Längst macht das Schreiben im Internet einen Großteil unserer Alltagskommunikation aus. Wir pflegen damit unsere Kontakte, organisieren unsere Termine, wir informieren Freunde darüber, wo wir gerade sind und was wir genau tun, oder wir vertreiben uns schlicht die Zeit, wenn wir auf den Bus warten oder im Zug sitzen. All das ist nur möglich, weil die meisten von uns mit einem kleinen Gerät ausgestattet und so praktisch immer und überall 'online' sind.Kann die Kommunikation außerhalb des Internets davon völlig unbeeinflusst bleiben? Die Antwort lautet sicherlich: nein. Wie genau das Schreiben im Internet unsere Alltagskommunikation verändert hat und weiter verändert, möchte dieser Essay klären - und zwar aus erster Hand: Christa Dürscheid und Karina Frick beschäftigen sich schon seit Jahren professionell mit dem Thema SMS- und Internetkommunikation; in ihrem durchaus unterhaltsamen Essay stellen sie ihre Erkenntnisse einem breiten Publikum zur Verfügung.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Christa Dürscheids und Katharina Fricks "Schreiben digital" hat Rezensent Wolfgang Krischke eine leichthändig geschriebene, eingängige Studie über den Einfluss digitaler Formate auf unser Schreiben und Sprechen gelesen. Dass sich die Mischkultur aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit, aus Slang, Dialekt, "Stummelsprech" und Bildsymbolik längst etabliert hat, dennoch keinen direkten Einfluss auf die orthografischen und grammatikalischen Mängel von Schülern hat, erfährt der Kritiker hier. Außerdem liest er, dass Emojis individuell und kulturabhängig unterschiedlich interpretiert werden und somit die Schriftsprache nie als universal verständliche Bilderschrift ablösen dürften. Dass die beiden Linguistinnen weitgehend auf Fachbegriffe verzichten, freut Krischke. Allerdings vermisst er nicht nur eine sprachhistorische Einbettung, sondern bemängelt auch, dass die Autorinnen normgerechtes Schreiben als sozialen Zwang, nicht aber als Gerüst einer entwickelten Sprachkultur verstehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2016Is ja doch alles aufm Bild
Gute N8, Grammatik! Die Linguistinnen Christa Dürscheid und Karina Frick bilanzieren den Einfluss digitaler Formate auf unser Schreiben und Sprechen.
Schreib mal wieder!", appellierte in den Achtzigern ein Slogan der Bundespost an die Bürger, die immer häufiger statt zum Stift zum Telefonhörer griffen. Dreißig Jahre später wird so viel geschrieben wie nie zuvor, während das Telefonieren unter Jugendlichen nur noch eine Nebenrolle spielt. Allerdings sind es nicht Briefe und Karten, sondern digitale Nachrichten, die per WhatsApp, SMS, E-Mail oder Twitter verschickt werden. Die Frage, wie sich das digitale Sprechschreiben, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf diese Weise entstanden ist, auf das normale Standarddeutsch auswirken könnte, ist immer noch ein beliebtes Thema in den Medien. Der umgangssprachliche Duktus der Chats und SMS-Botschaften, ihre Verschleifungen und Verkürzungen, die Suspendierung der Orthographie und die Verwendung visueller Signale wurden von vielen Beobachtern als kreative Innovationen begrüßt, während sprachkritischere Geister die deutsche Grammatik in Auflösung sahen.
Die Sprachwissenschaftlerinnen Christa Dürscheid und Karina Frick von der Universität Zürich, die die Handy- und Internet-Kommunikation seit vielen Jahren untersuchen, liefern nun einen kompakten Überblick über die Entwicklung des digitalen Schreibens. In ihrem flüssig und verständlich geschriebenen Buch kommen sie mit einem Minimum an fachlicher Terminologie aus und beschränken theoretische Erörterungen auf das Notwendige. Dass es sich nur um eine Zwischenbilanz handeln kann, liegt angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Rahmenbedingungen der technischen Kommunikation ändern, in der Natur der Sache.
Das gute alte "Simsen" beispielsweise - 2001 gehörte es zu den "Wörtern des Jahres" - wird zwar noch praktiziert. Aber bei den Jüngeren hat WhatsApp der SMS den Rang abgelaufen. Dieser Dienst nutzt das Internet statt des Mobilfunknetzes und bietet Hunderte von Bildzeichen, um Dinge oder Emotionen zu symbolisieren. Der Hang zum "piktorialen Schreiben" lässt sich dank dieser Emojis (e japanisch gleich Bild, moji gleich Buchstabe) ganz anders ausleben als mit den handgemachten Emoticons vom ehedem. Der Utopie einer weltweit verständlichen Bilderschrift, die alle Sprachbarrieren überwindet, räumen die Autorinnen aber keine Chance auf Verwirklichung ein. Viele Emojis werden kulturabhängig und sogar individuell sehr unterschiedlich interpretiert, außerdem eignen sie sich kaum für die Darstellung logischer und grammatischer Zusammenhänge. WhatsApp dient mittlerweile auch für die meisten Chats als Plattform, während die allgemein zugänglichen, aber anonymen Chaträume an Bedeutung verloren haben. Gut gehalten im Wettbewerb der Kommunikationsmedien hat sich die mittlerweile schon ehrwürdige E-Mail. Über alle Altersklassen hinweg ist sie nach wie vor das beliebteste Format des digitalen Schreibens.
Die Autorinnen lassen keinen Zweifel daran, dass sich die einst bestaunte oder bekrittelte Mischkultur aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit, aus Slang, Dialekt, Stummelsprech und Bildsymbolik etabliert hat. Gute Indikatoren dafür sind Verschleifungen (aufm), Abkürzungen (hdl = hab' dich lieb) oder hybride Formen (gute N8). Sie existieren weiterhin, obwohl Platzbegrenzungen oder der Wunsch, Kosten zu sparen, die sie anfänglich motiviert haben mögen, kaum noch eine Rolle spielen. Vielmehr folgen diese Sprachformen eigenen Normen der Informalität, die das digitale Schreiben herausgebildet hat - ein standardisierter Nicht-Standard für den schnellen dialogischen Austausch, den kennen muss, wer dazugehören will. Schreibkompetenz, so Dürscheid und Frick, muss in der Internet-Moderne mehr als nur die Beherrschung der Standardsprache umfassen.
Umso stärker stellt sich dann aber die Frage, welche Auswirkungen das digitale Schreiben langfristig auf ebendieses Standarddeutsch, das ja immer noch die Leitnorm darstellt, ausübt. Können Jugendliche, die in den sprachlichen Parallelwelten der Smartphone-Kommunikation aufwachsen, überhaupt noch einen lesbaren Aufsatz, einen präzisen Bericht, ein angemessenes Bewerbungsschreiben verfassen? Eine großangelegte Studie, die Christa Dürscheid und ihr Team vor mehreren Jahren durchführten, brachte zweierlei zu Tage: Zum einen wiesen die von ihnen untersuchten Schüleraufsätze beträchtliche orthographische und grammatische Defizite auf.
Zum anderen aber schied die Netzkommunikation als Verursacher aus, denn die Eigenheiten des digitalen Schreibens hatten in den schulischen Texten keine Spuren hinterlassen. Das zeigte der Vergleich mit SMS -, Twitter und E-Mail-Texten derselben Schüler. Für Normschwächen mussten folglich andere Gründe - zum Beispiel ein sehr fehlertoleranter Deutschunterricht - verantwortlich sein.
Allerdings haben diese Daten, wie die Linguistinnen einräumen, nur noch begrenzte Aussagekraft, denn sie sind fast zehn Jahre alt. Smartphones haben mittlerweile in den Kinderzimmern Einzug gehalten, und der Einfluss des digitalen Schreibens auf die Beherrschung der Schriftsprache könnte sich deutlich verstärkt haben. Aktuelle Untersuchungen, so die Autorinnen, fehlen bislang. Unerwähnt lassen sie allerdings eine zeitliche Längsschnittstudie des Sprachdidaktikers Wolfgang Steinig. Sie liefert Indizien dafür, dass internettypische Textformen und Stilmerkmale mittlerweile schon das schulische Schreiben von Viertklässlern beeinflussen.
Leider verzichten Dürscheid und Frick auf eine sprachhistorische Einbettung, die ihrem Thema die nötige Tiefenschärfe gegeben hätte. Denn was wir erleben, ist nichts weniger als der allmähliche Abschied vom Konzept der "Schriftsprache", wie wir sie noch kennen. In ihrer heutigen Form wurzelt sie in der Aufklärungszeit, als sich in Konkurrenz zu Latein und Französisch die Grundprinzipien einer überregional normierten deutschen Kultursprache herausbildeten, die es erlaubt, differenzierte Gedankengänge und nuancierte Urteile über den Dunstkreis des eigenen Milieus hinaus zu vermitteln.
Die Emanzipation der Schriftlichkeit von der Mündlichkeit und die Gleichsetzung von Schrift- und Hochsprache war die Voraussetzung für solche Qualitäten. Diese Entwicklung wird in Teilen der Netzkommunikation wieder rückgängig gemacht. Das betrifft Wortwahl und Grammatik ebenso wie die Orthographie, die im Laufe der Geschichte zu einem System herangereift ist, das über die reine Kodierung von Lauten weit hinausgeht und dem Leser eine Fülle semantischer und grammatischer Informationen liefert. Die halbphonetischen Schreibweisen und sprechsprachlichen Muster von WhatsApp & Co erinnern dagegen oft an Texte des Mittelalters, als die Schrift nur der Speicher des gesprochenen Wortes war. Vor diesem Hintergrund klingt es etwas dünn, wenn die Autorinnen sich auf das Linguisten-Mantra zurückziehen, jeder Sprachwandel sei automatisch ein Fortschritt, weil er ja den Bedürfnissen der Sprecher entspringe.
Zum einen ist die Behauptung zirkulär: Man schließt von gerade aktuellen Sprachformen auf zugrunde liegende Bedürfnisse, die dann wiederum die Sprachformen rechtfertigen sollen. Zum anderen klaffen individuelle Bedürfnisse und gesellschaftlicher Bedarf oder berufliche Anforderungen mitunter weit auseinander, wie jeder Stellenbewerber feststellt, der aufgrund mangelhafter Schreibfähigkeiten abgelehnt wird. Nun betonen zwar auch Dürscheid und Frick, wie wichtig es ist, in offiziellen Situationen normgerecht schreiben zu können. Doch dass diese Normen mehr sind als nur ein sozialer Zwang, dem man sich eben beugen muss, dass sie vielmehr das Gerüst einer entwickelten Sprachkultur bilden, die nicht nur eine Sprachvariante unter anderen ist - so viel Wertung hätten sie sich schon erlauben dürfen.
WOLFGANG KRISCHKE.
Christa Dürscheid und Karina Frick: "Schreiben Digital". Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2016. 156 S., Abb., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gute N8, Grammatik! Die Linguistinnen Christa Dürscheid und Karina Frick bilanzieren den Einfluss digitaler Formate auf unser Schreiben und Sprechen.
Schreib mal wieder!", appellierte in den Achtzigern ein Slogan der Bundespost an die Bürger, die immer häufiger statt zum Stift zum Telefonhörer griffen. Dreißig Jahre später wird so viel geschrieben wie nie zuvor, während das Telefonieren unter Jugendlichen nur noch eine Nebenrolle spielt. Allerdings sind es nicht Briefe und Karten, sondern digitale Nachrichten, die per WhatsApp, SMS, E-Mail oder Twitter verschickt werden. Die Frage, wie sich das digitale Sprechschreiben, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf diese Weise entstanden ist, auf das normale Standarddeutsch auswirken könnte, ist immer noch ein beliebtes Thema in den Medien. Der umgangssprachliche Duktus der Chats und SMS-Botschaften, ihre Verschleifungen und Verkürzungen, die Suspendierung der Orthographie und die Verwendung visueller Signale wurden von vielen Beobachtern als kreative Innovationen begrüßt, während sprachkritischere Geister die deutsche Grammatik in Auflösung sahen.
Die Sprachwissenschaftlerinnen Christa Dürscheid und Karina Frick von der Universität Zürich, die die Handy- und Internet-Kommunikation seit vielen Jahren untersuchen, liefern nun einen kompakten Überblick über die Entwicklung des digitalen Schreibens. In ihrem flüssig und verständlich geschriebenen Buch kommen sie mit einem Minimum an fachlicher Terminologie aus und beschränken theoretische Erörterungen auf das Notwendige. Dass es sich nur um eine Zwischenbilanz handeln kann, liegt angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Rahmenbedingungen der technischen Kommunikation ändern, in der Natur der Sache.
Das gute alte "Simsen" beispielsweise - 2001 gehörte es zu den "Wörtern des Jahres" - wird zwar noch praktiziert. Aber bei den Jüngeren hat WhatsApp der SMS den Rang abgelaufen. Dieser Dienst nutzt das Internet statt des Mobilfunknetzes und bietet Hunderte von Bildzeichen, um Dinge oder Emotionen zu symbolisieren. Der Hang zum "piktorialen Schreiben" lässt sich dank dieser Emojis (e japanisch gleich Bild, moji gleich Buchstabe) ganz anders ausleben als mit den handgemachten Emoticons vom ehedem. Der Utopie einer weltweit verständlichen Bilderschrift, die alle Sprachbarrieren überwindet, räumen die Autorinnen aber keine Chance auf Verwirklichung ein. Viele Emojis werden kulturabhängig und sogar individuell sehr unterschiedlich interpretiert, außerdem eignen sie sich kaum für die Darstellung logischer und grammatischer Zusammenhänge. WhatsApp dient mittlerweile auch für die meisten Chats als Plattform, während die allgemein zugänglichen, aber anonymen Chaträume an Bedeutung verloren haben. Gut gehalten im Wettbewerb der Kommunikationsmedien hat sich die mittlerweile schon ehrwürdige E-Mail. Über alle Altersklassen hinweg ist sie nach wie vor das beliebteste Format des digitalen Schreibens.
Die Autorinnen lassen keinen Zweifel daran, dass sich die einst bestaunte oder bekrittelte Mischkultur aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit, aus Slang, Dialekt, Stummelsprech und Bildsymbolik etabliert hat. Gute Indikatoren dafür sind Verschleifungen (aufm), Abkürzungen (hdl = hab' dich lieb) oder hybride Formen (gute N8). Sie existieren weiterhin, obwohl Platzbegrenzungen oder der Wunsch, Kosten zu sparen, die sie anfänglich motiviert haben mögen, kaum noch eine Rolle spielen. Vielmehr folgen diese Sprachformen eigenen Normen der Informalität, die das digitale Schreiben herausgebildet hat - ein standardisierter Nicht-Standard für den schnellen dialogischen Austausch, den kennen muss, wer dazugehören will. Schreibkompetenz, so Dürscheid und Frick, muss in der Internet-Moderne mehr als nur die Beherrschung der Standardsprache umfassen.
Umso stärker stellt sich dann aber die Frage, welche Auswirkungen das digitale Schreiben langfristig auf ebendieses Standarddeutsch, das ja immer noch die Leitnorm darstellt, ausübt. Können Jugendliche, die in den sprachlichen Parallelwelten der Smartphone-Kommunikation aufwachsen, überhaupt noch einen lesbaren Aufsatz, einen präzisen Bericht, ein angemessenes Bewerbungsschreiben verfassen? Eine großangelegte Studie, die Christa Dürscheid und ihr Team vor mehreren Jahren durchführten, brachte zweierlei zu Tage: Zum einen wiesen die von ihnen untersuchten Schüleraufsätze beträchtliche orthographische und grammatische Defizite auf.
Zum anderen aber schied die Netzkommunikation als Verursacher aus, denn die Eigenheiten des digitalen Schreibens hatten in den schulischen Texten keine Spuren hinterlassen. Das zeigte der Vergleich mit SMS -, Twitter und E-Mail-Texten derselben Schüler. Für Normschwächen mussten folglich andere Gründe - zum Beispiel ein sehr fehlertoleranter Deutschunterricht - verantwortlich sein.
Allerdings haben diese Daten, wie die Linguistinnen einräumen, nur noch begrenzte Aussagekraft, denn sie sind fast zehn Jahre alt. Smartphones haben mittlerweile in den Kinderzimmern Einzug gehalten, und der Einfluss des digitalen Schreibens auf die Beherrschung der Schriftsprache könnte sich deutlich verstärkt haben. Aktuelle Untersuchungen, so die Autorinnen, fehlen bislang. Unerwähnt lassen sie allerdings eine zeitliche Längsschnittstudie des Sprachdidaktikers Wolfgang Steinig. Sie liefert Indizien dafür, dass internettypische Textformen und Stilmerkmale mittlerweile schon das schulische Schreiben von Viertklässlern beeinflussen.
Leider verzichten Dürscheid und Frick auf eine sprachhistorische Einbettung, die ihrem Thema die nötige Tiefenschärfe gegeben hätte. Denn was wir erleben, ist nichts weniger als der allmähliche Abschied vom Konzept der "Schriftsprache", wie wir sie noch kennen. In ihrer heutigen Form wurzelt sie in der Aufklärungszeit, als sich in Konkurrenz zu Latein und Französisch die Grundprinzipien einer überregional normierten deutschen Kultursprache herausbildeten, die es erlaubt, differenzierte Gedankengänge und nuancierte Urteile über den Dunstkreis des eigenen Milieus hinaus zu vermitteln.
Die Emanzipation der Schriftlichkeit von der Mündlichkeit und die Gleichsetzung von Schrift- und Hochsprache war die Voraussetzung für solche Qualitäten. Diese Entwicklung wird in Teilen der Netzkommunikation wieder rückgängig gemacht. Das betrifft Wortwahl und Grammatik ebenso wie die Orthographie, die im Laufe der Geschichte zu einem System herangereift ist, das über die reine Kodierung von Lauten weit hinausgeht und dem Leser eine Fülle semantischer und grammatischer Informationen liefert. Die halbphonetischen Schreibweisen und sprechsprachlichen Muster von WhatsApp & Co erinnern dagegen oft an Texte des Mittelalters, als die Schrift nur der Speicher des gesprochenen Wortes war. Vor diesem Hintergrund klingt es etwas dünn, wenn die Autorinnen sich auf das Linguisten-Mantra zurückziehen, jeder Sprachwandel sei automatisch ein Fortschritt, weil er ja den Bedürfnissen der Sprecher entspringe.
Zum einen ist die Behauptung zirkulär: Man schließt von gerade aktuellen Sprachformen auf zugrunde liegende Bedürfnisse, die dann wiederum die Sprachformen rechtfertigen sollen. Zum anderen klaffen individuelle Bedürfnisse und gesellschaftlicher Bedarf oder berufliche Anforderungen mitunter weit auseinander, wie jeder Stellenbewerber feststellt, der aufgrund mangelhafter Schreibfähigkeiten abgelehnt wird. Nun betonen zwar auch Dürscheid und Frick, wie wichtig es ist, in offiziellen Situationen normgerecht schreiben zu können. Doch dass diese Normen mehr sind als nur ein sozialer Zwang, dem man sich eben beugen muss, dass sie vielmehr das Gerüst einer entwickelten Sprachkultur bilden, die nicht nur eine Sprachvariante unter anderen ist - so viel Wertung hätten sie sich schon erlauben dürfen.
WOLFGANG KRISCHKE.
Christa Dürscheid und Karina Frick: "Schreiben Digital". Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2016. 156 S., Abb., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main