, das wollte ich nicht".
SIGRID WEIGEL
Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger: "Schreib alles was wahr ist auf". Briefe.
Piper Verlag/Suhrkamp Verlag, München/Berlin 2018. 479 S., geb., 44,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Katharina Teutsch hört es knistern in dem bisher unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger. Über den "summer of love" der beiden Schriftsteller in Rom 1959 liest sie allerdings nichts Explizites. Dafür schreibt man sich über Aufenthaltsorte, Freunde, Lesungen und Projekte, baut die Gegensätze aus, um dann wieder intellektuelle Augenhöhe erkennen zu lassen und arbeitet an der Lebensfreundschaft. Tief Menschlichem, Dunklem und Verspieltem sowie dem Scheitern der Utopie einer europäischen Literatur kann Teutsch beiwohnen und auch den spannenden Anfängen des "Kursbuch".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Eine anregende, informative Nord-Süd-Korrespondenz ist das ... Dieser bislang unbekannte Briefwechsel führt mitten hinein in die Nachkriegsgeschichte der deutschsprachigen Literatur. Die Portokosten haben sich allemal rentiert.« Martin Oehlen Frankfurter Rundschau 20181114