Zwei Aufsätze und eine Vorlesung: Der Autor und Fotograf Péter Nádas denkt über das Schreiben und über das Sehen nach.
Schreiben als Beruf, der längste und titelgebende Text, spürt den verwendeten, vor allem aber auch den nicht verwendeten Wörtern nach. Nádas nennt es «stumme Poetik»: das, was nicht oder nicht mehr im Text steht, die Auslassungen, gestrichene Passagen. Wie trete ich in einen Text ein? Wie verlasse ich ihn wieder? Wie ist das Verhältnis von Beschreibung und Dialog, von Raum und Zeit? Um die Gliederung von Raum und Zeit geht es auch in dem Aufsatz Haydn im Plattenbau. Ein Exkurs zu Joseph Haydn am Hof der Fürsten Esterházy mündet in einen sehr persönlichen Nachruf auf den Freund Péter Esterházy. Der dritte Text In den Farben der Dunkelheit befasst sich mit dem Wechsel vom analogen zum digitalen Bild, dem die Plastizität von Licht und Schatten fehlt, die Tiefe, das Drama. Die sich hieran anschließenden Gedanken haben für Nádas ebenfalls mit seinem Schreiben zu tun.
Einer der großen Schriftsteller der europäischen Gegenwartsliteratur gibt Einblicke in sein Handwerk, sein Werk, und lehrt uns, Bekanntes mit neuem Blick zu sehen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Schreiben als Beruf, der längste und titelgebende Text, spürt den verwendeten, vor allem aber auch den nicht verwendeten Wörtern nach. Nádas nennt es «stumme Poetik»: das, was nicht oder nicht mehr im Text steht, die Auslassungen, gestrichene Passagen. Wie trete ich in einen Text ein? Wie verlasse ich ihn wieder? Wie ist das Verhältnis von Beschreibung und Dialog, von Raum und Zeit? Um die Gliederung von Raum und Zeit geht es auch in dem Aufsatz Haydn im Plattenbau. Ein Exkurs zu Joseph Haydn am Hof der Fürsten Esterházy mündet in einen sehr persönlichen Nachruf auf den Freund Péter Esterházy. Der dritte Text In den Farben der Dunkelheit befasst sich mit dem Wechsel vom analogen zum digitalen Bild, dem die Plastizität von Licht und Schatten fehlt, die Tiefe, das Drama. Die sich hieran anschließenden Gedanken haben für Nádas ebenfalls mit seinem Schreiben zu tun.
Einer der großen Schriftsteller der europäischen Gegenwartsliteratur gibt Einblicke in sein Handwerk, sein Werk, und lehrt uns, Bekanntes mit neuem Blick zu sehen.
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Das Fluchen macht die Musik
Der große Kosmopolit Péter Nádas wird 80 Jahre alt. In seinem Roman
„Schauergeschichten“ dringt er ins kollektive Unbewusste eines Dorfes vor
Als er auf die sechzig zuging, hat der ungarische Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas in dem Essay „Behutsame Ortsbestimmung“, auf Deutsch 2006 erschienen, über einen großen Wildbirnenbaum geschrieben, mit dem Respekt eines nahen Nachbarn. Fast zwanzig Jahre lang lebte Nádas da schon in der kleinen Ortschaft Gombosszeg im Südwesten Ungarns. Einen Wohnsitz in der Hauptstadt behielt er bei. Ja, er gehört zu den großen Figuren des Kosmopolitismus in der europäischen Literatur, aber nur, wenn man aus dieser Figur das Dorf und den Wildbirnenbaum nicht ausschließt, die Hügel und Höhenzüge der Landschaft, die ihn umgibt.
In Budapest ist Nádas im Oktober 1942 geboren, mit einem falschen Nachnamen in der Geburtsurkunde, da seine Eltern als Kommunisten in der Illegalität lebten. Als er im Herbst 1956 das Scheitern der ungarischen Revolution erlebte, war er alt genug, um für immer in Distanz zu den Siegern zu treten. Drei Jahre zuvor war seine Mutter ihrem Krebsleiden erlegen. Den Selbstmord seines Vaters im Revolutionsjahr hat er in „Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers“ (2018) in eine biografische Skizze eingefügt. Die aus der Familienüberlieferung und Recherchen genährte Erzählung über den Tag seiner eigenen Geburt im bombardierten Budapest ist in einer großen Parallelmontage unauflöslich mit dem Blick auf die Liquidierung des jüdischen Ghettos in Misotsch in der heutigen Westukraine durch ein deutsches Einsatzkommando zusammengeschweißt.
Immer wieder schließt das erzählerische und essayistische Werk von Nádas Rückblicke auf das Europa seiner Herkunft, auf Krieg und Vernichtung ein. Nicht minder hartnäckig und zumal für sein westeuropäisches Publikum hat Nádas die osteuropäische Erfahrung der Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen geführt. Kurz nachdem in Prag 1968 die Panzer einrollten, gab er seine Tätigkeit als Journalist auf und ging aufs Land, nach Kisoroszi auf der von zwei Flussarmen umfassten Donauinsel Szentendre, und schrieb dort das „Ende eines Familienromans“ (1977), dessen Publikation durch zermürbende Manöver jahrelang verhindert wurde. Die Dämonen des Stalinismus wurden in diesem Roman lebendig, und wie sein Autor entstammte der heranwachsende Ich-Erzähler einer jüdischen Familie.
Auch wenn der Ortsname Kisoroszi im neuen Roman „Schauergeschichten“ nicht fällt, weisen die Donauinsel mit ihren Fähren und Schiffern, die Kleinstädte Vác und Visegrád, in denen manche Szenen spielen, auf diese Landschaft hin. Im Blick auf den Wildbirnenbaum von Gombosszeg hat Nádas angemerkt, „dass die Einheimischen, wenn sie ,Dorf‘ sagen, nicht einfach diesen Ort mit seinem geographischen Namen meinen. Sie gebrauchen das Wort im Sinne von Welt, so wie die Franzosen, wenn sie tout le monde sagen. Das Dorf ist gleichbedeutend mit jedem und allen, wer jedoch außerhalb dieses Umfelds lebt, gehört natürlich nicht zu ‚allen‘“.
Dieser Dorfroman wird zum Schauerroman, indem er das Dorf als Welt für sich, als sprachlichen Kosmos eigener Ordnung entwirft, in dem der Schrecken und die Gewalt schon vibrieren, ehe am Ende auch in der Handlung der Horror zu seinem Recht kommt. Zwei Frauen arbeiten auf der ersten Seite in einem Weinberg. Sie wechseln kaum ein Wort miteinander, „wenn doch, war es mehr ein Nörgeln und Jammern, ein grimmiges Gebrabbel“. Schon hier zeigt der Übersetzer Heinrich Eisterer, dass er diesem Roman gewachsen ist. Wo „grimmiges Gebrabbel“ herrscht, ist mit behutsamer Ortsbeschreibung wenig auszurichten: „Soll sie reden, was sie will, scheiß drauf.“ Der Sprachfluss führt zahllose Flüche, Zoten, Beschimpfungen, Ausgrenzungen – etwa der Juden und der „Zigeuner“ – mit. Wer die ersten zweihundert Seiten bewältigt hat, ist dem Scheißen, Vögeln und Ficken, dem Pinkeln und den Fürzen, den Schwänzen und Mösen in Hochfrequenz begegnet. Wer die derben Sprüchen und rohen sexuellen Anzüglichkeiten zum realistischen Nennwert nimmt, mag genervt aufstöhnen. Die Idee dahinter ist aber nicht soziologisch, sondern musikalisch. Die Erzählerstimme entstammt dem Dorf, sie agiert wie ein Chor. Kein Mikrofon hat diesen Sprachkosmos eingefangen. Sein polyphones Register ist vor allem zu Beginn dem vierten Stand des Wörterbuchs entnommen. Wie in manchen Musikstücken verfremdet die Wiederholung die Phrasen.
Teres Várnagy, einer alten Schifferfamilie entstammend, die noch über einen Weinberg verfügt und im Sommer Gäste aus Budapest einquartiert, mag für ihr loses Mundwerk berüchtigt sein. Es ist aber nur eine markant verdichtete Oberstimme in diesem Chor. Irgendwann im realen Sozialismus der späten 1960er-Jahre dürfte die Handlung spielen, die Erinnerungen an den Krieg und die Nachkriegszeit sind noch frisch, aber vor allem verlangt die Gegenwart ihr Recht. Der calvinistische Pfarrer und der franziskanische Pater, die von der Epilepsie geschlagene, geistig behinderte Rosa, die Kleinwüchsige mit dem hochgewachsenen schönen Sohn, über dessen Zeugung sich das Dorf das Maul zerreißt, sie alle könnten Wiedergänger aus Dorfromanen des 19. Jahrhunderts sein. Doch wie im europäisch-kosmopolitischen Autor Péter Nádas der Dorfbewohner und Nachbar des Wildbirnenbaums steckt, so verfügt die anonyme Erzählerstimme dieses Dorfromans über das in den Metropolen zirkulierende Wissen. Sie identifiziert im Sprachprofil der Figuren das versunkene römisches Erbe, erkennt in der Logik des grimmigen Gebrabbels „das kollektive Unbewusste“, in drei alten Schiffsleuten die Vorboten des Unglücks.
Alles hat hier eine zweite, schwer zu verstehende Seite, auch der fortschreitende Muskelschwund des jungen Mischike in seinem Rollstuhl. Er ist der Sohn einer jener Sommerfrischlerinnen, die das Dorf mit dem Leben in Budapest verbinden. Piroschka, Studentin der Heilpädagogik, steht im Zentrum der furiosen Engführung des Romans, flankiert vom schönen Sohn der Kleinwüchsigen und vom hinfälligen Mischike. Im Schauerroman ist die Aufklärung gegen die Dämonen und Obsessionen machtlos, so auch hier. Ein kleiner Hund wird maßlos gequält. Retten lässt sich der Hund, nicht der Quäler. In Schnitt und Gegenschnitt arbeiten die moderne Seelenkunde einschließlich der Psychoanalyse und die überlieferten Rituale der Teufelsaustreibung vergeblich an der Bändigung des Bösen, das die Figuren in seinen Bann schlägt. Pater Jónás, der das Ritual praktiziert, trägt einen wenig hoffnungsfrohen Namen, ist aber keine Karikatur. Mit dem Teufel rechnet auch die Erzählerstimme. Am Ende steigt das Wasser, eine durchaus unbiblische Hornissenplage entfaltet biblische Kraft, und der Tod erhält die ihm zustehenden Opfer. Dass sie zu Herzen gehen, entspringt der Auffächerung der Prosa weit über den obszönen mehrstimmigen Chor hinaus. Und dem Umstand, dass die mythischen Elemente dieses Dorfromans nicht Dekoration sind, sondern Falltüren, die zu den elementaren Schichten der Wünsche, Begierden, der Liebe und des Hasses führen.
In dem schmalen Essayband, der gleichzeitig mit dem Roman erschienen ist, schreibt Nádas unter anderem über die Bedeutung von Absätzen in Prosatexten. Absätze gibt es in den „Schauergeschichten“ reichlich, schon wegen der vielen Dialoge. Aber keine Kapitel. Das stärkt den Eindruck eines sich an die Donaulandschaft anschmiegenden „roman fleuve“. „Haydn im Plattenbau“ heißt der Essay über die Sprachmusik: „ich habe als junger Mann bei Meister Haydn Kontrapunkt studiert“. Das ist aber nur der Auftakt. Im Zentrum steht ein Rückblick auf den 2016 gestorbenen Freund, den Schriftsteller Péter Esterházy, zu dessen Vorfahren ein Arbeitgeber Haydns gehörte. Der zweite Essay „In den Farben der Dunkelheit“ ist ein Abschied von der analogen Fotografie. Und „Schreiben als Beruf“ eine erfreulich konkrete, auf den Satzbau und die Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens konzentrierte Selbstreflexion.
LOTHAR MÜLLER
Im realen Sozialismus
der späten 1960er-Jahre
dürfte die Handlung spielen
Péter Nádas, am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren, weltbekannter Erzähler in ungarischer Sprache.
Foto: Barna Burger
Péter Nádas:
Schreiben als Beruf. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, Hamburg 2022. 96 Seiten, 18 Euro.
Péter Nádas:
Schauergeschichten.
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Rowohlt, Hamburg 2022.
576 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der große Kosmopolit Péter Nádas wird 80 Jahre alt. In seinem Roman
„Schauergeschichten“ dringt er ins kollektive Unbewusste eines Dorfes vor
Als er auf die sechzig zuging, hat der ungarische Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas in dem Essay „Behutsame Ortsbestimmung“, auf Deutsch 2006 erschienen, über einen großen Wildbirnenbaum geschrieben, mit dem Respekt eines nahen Nachbarn. Fast zwanzig Jahre lang lebte Nádas da schon in der kleinen Ortschaft Gombosszeg im Südwesten Ungarns. Einen Wohnsitz in der Hauptstadt behielt er bei. Ja, er gehört zu den großen Figuren des Kosmopolitismus in der europäischen Literatur, aber nur, wenn man aus dieser Figur das Dorf und den Wildbirnenbaum nicht ausschließt, die Hügel und Höhenzüge der Landschaft, die ihn umgibt.
In Budapest ist Nádas im Oktober 1942 geboren, mit einem falschen Nachnamen in der Geburtsurkunde, da seine Eltern als Kommunisten in der Illegalität lebten. Als er im Herbst 1956 das Scheitern der ungarischen Revolution erlebte, war er alt genug, um für immer in Distanz zu den Siegern zu treten. Drei Jahre zuvor war seine Mutter ihrem Krebsleiden erlegen. Den Selbstmord seines Vaters im Revolutionsjahr hat er in „Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers“ (2018) in eine biografische Skizze eingefügt. Die aus der Familienüberlieferung und Recherchen genährte Erzählung über den Tag seiner eigenen Geburt im bombardierten Budapest ist in einer großen Parallelmontage unauflöslich mit dem Blick auf die Liquidierung des jüdischen Ghettos in Misotsch in der heutigen Westukraine durch ein deutsches Einsatzkommando zusammengeschweißt.
Immer wieder schließt das erzählerische und essayistische Werk von Nádas Rückblicke auf das Europa seiner Herkunft, auf Krieg und Vernichtung ein. Nicht minder hartnäckig und zumal für sein westeuropäisches Publikum hat Nádas die osteuropäische Erfahrung der Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen geführt. Kurz nachdem in Prag 1968 die Panzer einrollten, gab er seine Tätigkeit als Journalist auf und ging aufs Land, nach Kisoroszi auf der von zwei Flussarmen umfassten Donauinsel Szentendre, und schrieb dort das „Ende eines Familienromans“ (1977), dessen Publikation durch zermürbende Manöver jahrelang verhindert wurde. Die Dämonen des Stalinismus wurden in diesem Roman lebendig, und wie sein Autor entstammte der heranwachsende Ich-Erzähler einer jüdischen Familie.
Auch wenn der Ortsname Kisoroszi im neuen Roman „Schauergeschichten“ nicht fällt, weisen die Donauinsel mit ihren Fähren und Schiffern, die Kleinstädte Vác und Visegrád, in denen manche Szenen spielen, auf diese Landschaft hin. Im Blick auf den Wildbirnenbaum von Gombosszeg hat Nádas angemerkt, „dass die Einheimischen, wenn sie ,Dorf‘ sagen, nicht einfach diesen Ort mit seinem geographischen Namen meinen. Sie gebrauchen das Wort im Sinne von Welt, so wie die Franzosen, wenn sie tout le monde sagen. Das Dorf ist gleichbedeutend mit jedem und allen, wer jedoch außerhalb dieses Umfelds lebt, gehört natürlich nicht zu ‚allen‘“.
Dieser Dorfroman wird zum Schauerroman, indem er das Dorf als Welt für sich, als sprachlichen Kosmos eigener Ordnung entwirft, in dem der Schrecken und die Gewalt schon vibrieren, ehe am Ende auch in der Handlung der Horror zu seinem Recht kommt. Zwei Frauen arbeiten auf der ersten Seite in einem Weinberg. Sie wechseln kaum ein Wort miteinander, „wenn doch, war es mehr ein Nörgeln und Jammern, ein grimmiges Gebrabbel“. Schon hier zeigt der Übersetzer Heinrich Eisterer, dass er diesem Roman gewachsen ist. Wo „grimmiges Gebrabbel“ herrscht, ist mit behutsamer Ortsbeschreibung wenig auszurichten: „Soll sie reden, was sie will, scheiß drauf.“ Der Sprachfluss führt zahllose Flüche, Zoten, Beschimpfungen, Ausgrenzungen – etwa der Juden und der „Zigeuner“ – mit. Wer die ersten zweihundert Seiten bewältigt hat, ist dem Scheißen, Vögeln und Ficken, dem Pinkeln und den Fürzen, den Schwänzen und Mösen in Hochfrequenz begegnet. Wer die derben Sprüchen und rohen sexuellen Anzüglichkeiten zum realistischen Nennwert nimmt, mag genervt aufstöhnen. Die Idee dahinter ist aber nicht soziologisch, sondern musikalisch. Die Erzählerstimme entstammt dem Dorf, sie agiert wie ein Chor. Kein Mikrofon hat diesen Sprachkosmos eingefangen. Sein polyphones Register ist vor allem zu Beginn dem vierten Stand des Wörterbuchs entnommen. Wie in manchen Musikstücken verfremdet die Wiederholung die Phrasen.
Teres Várnagy, einer alten Schifferfamilie entstammend, die noch über einen Weinberg verfügt und im Sommer Gäste aus Budapest einquartiert, mag für ihr loses Mundwerk berüchtigt sein. Es ist aber nur eine markant verdichtete Oberstimme in diesem Chor. Irgendwann im realen Sozialismus der späten 1960er-Jahre dürfte die Handlung spielen, die Erinnerungen an den Krieg und die Nachkriegszeit sind noch frisch, aber vor allem verlangt die Gegenwart ihr Recht. Der calvinistische Pfarrer und der franziskanische Pater, die von der Epilepsie geschlagene, geistig behinderte Rosa, die Kleinwüchsige mit dem hochgewachsenen schönen Sohn, über dessen Zeugung sich das Dorf das Maul zerreißt, sie alle könnten Wiedergänger aus Dorfromanen des 19. Jahrhunderts sein. Doch wie im europäisch-kosmopolitischen Autor Péter Nádas der Dorfbewohner und Nachbar des Wildbirnenbaums steckt, so verfügt die anonyme Erzählerstimme dieses Dorfromans über das in den Metropolen zirkulierende Wissen. Sie identifiziert im Sprachprofil der Figuren das versunkene römisches Erbe, erkennt in der Logik des grimmigen Gebrabbels „das kollektive Unbewusste“, in drei alten Schiffsleuten die Vorboten des Unglücks.
Alles hat hier eine zweite, schwer zu verstehende Seite, auch der fortschreitende Muskelschwund des jungen Mischike in seinem Rollstuhl. Er ist der Sohn einer jener Sommerfrischlerinnen, die das Dorf mit dem Leben in Budapest verbinden. Piroschka, Studentin der Heilpädagogik, steht im Zentrum der furiosen Engführung des Romans, flankiert vom schönen Sohn der Kleinwüchsigen und vom hinfälligen Mischike. Im Schauerroman ist die Aufklärung gegen die Dämonen und Obsessionen machtlos, so auch hier. Ein kleiner Hund wird maßlos gequält. Retten lässt sich der Hund, nicht der Quäler. In Schnitt und Gegenschnitt arbeiten die moderne Seelenkunde einschließlich der Psychoanalyse und die überlieferten Rituale der Teufelsaustreibung vergeblich an der Bändigung des Bösen, das die Figuren in seinen Bann schlägt. Pater Jónás, der das Ritual praktiziert, trägt einen wenig hoffnungsfrohen Namen, ist aber keine Karikatur. Mit dem Teufel rechnet auch die Erzählerstimme. Am Ende steigt das Wasser, eine durchaus unbiblische Hornissenplage entfaltet biblische Kraft, und der Tod erhält die ihm zustehenden Opfer. Dass sie zu Herzen gehen, entspringt der Auffächerung der Prosa weit über den obszönen mehrstimmigen Chor hinaus. Und dem Umstand, dass die mythischen Elemente dieses Dorfromans nicht Dekoration sind, sondern Falltüren, die zu den elementaren Schichten der Wünsche, Begierden, der Liebe und des Hasses führen.
In dem schmalen Essayband, der gleichzeitig mit dem Roman erschienen ist, schreibt Nádas unter anderem über die Bedeutung von Absätzen in Prosatexten. Absätze gibt es in den „Schauergeschichten“ reichlich, schon wegen der vielen Dialoge. Aber keine Kapitel. Das stärkt den Eindruck eines sich an die Donaulandschaft anschmiegenden „roman fleuve“. „Haydn im Plattenbau“ heißt der Essay über die Sprachmusik: „ich habe als junger Mann bei Meister Haydn Kontrapunkt studiert“. Das ist aber nur der Auftakt. Im Zentrum steht ein Rückblick auf den 2016 gestorbenen Freund, den Schriftsteller Péter Esterházy, zu dessen Vorfahren ein Arbeitgeber Haydns gehörte. Der zweite Essay „In den Farben der Dunkelheit“ ist ein Abschied von der analogen Fotografie. Und „Schreiben als Beruf“ eine erfreulich konkrete, auf den Satzbau und die Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens konzentrierte Selbstreflexion.
LOTHAR MÜLLER
Im realen Sozialismus
der späten 1960er-Jahre
dürfte die Handlung spielen
Péter Nádas, am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren, weltbekannter Erzähler in ungarischer Sprache.
Foto: Barna Burger
Péter Nádas:
Schreiben als Beruf. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, Hamburg 2022. 96 Seiten, 18 Euro.
Péter Nádas:
Schauergeschichten.
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Rowohlt, Hamburg 2022.
576 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2022Totentanz an der Donau
Wer dieses Buch liest, der hört ein ganzes Dorf fluchen:
"Schauergeschichten", der neue Roman von Péter Nádas.
Man darf sich den Schreibtisch von Péter Nádas als einsamen, nicht aber als friedlichen Ort vorstellen. Hier finden grausame Schlachten statt, lautlose Gemetzel, begangen von einem zum Äußersten entschlossenen Einzelkämpfer. Er verspürt Mitleid, gibt aber kein Pardon. Er sieht in die Herzen seiner Geschöpfe, kennt aber keine Gnade. Er sehnt sich nach Ordnung und wühlt im Chaos. Er sucht nach höchster Perfektion und fürchtet zugleich den Anspruch auf Vollkommenheit: "Ja, wir streben nach Harmonie, aber gleichzeitig auch nach Freiheit und Unabhängigkeit, und also sind wir bei Weitem keine harmonische Wesen, wir sind zerrissen, bereit zur Selbstvernichtung und zur Vernichtung der Welt."
Dass die Welten, die hier geschaffen, vernichtet und wieder erschaffen werden, nur auf dem Papier existieren, darf nicht vergessen werden. Aber genauso wenig darf vergessen werden, dass sie eben nicht nur auf dem Papier existieren. Was als Literatur zur Sprache kommt, wird zu einem erinnerten Teil der Welt, denn die Erzählung, so schreibt Peter Nádas in "Schreiben als Beruf", seinem großen Essay über die Profession des Autors, "ist immer Vergangenheit". In der Perspektive des Schriftstellers, der Perspektive eines retrospektiven Schöpfungsaktes als Fortschreibung und Variation alles Bestehenden, ist der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht wichtig. Wichtig ist "deren Wahrnehmung, das Wahrnehmen selbst".
"Schauergeschichten", der neue, fast sechshundert Seiten umfassende Roman von Péter Nádas, ist ein Kabinett der deformierten Weltwahrnehmungen, ein fortlaufender, durch keine Kapiteleinteilung gegliederter Text, der in kunstvoller Aneinanderreihung schonungsloser Introspektionen das trostlose Panorama eines ungarischen Dorfes um 1960 entwirft, dessen Bewohner einander das Leben unerträglich machen. Hier herrschen Habgier, Missgunst und Eigennutz, Heuchelei, Lüge und Verleumdung. "So viele böse Seelen auf einen Haufen", so der Dorfarzt, natürlich ein Zugezogener, habe er noch nie irgendwo gesehen. Nádas führt diese bösen, verwundeten und einander verwundenden Seelen aber nicht einfach nur vor, er öffnet sie vor unseren Augen, legt ihr Innerstes bloß und entfesselt - überwiegend in der Form erlebter Rede - einen mächtigen Bewusstseinsstrom mit Haupt- und Nebenarmen, mal reißend, mal träge dahinfließend, unberechenbar wie die Donau selbst, an deren Ufern das Geschehen spielt, unweit des Städtchens Vac, also nicht fern der Hauptstadt Budapest.
Der Krieg ist vorüber, die Kommunisten haben die Macht übernommen, der Aufstand von 1956 ist gescheitert. Adel und Großbürger sind weitgehend enteignet, haben aber nicht all ihre Privilegien verloren. Den englischen Tee und die schicken Stoffe muss man sich schicken lassen, aus Paris oder Kanada, wohin es die emigrierten Familienmitglieder gerade verschlagen hat. Die alte Teres Várnagy gehörte einst selbst zum Landadel, wurde aber als blutjunge Frau wegen eines Fehltritts von der eigenen Familie verstoßen und musste sich in Budapest als Dienstmädchen verdingen, wo sie jene verfeinerten Lebensformen kennenlernte, die sie nun bei jeder Gelegenheit hingebungsvoll verhöhnt. Ihr ganzes Leben hat sie Fremden gedient, sie umhegt, durchschaut, beschützt und bestohlen. Noch immer ist sie ihrer einstigen Herrin Hella und deren Liebhaber in lodernder Hassliebe verbunden. Doch Hella und der fesche Okolicsányi sind längst tot, ermordet auf ihrer Hazienda im argentinischen Exil, was sie nicht daran hindert, zusammen mit ihren Mördern in jenen heißen Sommertagen als beängstigendes Trugbild bei Teres aufzutauchen, als hätte die nicht schon Kummer genug.
Mit der alten Teres Várnagy, genannt Teres Vogelscheu, hat Péter Nádas eine unvergessliche Frauengestalt geschaffen: eine vor sich hin brabbelnde Alte, die gotteslästerlich flucht, bösartig ist, geizig und hinterhältig, eine jener "hässlichen, stinkenden Vogelscheuchen", jener "vergreisten, verdorrten, garstigen Witwen", wie sie im Dorf von den anderen beäugt, beschimpft und gefürchtet werden. Noch immer eine Außenseiterin, mit der sich niemand abgeben will, noch immer ausgestoßen, verachtet, weil sie sich vor Jahrzehnten einem jungen Mann hingegeben hat und schwanger von ihm wurde.
Als alte Frau ist sie mit ihrem Ersparten in ihr Heimatdorf zurückkehrt, hat sich ein Haus bauen lassen und ein bisschen Land gekauft, das sie nun mit Rosa bestellt, der geistig behinderten, jedem in jeder Hinsicht dienstbaren Tagelöhnerin, die sie herumkommandiert und piesackt, aber auch geradezu liebevoll umsorgt, als wäre sie ihr eigenes, gründlich missratenes Kind. Denn Teres hat ein Herz. Es ist klein, steinhart, von Narben übersät, aber es ist ein Herz. Das kann nicht jeder im Dorf von sich sagen. Das ganze Elend dieser verstoßenen und gehetzten, von Unrecht, Demütigungen und lebenslanger Einsamkeit deformierten Existenz fasst Péter Nádas nach fünfhundert Seiten in diesen einen schlichten Satz: "Wegen einer einzigen großen Schuld wird sie das ganze Leben nicht geliebt."
Die junge Piroschka hingegen ist, was auch Teres einst war: hübsch, mit Privilegien versehen, begehrt. Sie studiert in der Stadt, will vielleicht Forensikerin werden und verbringt die Sommer auf dem Dorf mit empirischen Studien. Das Ungewöhnliche interessiert sie, das Abweichende, nicht der Norm Entsprechende. Vom unkontrolliert in seinem Rollstuhl zuckenden Mischike fühlt sie angezogen, aber auch von Imre, dem hünenhaften Bäckergesellen, in dem Gewalt und Wahnsinn schlummern. Weil sie überzeugt davon ist, dass Imre früher oder später ein Verbrechen begehen wird, überredet sie ihn, Pater Jonas aufzusuchen, der gemäß den Anweisungen des Bischofs sich sogleich daranmacht, eine Teufelsaustreibung vorzunehmen.
Teres, Rosa, Imre und Mischike, keiner von ihnen entgeht seinem Schicksal, sei es nun selbstgewählt oder fremdbestimmt. Und sehr langsam schält sich nun aus dem Strom erlebter Rede eine Art Handlung heraus, die auf den letzten sechzig Seiten ungeheure Fahrt aufnimmt und an einem drückend heißen Sonntag im Sommer in eine Katastrophe mündet. Meisterhaft führt Nádas nun die zuvor lose nebeneinander herlaufenden Handlungsfäden in einem furiosen Finale zusammen und lässt das Unglück seinen Lauf nehmen. Mit einer Gruppe junger Menschen aus der Stadt, die gekommen sind, um Piroschka auf eine Fahrt den Fluss hinunter mitzunehmen, hält gegen Ende auch noch ein Element der modernen Welt Einzug in das modernde Antiidyll, strahlende Fremdkörper auf der Durchreise, "eine mitreißende, fröhliche Gesellschaft, hübsche Mädchen und Burschen, sämtlich verwöhnte Geschöpfe des Lebens". Nur folgerichtig, dass sie unbekümmert weiterrudern, ohne etwas vom Tod und dem Verderben zu bemerken, dass sie hinter sich lassen.
Die "Schauergeschichten" von Péter Nádas sind kein menschenfreundliches Buch. Sie blicken mit viel Verständnis und wenig Zuversicht auf ihre Figuren und beschwören eine Welt herauf, ohne uns zu verraten, ob diese Welt nun untergegangen ist oder in anderer Gestalt immer noch fortexistiert. Den zweiten der drei Essays, die der soeben erschienene Band "Schreiben als Beruf" versammelt, beendet Nádas mit einer Bemerkung zum Genre der Horrorgeschichten, an denen er gerade arbeite: "Je schauerlicher eine Geschichte, das heißt, je mehr sie sich aus der archaischen Schicht des menschlichen Bewusstseins nährt, umso mehr brauche ich, um sie zu schreiben, Klarsicht und klares Sehen."
Aber nicht weniger wichtig als die Klarsicht ist für diese "Schauergeschichten" das feine Ohr des Schriftstellers. Denn der archaischen Gesetzen gehorchende Mikrokosmos, den Nádas hier heraufbeschwört, entsteht nicht so sehr durch die Beschreibungen des namenlosen Erzählers, der sich nur selten bemerkbar macht, sondern er erwächst vor allem aus der kunstvoll gehandhabten Mündlichkeit, mit der Redensarten, Floskeln und zahllose Flüche aneinandergereiht werden: "Du weißt es, und ich weiß es auch. Ihre Nachbarn trauten sich nicht zu sagen, was sie mit eigenen Augen im Mondlicht gesehen hatten, als sie hinausspähten. Dass sie bloß durch ihre Worte nichts Böses auf sich ziehen. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich weiß, und ob ich weiß, was auch du weißt. Es ist schon sehr traurig, mein Engel, dass man bei uns so was wissen muss. Was würd ich dafür geben, dass mein Elternhaus nicht hier stehen tät. Warum kommt immer Schande und Kummer über uns. Wenn wir dasselbe denken, dann sage ich dir, besser ist, wir schweigen."
Wer diesen Roman liest, der hört ein ganzes Dorf reden - auf Deutsch in der fabelhaften Übersetzung von Heinrich Eisterer. Er hört aber auch das ungesagt Bleibende. Das ist all das, für das die Dörfler keine Sprache haben. Das ist ihr wahrer Fluch. Denn wer nichts hat, was er einmal vererben könnte, der vererbt eben die Sprachlosigkeit, die Lieblosigkeit und die Einsamkeit, unter denen er sein ganzes Leben lang gelitten hat. Schließlich, und das ist die wahrhaft schaurige Moral dieser "Schauergeschichten", soll niemand es einmal besser haben, als die, denen es ihr ganzes Leben lang schlecht ergangen ist. Am morgigen Freitag wird Péter Nádas achtzig Jahre alt. HUBERT SPIEGEL
Péter Nádas: "Schreiben als Beruf".
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 96 S., geb., 18,- Euro
Péter Nádas: "Schauergeschichten". Roman.
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 576 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer dieses Buch liest, der hört ein ganzes Dorf fluchen:
"Schauergeschichten", der neue Roman von Péter Nádas.
Man darf sich den Schreibtisch von Péter Nádas als einsamen, nicht aber als friedlichen Ort vorstellen. Hier finden grausame Schlachten statt, lautlose Gemetzel, begangen von einem zum Äußersten entschlossenen Einzelkämpfer. Er verspürt Mitleid, gibt aber kein Pardon. Er sieht in die Herzen seiner Geschöpfe, kennt aber keine Gnade. Er sehnt sich nach Ordnung und wühlt im Chaos. Er sucht nach höchster Perfektion und fürchtet zugleich den Anspruch auf Vollkommenheit: "Ja, wir streben nach Harmonie, aber gleichzeitig auch nach Freiheit und Unabhängigkeit, und also sind wir bei Weitem keine harmonische Wesen, wir sind zerrissen, bereit zur Selbstvernichtung und zur Vernichtung der Welt."
Dass die Welten, die hier geschaffen, vernichtet und wieder erschaffen werden, nur auf dem Papier existieren, darf nicht vergessen werden. Aber genauso wenig darf vergessen werden, dass sie eben nicht nur auf dem Papier existieren. Was als Literatur zur Sprache kommt, wird zu einem erinnerten Teil der Welt, denn die Erzählung, so schreibt Peter Nádas in "Schreiben als Beruf", seinem großen Essay über die Profession des Autors, "ist immer Vergangenheit". In der Perspektive des Schriftstellers, der Perspektive eines retrospektiven Schöpfungsaktes als Fortschreibung und Variation alles Bestehenden, ist der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht wichtig. Wichtig ist "deren Wahrnehmung, das Wahrnehmen selbst".
"Schauergeschichten", der neue, fast sechshundert Seiten umfassende Roman von Péter Nádas, ist ein Kabinett der deformierten Weltwahrnehmungen, ein fortlaufender, durch keine Kapiteleinteilung gegliederter Text, der in kunstvoller Aneinanderreihung schonungsloser Introspektionen das trostlose Panorama eines ungarischen Dorfes um 1960 entwirft, dessen Bewohner einander das Leben unerträglich machen. Hier herrschen Habgier, Missgunst und Eigennutz, Heuchelei, Lüge und Verleumdung. "So viele böse Seelen auf einen Haufen", so der Dorfarzt, natürlich ein Zugezogener, habe er noch nie irgendwo gesehen. Nádas führt diese bösen, verwundeten und einander verwundenden Seelen aber nicht einfach nur vor, er öffnet sie vor unseren Augen, legt ihr Innerstes bloß und entfesselt - überwiegend in der Form erlebter Rede - einen mächtigen Bewusstseinsstrom mit Haupt- und Nebenarmen, mal reißend, mal träge dahinfließend, unberechenbar wie die Donau selbst, an deren Ufern das Geschehen spielt, unweit des Städtchens Vac, also nicht fern der Hauptstadt Budapest.
Der Krieg ist vorüber, die Kommunisten haben die Macht übernommen, der Aufstand von 1956 ist gescheitert. Adel und Großbürger sind weitgehend enteignet, haben aber nicht all ihre Privilegien verloren. Den englischen Tee und die schicken Stoffe muss man sich schicken lassen, aus Paris oder Kanada, wohin es die emigrierten Familienmitglieder gerade verschlagen hat. Die alte Teres Várnagy gehörte einst selbst zum Landadel, wurde aber als blutjunge Frau wegen eines Fehltritts von der eigenen Familie verstoßen und musste sich in Budapest als Dienstmädchen verdingen, wo sie jene verfeinerten Lebensformen kennenlernte, die sie nun bei jeder Gelegenheit hingebungsvoll verhöhnt. Ihr ganzes Leben hat sie Fremden gedient, sie umhegt, durchschaut, beschützt und bestohlen. Noch immer ist sie ihrer einstigen Herrin Hella und deren Liebhaber in lodernder Hassliebe verbunden. Doch Hella und der fesche Okolicsányi sind längst tot, ermordet auf ihrer Hazienda im argentinischen Exil, was sie nicht daran hindert, zusammen mit ihren Mördern in jenen heißen Sommertagen als beängstigendes Trugbild bei Teres aufzutauchen, als hätte die nicht schon Kummer genug.
Mit der alten Teres Várnagy, genannt Teres Vogelscheu, hat Péter Nádas eine unvergessliche Frauengestalt geschaffen: eine vor sich hin brabbelnde Alte, die gotteslästerlich flucht, bösartig ist, geizig und hinterhältig, eine jener "hässlichen, stinkenden Vogelscheuchen", jener "vergreisten, verdorrten, garstigen Witwen", wie sie im Dorf von den anderen beäugt, beschimpft und gefürchtet werden. Noch immer eine Außenseiterin, mit der sich niemand abgeben will, noch immer ausgestoßen, verachtet, weil sie sich vor Jahrzehnten einem jungen Mann hingegeben hat und schwanger von ihm wurde.
Als alte Frau ist sie mit ihrem Ersparten in ihr Heimatdorf zurückkehrt, hat sich ein Haus bauen lassen und ein bisschen Land gekauft, das sie nun mit Rosa bestellt, der geistig behinderten, jedem in jeder Hinsicht dienstbaren Tagelöhnerin, die sie herumkommandiert und piesackt, aber auch geradezu liebevoll umsorgt, als wäre sie ihr eigenes, gründlich missratenes Kind. Denn Teres hat ein Herz. Es ist klein, steinhart, von Narben übersät, aber es ist ein Herz. Das kann nicht jeder im Dorf von sich sagen. Das ganze Elend dieser verstoßenen und gehetzten, von Unrecht, Demütigungen und lebenslanger Einsamkeit deformierten Existenz fasst Péter Nádas nach fünfhundert Seiten in diesen einen schlichten Satz: "Wegen einer einzigen großen Schuld wird sie das ganze Leben nicht geliebt."
Die junge Piroschka hingegen ist, was auch Teres einst war: hübsch, mit Privilegien versehen, begehrt. Sie studiert in der Stadt, will vielleicht Forensikerin werden und verbringt die Sommer auf dem Dorf mit empirischen Studien. Das Ungewöhnliche interessiert sie, das Abweichende, nicht der Norm Entsprechende. Vom unkontrolliert in seinem Rollstuhl zuckenden Mischike fühlt sie angezogen, aber auch von Imre, dem hünenhaften Bäckergesellen, in dem Gewalt und Wahnsinn schlummern. Weil sie überzeugt davon ist, dass Imre früher oder später ein Verbrechen begehen wird, überredet sie ihn, Pater Jonas aufzusuchen, der gemäß den Anweisungen des Bischofs sich sogleich daranmacht, eine Teufelsaustreibung vorzunehmen.
Teres, Rosa, Imre und Mischike, keiner von ihnen entgeht seinem Schicksal, sei es nun selbstgewählt oder fremdbestimmt. Und sehr langsam schält sich nun aus dem Strom erlebter Rede eine Art Handlung heraus, die auf den letzten sechzig Seiten ungeheure Fahrt aufnimmt und an einem drückend heißen Sonntag im Sommer in eine Katastrophe mündet. Meisterhaft führt Nádas nun die zuvor lose nebeneinander herlaufenden Handlungsfäden in einem furiosen Finale zusammen und lässt das Unglück seinen Lauf nehmen. Mit einer Gruppe junger Menschen aus der Stadt, die gekommen sind, um Piroschka auf eine Fahrt den Fluss hinunter mitzunehmen, hält gegen Ende auch noch ein Element der modernen Welt Einzug in das modernde Antiidyll, strahlende Fremdkörper auf der Durchreise, "eine mitreißende, fröhliche Gesellschaft, hübsche Mädchen und Burschen, sämtlich verwöhnte Geschöpfe des Lebens". Nur folgerichtig, dass sie unbekümmert weiterrudern, ohne etwas vom Tod und dem Verderben zu bemerken, dass sie hinter sich lassen.
Die "Schauergeschichten" von Péter Nádas sind kein menschenfreundliches Buch. Sie blicken mit viel Verständnis und wenig Zuversicht auf ihre Figuren und beschwören eine Welt herauf, ohne uns zu verraten, ob diese Welt nun untergegangen ist oder in anderer Gestalt immer noch fortexistiert. Den zweiten der drei Essays, die der soeben erschienene Band "Schreiben als Beruf" versammelt, beendet Nádas mit einer Bemerkung zum Genre der Horrorgeschichten, an denen er gerade arbeite: "Je schauerlicher eine Geschichte, das heißt, je mehr sie sich aus der archaischen Schicht des menschlichen Bewusstseins nährt, umso mehr brauche ich, um sie zu schreiben, Klarsicht und klares Sehen."
Aber nicht weniger wichtig als die Klarsicht ist für diese "Schauergeschichten" das feine Ohr des Schriftstellers. Denn der archaischen Gesetzen gehorchende Mikrokosmos, den Nádas hier heraufbeschwört, entsteht nicht so sehr durch die Beschreibungen des namenlosen Erzählers, der sich nur selten bemerkbar macht, sondern er erwächst vor allem aus der kunstvoll gehandhabten Mündlichkeit, mit der Redensarten, Floskeln und zahllose Flüche aneinandergereiht werden: "Du weißt es, und ich weiß es auch. Ihre Nachbarn trauten sich nicht zu sagen, was sie mit eigenen Augen im Mondlicht gesehen hatten, als sie hinausspähten. Dass sie bloß durch ihre Worte nichts Böses auf sich ziehen. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich weiß, und ob ich weiß, was auch du weißt. Es ist schon sehr traurig, mein Engel, dass man bei uns so was wissen muss. Was würd ich dafür geben, dass mein Elternhaus nicht hier stehen tät. Warum kommt immer Schande und Kummer über uns. Wenn wir dasselbe denken, dann sage ich dir, besser ist, wir schweigen."
Wer diesen Roman liest, der hört ein ganzes Dorf reden - auf Deutsch in der fabelhaften Übersetzung von Heinrich Eisterer. Er hört aber auch das ungesagt Bleibende. Das ist all das, für das die Dörfler keine Sprache haben. Das ist ihr wahrer Fluch. Denn wer nichts hat, was er einmal vererben könnte, der vererbt eben die Sprachlosigkeit, die Lieblosigkeit und die Einsamkeit, unter denen er sein ganzes Leben lang gelitten hat. Schließlich, und das ist die wahrhaft schaurige Moral dieser "Schauergeschichten", soll niemand es einmal besser haben, als die, denen es ihr ganzes Leben lang schlecht ergangen ist. Am morgigen Freitag wird Péter Nádas achtzig Jahre alt. HUBERT SPIEGEL
Péter Nádas: "Schreiben als Beruf".
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 96 S., geb., 18,- Euro
Péter Nádas: "Schauergeschichten". Roman.
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 576 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2022Das Fluchen macht die Musik
Der große Kosmopolit Péter Nádas wird 80 Jahre alt. In seinem Roman
„Schauergeschichten“ dringt er ins kollektive Unbewusste eines Dorfes vor
Als er auf die sechzig zuging, hat der ungarische Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas in dem Essay „Behutsame Ortsbestimmung“, auf Deutsch 2006 erschienen, über einen großen Wildbirnenbaum geschrieben, mit dem Respekt eines nahen Nachbarn. Fast zwanzig Jahre lang lebte Nádas da schon in der kleinen Ortschaft Gombosszeg im Südwesten Ungarns. Einen Wohnsitz in der Hauptstadt behielt er bei. Ja, er gehört zu den großen Figuren des Kosmopolitismus in der europäischen Literatur, aber nur, wenn man aus dieser Figur das Dorf und den Wildbirnenbaum nicht ausschließt, die Hügel und Höhenzüge der Landschaft, die ihn umgibt.
In Budapest ist Nádas im Oktober 1942 geboren, mit einem falschen Nachnamen in der Geburtsurkunde, da seine Eltern als Kommunisten in der Illegalität lebten. Als er im Herbst 1956 das Scheitern der ungarischen Revolution erlebte, war er alt genug, um für immer in Distanz zu den Siegern zu treten. Drei Jahre zuvor war seine Mutter ihrem Krebsleiden erlegen. Den Selbstmord seines Vaters im Revolutionsjahr hat er in „Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers“ (2018) in eine biografische Skizze eingefügt. Die aus der Familienüberlieferung und Recherchen genährte Erzählung über den Tag seiner eigenen Geburt im bombardierten Budapest ist in einer großen Parallelmontage unauflöslich mit dem Blick auf die Liquidierung des jüdischen Ghettos in Misotsch in der heutigen Westukraine durch ein deutsches Einsatzkommando zusammengeschweißt.
Immer wieder schließt das erzählerische und essayistische Werk von Nádas Rückblicke auf das Europa seiner Herkunft, auf Krieg und Vernichtung ein. Nicht minder hartnäckig und zumal für sein westeuropäisches Publikum hat Nádas die osteuropäische Erfahrung der Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen geführt. Kurz nachdem in Prag 1968 die Panzer einrollten, gab er seine Tätigkeit als Journalist auf und ging aufs Land, nach Kisoroszi auf der von zwei Flussarmen umfassten Donauinsel Szentendre, und schrieb dort das „Ende eines Familienromans“ (1977), dessen Publikation durch zermürbende Manöver jahrelang verhindert wurde. Die Dämonen des Stalinismus wurden in diesem Roman lebendig, und wie sein Autor entstammte der heranwachsende Ich-Erzähler einer jüdischen Familie.
Auch wenn der Ortsname Kisoroszi im neuen Roman „Schauergeschichten“ nicht fällt, weisen die Donauinsel mit ihren Fähren und Schiffern, die Kleinstädte Vác und Visegrád, in denen manche Szenen spielen, auf diese Landschaft hin. Im Blick auf den Wildbirnenbaum von Gombosszeg hat Nádas angemerkt, „dass die Einheimischen, wenn sie ,Dorf‘ sagen, nicht einfach diesen Ort mit seinem geographischen Namen meinen. Sie gebrauchen das Wort im Sinne von Welt, so wie die Franzosen, wenn sie tout le monde sagen. Das Dorf ist gleichbedeutend mit jedem und allen, wer jedoch außerhalb dieses Umfelds lebt, gehört natürlich nicht zu ‚allen‘“.
Dieser Dorfroman wird zum Schauerroman, indem er das Dorf als Welt für sich, als sprachlichen Kosmos eigener Ordnung entwirft, in dem der Schrecken und die Gewalt schon vibrieren, ehe am Ende auch in der Handlung der Horror zu seinem Recht kommt. Zwei Frauen arbeiten auf der ersten Seite in einem Weinberg. Sie wechseln kaum ein Wort miteinander, „wenn doch, war es mehr ein Nörgeln und Jammern, ein grimmiges Gebrabbel“. Schon hier zeigt der Übersetzer Heinrich Eisterer, dass er diesem Roman gewachsen ist. Wo „grimmiges Gebrabbel“ herrscht, ist mit behutsamer Ortsbeschreibung wenig auszurichten: „Soll sie reden, was sie will, scheiß drauf.“ Der Sprachfluss führt zahllose Flüche, Zoten, Beschimpfungen, Ausgrenzungen – etwa der Juden und der „Zigeuner“ – mit. Wer die ersten zweihundert Seiten bewältigt hat, ist dem Scheißen, Vögeln und Ficken, dem Pinkeln und den Fürzen, den Schwänzen und Mösen in Hochfrequenz begegnet. Wer die derben Sprüchen und rohen sexuellen Anzüglichkeiten zum realistischen Nennwert nimmt, mag genervt aufstöhnen. Die Idee dahinter ist aber nicht soziologisch, sondern musikalisch. Die Erzählerstimme entstammt dem Dorf, sie agiert wie ein Chor. Kein Mikrofon hat diesen Sprachkosmos eingefangen. Sein polyphones Register ist vor allem zu Beginn dem vierten Stand des Wörterbuchs entnommen. Wie in manchen Musikstücken verfremdet die Wiederholung die Phrasen.
Teres Várnagy, einer alten Schifferfamilie entstammend, die noch über einen Weinberg verfügt und im Sommer Gäste aus Budapest einquartiert, mag für ihr loses Mundwerk berüchtigt sein. Es ist aber nur eine markant verdichtete Oberstimme in diesem Chor. Irgendwann im realen Sozialismus der späten 1960er-Jahre dürfte die Handlung spielen, die Erinnerungen an den Krieg und die Nachkriegszeit sind noch frisch, aber vor allem verlangt die Gegenwart ihr Recht. Der calvinistische Pfarrer und der franziskanische Pater, die von der Epilepsie geschlagene, geistig behinderte Rosa, die Kleinwüchsige mit dem hochgewachsenen schönen Sohn, über dessen Zeugung sich das Dorf das Maul zerreißt, sie alle könnten Wiedergänger aus Dorfromanen des 19. Jahrhunderts sein. Doch wie im europäisch-kosmopolitischen Autor Péter Nádas der Dorfbewohner und Nachbar des Wildbirnenbaums steckt, so verfügt die anonyme Erzählerstimme dieses Dorfromans über das in den Metropolen zirkulierende Wissen. Sie identifiziert im Sprachprofil der Figuren das versunkene römisches Erbe, erkennt in der Logik des grimmigen Gebrabbels „das kollektive Unbewusste“, in drei alten Schiffsleuten die Vorboten des Unglücks.
Alles hat hier eine zweite, schwer zu verstehende Seite, auch der fortschreitende Muskelschwund des jungen Mischike in seinem Rollstuhl. Er ist der Sohn einer jener Sommerfrischlerinnen, die das Dorf mit dem Leben in Budapest verbinden. Piroschka, Studentin der Heilpädagogik, steht im Zentrum der furiosen Engführung des Romans, flankiert vom schönen Sohn der Kleinwüchsigen und vom hinfälligen Mischike. Im Schauerroman ist die Aufklärung gegen die Dämonen und Obsessionen machtlos, so auch hier. Ein kleiner Hund wird maßlos gequält. Retten lässt sich der Hund, nicht der Quäler. In Schnitt und Gegenschnitt arbeiten die moderne Seelenkunde einschließlich der Psychoanalyse und die überlieferten Rituale der Teufelsaustreibung vergeblich an der Bändigung des Bösen, das die Figuren in seinen Bann schlägt. Pater Jónás, der das Ritual praktiziert, trägt einen wenig hoffnungsfrohen Namen, ist aber keine Karikatur. Mit dem Teufel rechnet auch die Erzählerstimme. Am Ende steigt das Wasser, eine durchaus unbiblische Hornissenplage entfaltet biblische Kraft, und der Tod erhält die ihm zustehenden Opfer. Dass sie zu Herzen gehen, entspringt der Auffächerung der Prosa weit über den obszönen mehrstimmigen Chor hinaus. Und dem Umstand, dass die mythischen Elemente dieses Dorfromans nicht Dekoration sind, sondern Falltüren, die zu den elementaren Schichten der Wünsche, Begierden, der Liebe und des Hasses führen.
In dem schmalen Essayband, der gleichzeitig mit dem Roman erschienen ist, schreibt Nádas unter anderem über die Bedeutung von Absätzen in Prosatexten. Absätze gibt es in den „Schauergeschichten“ reichlich, schon wegen der vielen Dialoge. Aber keine Kapitel. Das stärkt den Eindruck eines sich an die Donaulandschaft anschmiegenden „roman fleuve“. „Haydn im Plattenbau“ heißt der Essay über die Sprachmusik: „ich habe als junger Mann bei Meister Haydn Kontrapunkt studiert“. Das ist aber nur der Auftakt. Im Zentrum steht ein Rückblick auf den 2016 gestorbenen Freund, den Schriftsteller Péter Esterházy, zu dessen Vorfahren ein Arbeitgeber Haydns gehörte. Der zweite Essay „In den Farben der Dunkelheit“ ist ein Abschied von der analogen Fotografie. Und „Schreiben als Beruf“ eine erfreulich konkrete, auf den Satzbau und die Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens konzentrierte Selbstreflexion.
LOTHAR MÜLLER
Im realen Sozialismus
der späten 1960er-Jahre
dürfte die Handlung spielen
Péter Nádas, am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren, weltbekannter Erzähler in ungarischer Sprache.
Foto: Barna Burger
Péter Nádas:
Schreiben als Beruf. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, Hamburg 2022. 96 Seiten, 18 Euro.
Péter Nádas:
Schauergeschichten.
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Rowohlt, Hamburg 2022.
576 Seiten, 30 Euro.
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Der große Kosmopolit Péter Nádas wird 80 Jahre alt. In seinem Roman
„Schauergeschichten“ dringt er ins kollektive Unbewusste eines Dorfes vor
Als er auf die sechzig zuging, hat der ungarische Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas in dem Essay „Behutsame Ortsbestimmung“, auf Deutsch 2006 erschienen, über einen großen Wildbirnenbaum geschrieben, mit dem Respekt eines nahen Nachbarn. Fast zwanzig Jahre lang lebte Nádas da schon in der kleinen Ortschaft Gombosszeg im Südwesten Ungarns. Einen Wohnsitz in der Hauptstadt behielt er bei. Ja, er gehört zu den großen Figuren des Kosmopolitismus in der europäischen Literatur, aber nur, wenn man aus dieser Figur das Dorf und den Wildbirnenbaum nicht ausschließt, die Hügel und Höhenzüge der Landschaft, die ihn umgibt.
In Budapest ist Nádas im Oktober 1942 geboren, mit einem falschen Nachnamen in der Geburtsurkunde, da seine Eltern als Kommunisten in der Illegalität lebten. Als er im Herbst 1956 das Scheitern der ungarischen Revolution erlebte, war er alt genug, um für immer in Distanz zu den Siegern zu treten. Drei Jahre zuvor war seine Mutter ihrem Krebsleiden erlegen. Den Selbstmord seines Vaters im Revolutionsjahr hat er in „Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers“ (2018) in eine biografische Skizze eingefügt. Die aus der Familienüberlieferung und Recherchen genährte Erzählung über den Tag seiner eigenen Geburt im bombardierten Budapest ist in einer großen Parallelmontage unauflöslich mit dem Blick auf die Liquidierung des jüdischen Ghettos in Misotsch in der heutigen Westukraine durch ein deutsches Einsatzkommando zusammengeschweißt.
Immer wieder schließt das erzählerische und essayistische Werk von Nádas Rückblicke auf das Europa seiner Herkunft, auf Krieg und Vernichtung ein. Nicht minder hartnäckig und zumal für sein westeuropäisches Publikum hat Nádas die osteuropäische Erfahrung der Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen geführt. Kurz nachdem in Prag 1968 die Panzer einrollten, gab er seine Tätigkeit als Journalist auf und ging aufs Land, nach Kisoroszi auf der von zwei Flussarmen umfassten Donauinsel Szentendre, und schrieb dort das „Ende eines Familienromans“ (1977), dessen Publikation durch zermürbende Manöver jahrelang verhindert wurde. Die Dämonen des Stalinismus wurden in diesem Roman lebendig, und wie sein Autor entstammte der heranwachsende Ich-Erzähler einer jüdischen Familie.
Auch wenn der Ortsname Kisoroszi im neuen Roman „Schauergeschichten“ nicht fällt, weisen die Donauinsel mit ihren Fähren und Schiffern, die Kleinstädte Vác und Visegrád, in denen manche Szenen spielen, auf diese Landschaft hin. Im Blick auf den Wildbirnenbaum von Gombosszeg hat Nádas angemerkt, „dass die Einheimischen, wenn sie ,Dorf‘ sagen, nicht einfach diesen Ort mit seinem geographischen Namen meinen. Sie gebrauchen das Wort im Sinne von Welt, so wie die Franzosen, wenn sie tout le monde sagen. Das Dorf ist gleichbedeutend mit jedem und allen, wer jedoch außerhalb dieses Umfelds lebt, gehört natürlich nicht zu ‚allen‘“.
Dieser Dorfroman wird zum Schauerroman, indem er das Dorf als Welt für sich, als sprachlichen Kosmos eigener Ordnung entwirft, in dem der Schrecken und die Gewalt schon vibrieren, ehe am Ende auch in der Handlung der Horror zu seinem Recht kommt. Zwei Frauen arbeiten auf der ersten Seite in einem Weinberg. Sie wechseln kaum ein Wort miteinander, „wenn doch, war es mehr ein Nörgeln und Jammern, ein grimmiges Gebrabbel“. Schon hier zeigt der Übersetzer Heinrich Eisterer, dass er diesem Roman gewachsen ist. Wo „grimmiges Gebrabbel“ herrscht, ist mit behutsamer Ortsbeschreibung wenig auszurichten: „Soll sie reden, was sie will, scheiß drauf.“ Der Sprachfluss führt zahllose Flüche, Zoten, Beschimpfungen, Ausgrenzungen – etwa der Juden und der „Zigeuner“ – mit. Wer die ersten zweihundert Seiten bewältigt hat, ist dem Scheißen, Vögeln und Ficken, dem Pinkeln und den Fürzen, den Schwänzen und Mösen in Hochfrequenz begegnet. Wer die derben Sprüchen und rohen sexuellen Anzüglichkeiten zum realistischen Nennwert nimmt, mag genervt aufstöhnen. Die Idee dahinter ist aber nicht soziologisch, sondern musikalisch. Die Erzählerstimme entstammt dem Dorf, sie agiert wie ein Chor. Kein Mikrofon hat diesen Sprachkosmos eingefangen. Sein polyphones Register ist vor allem zu Beginn dem vierten Stand des Wörterbuchs entnommen. Wie in manchen Musikstücken verfremdet die Wiederholung die Phrasen.
Teres Várnagy, einer alten Schifferfamilie entstammend, die noch über einen Weinberg verfügt und im Sommer Gäste aus Budapest einquartiert, mag für ihr loses Mundwerk berüchtigt sein. Es ist aber nur eine markant verdichtete Oberstimme in diesem Chor. Irgendwann im realen Sozialismus der späten 1960er-Jahre dürfte die Handlung spielen, die Erinnerungen an den Krieg und die Nachkriegszeit sind noch frisch, aber vor allem verlangt die Gegenwart ihr Recht. Der calvinistische Pfarrer und der franziskanische Pater, die von der Epilepsie geschlagene, geistig behinderte Rosa, die Kleinwüchsige mit dem hochgewachsenen schönen Sohn, über dessen Zeugung sich das Dorf das Maul zerreißt, sie alle könnten Wiedergänger aus Dorfromanen des 19. Jahrhunderts sein. Doch wie im europäisch-kosmopolitischen Autor Péter Nádas der Dorfbewohner und Nachbar des Wildbirnenbaums steckt, so verfügt die anonyme Erzählerstimme dieses Dorfromans über das in den Metropolen zirkulierende Wissen. Sie identifiziert im Sprachprofil der Figuren das versunkene römisches Erbe, erkennt in der Logik des grimmigen Gebrabbels „das kollektive Unbewusste“, in drei alten Schiffsleuten die Vorboten des Unglücks.
Alles hat hier eine zweite, schwer zu verstehende Seite, auch der fortschreitende Muskelschwund des jungen Mischike in seinem Rollstuhl. Er ist der Sohn einer jener Sommerfrischlerinnen, die das Dorf mit dem Leben in Budapest verbinden. Piroschka, Studentin der Heilpädagogik, steht im Zentrum der furiosen Engführung des Romans, flankiert vom schönen Sohn der Kleinwüchsigen und vom hinfälligen Mischike. Im Schauerroman ist die Aufklärung gegen die Dämonen und Obsessionen machtlos, so auch hier. Ein kleiner Hund wird maßlos gequält. Retten lässt sich der Hund, nicht der Quäler. In Schnitt und Gegenschnitt arbeiten die moderne Seelenkunde einschließlich der Psychoanalyse und die überlieferten Rituale der Teufelsaustreibung vergeblich an der Bändigung des Bösen, das die Figuren in seinen Bann schlägt. Pater Jónás, der das Ritual praktiziert, trägt einen wenig hoffnungsfrohen Namen, ist aber keine Karikatur. Mit dem Teufel rechnet auch die Erzählerstimme. Am Ende steigt das Wasser, eine durchaus unbiblische Hornissenplage entfaltet biblische Kraft, und der Tod erhält die ihm zustehenden Opfer. Dass sie zu Herzen gehen, entspringt der Auffächerung der Prosa weit über den obszönen mehrstimmigen Chor hinaus. Und dem Umstand, dass die mythischen Elemente dieses Dorfromans nicht Dekoration sind, sondern Falltüren, die zu den elementaren Schichten der Wünsche, Begierden, der Liebe und des Hasses führen.
In dem schmalen Essayband, der gleichzeitig mit dem Roman erschienen ist, schreibt Nádas unter anderem über die Bedeutung von Absätzen in Prosatexten. Absätze gibt es in den „Schauergeschichten“ reichlich, schon wegen der vielen Dialoge. Aber keine Kapitel. Das stärkt den Eindruck eines sich an die Donaulandschaft anschmiegenden „roman fleuve“. „Haydn im Plattenbau“ heißt der Essay über die Sprachmusik: „ich habe als junger Mann bei Meister Haydn Kontrapunkt studiert“. Das ist aber nur der Auftakt. Im Zentrum steht ein Rückblick auf den 2016 gestorbenen Freund, den Schriftsteller Péter Esterházy, zu dessen Vorfahren ein Arbeitgeber Haydns gehörte. Der zweite Essay „In den Farben der Dunkelheit“ ist ein Abschied von der analogen Fotografie. Und „Schreiben als Beruf“ eine erfreulich konkrete, auf den Satzbau und die Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens konzentrierte Selbstreflexion.
LOTHAR MÜLLER
Im realen Sozialismus
der späten 1960er-Jahre
dürfte die Handlung spielen
Péter Nádas, am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren, weltbekannter Erzähler in ungarischer Sprache.
Foto: Barna Burger
Péter Nádas:
Schreiben als Beruf. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, Hamburg 2022. 96 Seiten, 18 Euro.
Péter Nádas:
Schauergeschichten.
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Rowohlt, Hamburg 2022.
576 Seiten, 30 Euro.
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Stil, Blick und subtiler Witz: Kristallklare Essays über Autorendasein und Fotografie, Wahrnehmung und die beste Form - wie macht er das nur? Alexander ; Ulrich ; Iris ; Elke Camman ; Greiner ; Radisch ; Schmitter Die Zeit 20221117