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Dieser Band präsentiert erstmals den zwischen 1939 und 1975 geführten Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Günther Anders sowie gemeinsam verfasste oder in thematischer Nähe zueinander entstandene Texte. Diese erhellen die persönliche und intellektuelle Beziehung des einstigen Paares und werfen auch Schlaglichter auf Zeitgenossen wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno oder Martin Heidegger. Nicht zuletzt dokumentiert der Band die Vertreibung, Flucht und Emigration zweier jüdischer Intellektueller aus Deutschland. "SIND GERETTET WOHNEN 317 WEST 95 = HANNAH": Dieses Telegramm schrieb Hannah…mehr

Produktbeschreibung
Dieser Band präsentiert erstmals den zwischen 1939 und 1975 geführten Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Günther Anders sowie gemeinsam verfasste oder in thematischer Nähe zueinander entstandene Texte. Diese erhellen die persönliche und intellektuelle Beziehung des einstigen Paares und werfen auch Schlaglichter auf Zeitgenossen wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno oder Martin Heidegger. Nicht zuletzt dokumentiert der Band die Vertreibung, Flucht und Emigration zweier jüdischer Intellektueller aus Deutschland.
"SIND GERETTET WOHNEN 317 WEST 95 = HANNAH": Dieses Telegramm schrieb Hannah Arendt im Mai 1941 aus New York an ihren Ex-Mann in Hollywood. Günther Anders, der bereits 1936 in die USA emigriert war, hatte Arendt und ihre Familie bei der Flucht aus Europa mit Geldsendungen und den notwendigen Einreisepapieren unterstützt. Die Ehe der beiden war 1937 auf dem Postweg zwischen den Kontinenten geschieden worden. Während Arendt bis zu ihrem Tod in New York lebte, kehrte Anders 1950 nach Europa zurück und ließ sich in Wien nieder. Bei allen Unterschieden ihrer philosophischen Themen und Theorien blieb für Arendt und Anders gleichermaßen die Erfahrung des Antisemitismus und der Flucht Hintergrund und Movens ihres Schreibens.

Autorenporträt
Hannah Arendt (1906 - 1975) und Günther Anders (1902 - 1992) lernten sich 1925 in einem Seminar Martin Heideggers kennen und waren von 1929 bis 1937 miteinander verheiratet. Beide zählen zu den bedeutendsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Das Hauptwerk der streitbaren politischen Theoretikerin ist Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das des "wahrscheinlich schärfsten und luzidesten Kritikers der technischen Welt" (Jean Améry) Die Antiquiertheit des Menschen.

Kerstin Putz studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Wien und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an Forschungsprojekten zum Nachlass von Günther Anders am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Jörg Magenau gibt zu, dass die Briefe zwischen Hanna Arendt und Günther Anders auf den ersten Blick nicht allzu viel hergeben. Historische Dokumente allenfalls, meint er, die eine Liebes- und Arbeitsbeziehunug wiedergeben, in der Martin Heidegger im Hintergrund spukt, lückenhaft zumal und oft nur um das Kontakthalten kreisend. Interessanter erscheinen Magenau die Kommentare der Herausgeberin und die beigegebenen Aufsätze von Anders/Arendt. Vor allem ein Essay über Rilkes Duineser Elegien hat es ihm angetan. Wie Arendt anhand von Rilkes Text ein eigenes Manifest der Liebe entwickelt und wie dieses Konzept sich in den Briefen nachvollziehen lässt, das macht die Lektüre für Magenau dann doch spannend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2016

Antiquiertheit des Paarwesens
„Die einzige Frage, die sich stellt, ist, wie man überlebt“: Der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Günther Anders
Für sich gewonnen habe er Hannah Arendt 1929 bei einem Maskenball in Berlin, als er beim Tanzen die Bemerkung machte, „dass Lieben derjenige Akt sei, durch den man etwas Aposteriorisches: den zufällig getroffenen Anderen, in ein Apriori des eigenen Lebens verwandle.“ Bestätigt habe sich diese schöne Formel dann aber leider nicht. So kann man die flüchtige Liebe zwischen zwei Philosophen natürlich auch zusammenfassen. Fürs Apriori hat es halt nicht ganz gereicht.
  Von 1929 bis 1937 waren Hannah Arendt und Günther Stern, der sich dann bald Günther Anders nannte, verheiratet. Berühmt wurden beide viel später: er mit dem Ende der Fünfzigerjahre erschienenen, technik- und kulturkritischen Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“; sie als politische Publizistin mit ihrer Berichterstattung vom Eichmann-Prozess und der Erkundung der „Banalität des Bösen“. Kennengelernt hatten sie sich 1925 in Marburg, im Seminar von Martin Heidegger. Doch da war die neunzehnjährige Hannah Arendt noch in ein heimliches Liebesverhältnis mit ihrem Lehrer verstrickt und hatte keine Augen für Anders. Erst vier Jahre später, beim Wiedersehen, fiel er ihr auf. Doch auch in dieser Liebes- und Arbeitsbeziehung blieb Heidegger präsent: Seine Ontologie war gewissermaßen der Boden, auf dem die beiden sich im Denken begegneten.
  Der Briefwechsel, der nun aus den Nachlässen veröffentlicht wird, gibt davon keine Kunde. Er setzt erst 1939 ein, zwei Jahre nach der Scheidung des Paares, und reicht zwar bis 1975, ins Todesjahr von Hannah Arendt, doch die Lücken sind größer als die Kontinuitäten, und das Mitgeteilte ist häufig nur ein tastendes Kontakthalten über wachsende Entfremdung hinweg. Der erste Zeitraum reicht von 1939 bis 1941. Er besteht nur aus Briefen von Arendt, und auch die sind unvollständig. Das hat mit den Bedingungen von Flucht und Exil zu tun, die nicht dazu geeignet waren, Korrespondenzen zu archivieren. Anders hielt sich 1939 bereits in den USA auf, Arendt lebte zusammen mit ihrer Mutter und ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher in Paris und bemühte sich verzweifelt, Geld und Visa für die Überfahrt nach New York aufzutreiben. Anders unterstützte sie darin von Amerika aus. Ohne seine Hilfe wäre die Flucht wohl nicht gelungen.
  Arendts Briefe aus dieser Zeit sind ganz den Daseinsnöten gewidmet, mal verzagt, mal euphorisch im Ton und auf rührende Weise mädchenhaft verwirrt und lebenshungrig. Als Deutsch-Jüdin gehörte sie in Frankreich zu den Menschen, „die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden“, so ihre Diagnose. Fünf Wochen lang war sie im Lager Gurs interniert. „Die einzige Frage, die sich stellt, ist, wie man überlebt“, notierte sie dazu. In der Beschreibung des Lageralltags, der Hoffnungen, der Lügen, des Elends und der Träume bewährte sich bereits ihr nüchterner, präziser Blick.
  Philosophische Arbeit war auch nach der Ankunft in New York nicht möglich. Geldnöte, Englisch lernen und Sorge um die in Europa Zurückgebliebenen bestimmten jetzt den Alltag. Sie habe „abscheulich zu tun“ und würde doch „sooo gerne faul sein“, schrieb sie an Anders, den sie „mein lieber Junge“ nannte. Ihren Ehemann Heinrich Blücher dimmte sie zum „Monsieur“ herunter, den sie zur Not auch mal „in den Schrank hängen“ konnte. Günther Anders war ihr noch immer ein Vertrauter und ein Freund, ein Gesprächspartner war er nicht mehr – jedenfalls nicht in diesen Briefen.
  Zum Bruch kam es 1941 wegen Walter Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Benjamin, mit dem beide in Paris befreundet waren, hatte Arendt das Manuskript kurz vor seinem Tod überlassen, sie gab es an das Institut für Sozialforschung weiter, so wie er sich das gewünscht hatte. Doch Theodor W. Adorno konnte nichts damit anfangen und verschleppte die Veröffentlichung – wie überhaupt Adorno in diesen Briefen eine wenig schmeichelhafte Rolle spielt. Arendt erlebte ihn immer wieder als missgünstigen Gegenspieler, und Anders schilderte ihn 1958 als „Glatzengreis mit Knopfaugen, grauslicher denn je“. 1941 aber schlug er sich auf dessen Seite und muss seine Ablehnung der Benjamin-Thesen auch Arendt mitgeteilt haben. Leider ist sein „Unglücksbrief“, von dem Arendt sprach, nicht erhalten. Für sie war das ein klarer Bruch der Loyalität gegenüber dem toten Freund.
  So richtig scheint sich das Verhältnis der beiden davon nicht mehr erholt zu haben. Zwar schicken sie sich ab 1955 dann noch gelegentlich ihre Bücher und Manuskripte, doch zu einem echten Austausch oder Gespräch kommt es nicht mehr. Zahlreiche Briefe kreisen bloß um die Frage, wann und wo man sich wiedersehen könnte, wenn Arendt mal wieder zu einer Europareise aufbrach und so in die Nähe von Anders kam, der nach dem Krieg nach Wien zurückgekehrt war. Meistens scheitern die halbherzigen Bemühungen; nur zweimal gelang ein Treffen. Das letzte, kurz vor ihrem Tod 1975, empfand Arendt als „Desaster“. Da war sie nur noch entsetzt über den Zustand des alten Freundes.
  Die Briefe geben also nicht sehr viel her. Sie sind eher als historische Dokumente interessant. Das hat wohl auch die Herausgeberin Kerstin Putz gespürt, die den Band nicht nur mit einem instruktiven Nachwort und Kommentaren bereichert hat, sondern ihm auch einige Aufsätze von Anders und Arendt hinzufügte: Zum einen ihrer beider Auseinandersetzung mit dem Soziologen Karl Mannheim, die zu einer Verteidigung des Absolutheitsanspruchs der Philosophie geriet – oder vielmehr des heideggerisch gedachten „Seins“ gegenüber der alles Denken auf gesellschaftliche Zustände herunterbrechenden Soziologie und Geschichtswissenschaft. Historisches Denken ist doch selbst historisch und muss seinen historischen Ort reflektieren – so die trickreiche Volte von Anders.
  Wirklich überraschend aber ist ein Essay über Rilkes Duineser Elegien, den die beiden 1930 als junges Paar gemeinsam verfassten. Rilkes 1923 erschienener Gedichtzyklus war da noch frisch und ungedeutet, und er bot Material genug, um sich daran ein eigenes Manifest der Liebe zu erarbeiten. Da ist wohl eher die Handschrift Arendts zu erkennen; Anders möchte im Rückblick aus dem Jahr 1981 mit diesem Text gar nichts zu tun gehabt haben; er sei doch immer Agnostiker gewesen und habe Arendts „zwar nicht ausgesprochen religiöse aber auch nicht irreligiöse Position“ schon damals keineswegs geteilt. Arendt aber zielt mit Rilke über die Paarbeziehung hinaus und entwirft eine Perspektive, in der es nicht auf den konkreten Anderen als Geliebten ankommt, sondern auf das „In-der-Liebe-Sein“ selbst, auf die Erweiterung des Horizonts aus der eigenen Verlassenheit heraus.
  „Liebe ist desto liebender“, schreibt sie und trifft Rilke damit sehr genau, „je weniger sie gestillt ist; will sie sich stillen lassen, so flüchtet sie sich vor der Verlassenheit ihrer eigenen Liebe in den sicheren Schutz des Geliebtwerdens.“ Das war auch als Denkerin ihr Ausgangspunkt. „Das Überspringen der geliebten Person zugunsten einer Transzendenz“ ist die eine Bewegung, die sich in diesem Briefwechsel untergründig vollzieht. Die andere ist das Geworfensein in die Zeitgeschichte, die Antwort auf die Herausforderungen des Krieges und des Überlebens im Exil.
  So wird Transzendenz und Geschichte – das Spannungsfeld der Ontologie – auch zum unausgesprochenen Spannungsbogen dieser Briefe. Das macht diesen kleinen Band dann doch zu einer aufregenden Lektüre.
JÖRG MAGENAU
Von 1929 bis 1937 waren sie
verheiratet, ihre Korrespondenz
setzt zwei Jahre später ein
1930 verfassten sie gemeinsam
einen Essay über Rilkes
„Duineser Elegien“
  
Hannah Arendt, Günther Anders: Schreib doch mal hard facts über dich. Briefe 1939 bis 1975. Texte und Dokumente. Hrsg. von Kerstin Putz. Verlag C.H.Beck, München 2016. 286 Seiten, 29,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016

Deine Ideen kann ich sehr gut gebrauchen

Bekenntnis zum Selberdenken: Der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Günther Anders in den Jahren 1939 bis 1975.

Von Marie Luise Knott

Das Wichtigste vorweg: Günther Anders, eigentlich Günther Stern, hat 1941 seiner Ex-Frau Hannah Arendt auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben gerettet. Er, der von 1929 bis 1937 mit ihr verheiratet war, aber - schon getrennt von ihr - bereits 1936 in die Vereinigten Staaten emigriert war, hatte aus dem fernen Hollywood, wo er sich als Gelegenheitsarbeiter durchschlug, für Hannah Arendt, ihre Mutter sowie für ihren zweiten Ehemann, Heinrich Blücher, die Affidavits (Bürgschaften) gestellt. "Sind gerettet", telegrafiert Arendt am 23. Mai 1941. - Nun erschien der Briefwechsel zwischen diesen beiden großen deutsch-jüdischen Geistern, die beide im Exil bewahrten und aufbereiteten, was nach dem Krieg hüben wie drüben dem Denken zur sogenannten zweiten Aufklärung verhalf.

Briefe sind der Ort der aufgeschobenen und gleichzeitig erwarteten Begegnung: Im "messianischen Moment" des Briefes werde das individuelle Dasein Schrift, beschrieb Gershom Scholem einmal das Wagnis dieser Form zwischenmenschlicher Offenbarung. Tatsächlich ist in den von Kerstin Putz edierten Briefen anfangs viel vom Retten der gemeinsamen Freunde und später viel vom aufgeschobenen Wiedersehen die Rede. Doch die Korrespondenz hat sich in den Nachlässen leider nur rudimentär erhalten: kein Brief aus der Vorkriegszeit in Europa; die zweiundzwanzig Briefe aus den Jahren 1939 - 1941 stammen zumeist von Arendt, die folgenden fünfundzwanzig Briefe, 1955 - 1961, mehrheitlich von Anders. Der Begegnung von 1961 folgt ein neunjähriges Schweigen, bevor nach 1970 wieder Briefe hin und her gehen. Hinzu kommt, Fluch jeder Briefedition, dass Arendt und Anders zeitweise wohl recht regelmäßig miteinander telefonierten.

Auch "messianische Momente" gibt es in den Briefen. Etwa wenn Arendt sich vom amerikanischen Pragmatismus distanziert oder Günther Anders sich 1958 über die Diktatur des Ausrufezeichens empört: "Das Protestieren ist das Beten von heute: inhärenter Aktionsverzicht." Oder wenn Arendt schreibt: "Erstaunlich, wie viel besser die Menschen hier werden, wenn sie provisorischerweise mal keine Angst haben."

Doch weil die Briefe nicht so recht enthüllen, was die beiden bedeutenden politisch-philosophischen Denker ihrer Zeit tatsächlich denkend und fühlend verband, hat die Herausgeberin Kerstin Putz dem schmalen Briefkonvolut weitere Texte und Dokumente beigesellt, darunter den 1930 gemeinsam verfassten Essay über Rilkes "Duineser Elegien" ebenso wie zwei Besprechungen zu Karl Mannheims "Ideologie und Utopie" (ebenfalls 1930). Diese wirken heute sprachlich und gedanklich wie aus ferner Vorzeit, es heideggert und rilket darin, doch sie bezeugen, in welchem Maße die Anfänge der Beziehung zwischen den beiden von philosophischen Debatten durchtränkt waren. Gemeinsam lasen Arendt und Stern nicht nur Rilke und Mannheim, sondern auch Kant und Hitlers "Mein Kampf", und auch wenn sie bereits in Berlin viele getrennte Wege gingen, gab es zahllose Debatten, nicht zuletzt über Weltoffenheit und das mögliche aneinander Vorbeiexistieren der Monaden in ihr. Kein Wunder, dass Günther Stern auf einem Maskenball 1929 Hannah Arendt durch einen Aphorismus über die Liebe für sich gewann.

Auch Heideggers "Unterschlagung" (Anders) der Gebürtigkeit des Menschen muss früh Thema zwischen ihnen gewesen sein. Ob hier Arendts Natalitäts-Theorie ihren Ausgang nahm? Ob Rilkes Beschwörung eines welt-verdrängenden "Tun ohne Bild" aus der neunten Elegie von heute aus als Präludium gelesen werden muss - sowohl zu Arendts Kritik von Eichmanns Gedankenlosigkeit (dass er sich nicht vorstellte, was er anstellte) als auch zu Günther Anders' Atomkraft-Warnung, dass wir längst mehr können, als wir uns vorstellen können?

Beide Korrespondenten haben die Werke des anderen offensichtlich gelesen und wohl lange auch geschätzt. "Ja, lass mich mal lieber auf Deiner mailing list, ich habe Dich dafür auch schmunzelnd in der Human Condition zitiert", schrieb Arendt 1960; kurz vorher hatte Anders Arendts Arbeits-Kapitel in "Vita activa" gewürdigt. Dennoch schrieb er bereits 1955: "Aber d'accord sind wir vermutlich über nichts, außer dass man sich niemandem verschreiben darf." Dieses Bekenntnis zum unbedingten Selberdenken war damals sicher mehr als nichts. Fünf Jahre später notiert Anders, der sich in der Atomfrage gegen Jaspers stellte, dass sie, obwohl sie beide im "Merkur" veröffentlichten, wohl mittlerweile an zwei entfernten Küsten lebten, wo sie einander nicht sehen und verstehen können.

Der frühe und jahrelange Gedankenaustausch ebenso wie der (jedem Dialog inhärente) Gedankendiebstahl muss ihnen beiden dennoch viel Welt gestiftet haben. Am 10. September 1941 schreibt Arendt: "Dein Fortschritts-Entwurf hat mir ausgezeichnet gefallen", und bittet nach Fertigstellung um den ausgearbeiteten Text, weil sie ihn "sehr gut für meine eigenen Sachen brauchen" könne. Es ist ein großes Verdienst, dass die Herausgeberin diesen bislang unveröffentlichten Entwurf hier abdruckt: "Disposition für Die Unfertigkeit des Menschen und der Begriff ,Fortschritt' so der Titel. Darin skizziert Anders stichwortartig den Aufstieg der Kategorie "Fortschritt" zur weltgeschichtlichen Macht und zur gefährlichen universellen Zaubervokabel. Ein bedeutendes Dokument. Unschwer erkennt man beim Lesen viele Fäden hin zu Arendts Totalitarismus-These und zu Anders' Atomkritik.

Die Briefe sind sorgfältig annotiert. Was man vermisst, ist die Ebene des brieflichen Materials. Kein Hinweis darauf, dass Arendt 1939 aus Paris einen Brief auf amerikanischem Papier schrieb. Auch die jeweiligen Absender und Adressen werden nicht angegeben, sodass man nicht erfährt, dass Arendt ihre Briefe bis 1960 nicht an "Günther Anders", sondern an "Günther Stern" adressierte. War dies ein Zeichen privater Verbundenheit?

Der Ton, in denen beide in ihren Werken nach Shoah und Hiroshima um den "Bestandscharakter der Welt" rangen, zeigt einmal mehr die Verschiedenheit der Wege, die sich 1925 im Heidegger-Seminar erstmals trafen: Die Essays von Günther Anders sind Mahnrufe eines Moralisten (Arendt: "Da Du ohnehin von Natur aus ein Moralist bist, kannst Du das herrlich."), während Arendt ihr Werk als Versuch abfasste, in der Sprache zur Besinnung zu kommen - zur gedanklichen Besinnung auf die Bedingungen, "unter denen Menschen, soweit wir wissen, bisher gelebt haben" (Arendt). Der Band spiegelt, so rudimentär die Briefe erhalten sind, Nähe und Ferne dieser bedeutenden Wegbereiter unserer denkerischen Gegenwart heute.

Hannah Arendt, Günther Anders: "Schreib doch mal ,hard facts' über Dich". Briefe 1939 bis 1975. Texte und Dokumente.

Hrsg. v. Kerstin Putz. Verlag C. H. Beck, München 2016. 286 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].

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"Eine Mischung von vertraulichem Nachhall einstiger Intensität und Nähe mit intellektueller und persönlicher Entfremdung"
Alexander Cammann, DIE ZEIT, 15. September 2016

"Ein Dokument zur Geschichte des Exils, gerade auch seiner Nachwirkungen in den verletzten Seelen der Überlebenden"
Manfred Koch, NZZ am Sonntag, 28. August 2016