Nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald stand Jorge Semprun vor der Entscheidung Leben oder Schreiben; er entschied sich gegen das Schreiben. Später dann revidierte er seinen Entschluß, und auch dieses neue Buch ist der Versuch, mit immer wieder auftretenden Alpträumen und Schreckensbildern fertig zu werden. "Als Schriftsteller und im schmerzenden Rückblick hat Jorge Semprun die Erinnerung an Buchenwald wachgehalten; als Europäer hat er uns in der Hoffnung bestärkt, daß trotz Buchenwald Weimar sichtbar bleibt. Der schmerzende Rückblick und die stärkende Hoffnung - wir haben ihm für beides zu danken." (Wolf Lepenies.)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.1995Den Tod in die Zukunft verbannen
"Schreiben oder Leben": Jorge Semprun entscheidet sich · Von Michael Wildt
"Ich fühlte mich in der verwüsteten Kälte dieses Blicks gefangen, eines glänzenden Blicks in einem knochigen, abgezehrten Gesicht. Ich hatte den Eindruck, von Augen jenseits oder diesseits des Lebens beobachtet, abgeschätzt zu werden. Als käme der neutrale, flache Strahl dieses Blicks von einem toten Stern, einer verschwundenen Existenz zu mir."
Die Begegnung fand am 12. April 1945 im Konzentrationslager Buchenwald statt, einen Tag nach der Befreiung. Der junge Häftling, über den der französische Offizier in amerikanischer Uniform an seine Verlobte in Paris schrieb, hieß Jorge Semprun, 21 Jahre alt, Häftlingsnummer 44904, mit einem roten Winkel und schwarzem S an der Jacke, die ihn als politischen Gefangenen und Spanier auswiesen. Semprun führte den Franzosen und zwei weitere amerikanische Offiziere durch das Lager.
Man griffe zu kurz, wollte man Jorge Sempruns neues Buch, das vornehmlich die kurze Zeitspanne von April bis Dezember 1945 umfaßt, als den letzten Teil einer autobiographischen Häftlingstrilogie bezeichnen, die mit "Die große Reise" 1963 begonnen habe und durch "Was für ein schöner Sonntag" 1980 fortgesetzt worden sei. "Schreiben oder Leben" überschreitet den Horizont der Befreiung, jenen Moment des Stillstands, in dem zwar der Tod seine alles beherrschende Macht verloren hatte, das Sterben aber noch nicht beendet war. Semprun erzählt, was er bislang nur angedeutet hat: seinen Übertritt in das Leben. Aus Erinnerungen, literarischen Assoziationen, philosophischen und politischen Reflexionen setzt sich dieses Buch wie ein Kaleidoskop zusammen.
,Schreiben oder Leben" ist keine literarische Metapher, sondern eine reale, existentielle Entscheidung. Manche der erzählten Begebenheiten sind aus früheren Büchern bekannt. Nicht alles ist neu in diesem Band, aber alles erhält eine neue Bedeutung. "Schreiben oder Leben" ist Sempruns persönlichstes und eindrucksvollstes Buch geworden. Wenn die unzähligen Gedenkreden und Mahnappelle dieses Jahres längst vergessen sein werden und die zum fünfzigjährigen Jubiläum renovierten KZ-Gedenkstätten schon wieder verwittern, wird man dieses Buch immer noch lesen, atemlos, gebannt und voller Bewunderung.
Wie viele andere begann auch Semprun nach der Befreiung, seine Erlebnisse in Buchenwald aufzuzeichnen. Aber während für Primo Levi das Schreiben Überleben bedeutete, bis auch ihn der Tod einholte, mußte Semprun sich den Tod, wenn er über ihn schrieb, vergegenwärtigen und drohte, von ihm überwältigt zu werden. Nicht daß Semprun das Vermögen zu schreiben gefehlt hätte, er mußte sich vielmehr entscheiden, ob er sich schreibend dem Tod aussetzen oder leben wollte. Die Entscheidung fiel nicht in weltabgewandter Zurückgezogenheit, sondern in Ascona im Dezember 1945 in der kurzen Liebe mit einer jungen Schweizerin aus großbürgerlichem Hause. Lorène wußte nicht, in wen sie sich verliebt hatte. Sogar seinen wirklichen Namen verschwieg Semprun, in voller Absicht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er wußte, wozu er sich entschloß. Zu glauben, über irgend etwas anderes als das Lager, den Tod schreiben zu können, war aussichtslos. Die Entscheidung hieß: L'écriture ou la vie. Lorène war das Leben. Semprun gab den Vorsatz, Schriftsteller zu werden, auf und ging in den politischen Untergrund, als kommunistischer Kämpfer gegen das Regime Francos.
Ursprünglich sollte das Buch "L'écriture ou la mort" heißen, und seine drei Teile lassen sich in ihrer unterschiedlichen Bestimmung zum Tod lesen. Die Befreiung rückte ihn in die Vergangenheit, in weit zurückliegende Ferne. Der Versuch, die Erinnerungen festzuhalten, holte den Tod in die Gegenwart zurück, und nur der Entschluß, nicht zu schreiben, bannte ihn aus dem Leben. Erst sechzehn Jahre später entstand "Die große Reise". In Madrid 1961, in einer illegalen Wohnung in der Calle Concepcion Bahamonde, als die Gefahr bestand, daß Francos Polizei die illegale Organisation auffliegen lassen könnte und Semprun sich eine Zeitlang nicht öffentlich zeigen durfte, brach der jahrzehntelange Bann, die Zeit des Schweigens und Vergessens war vorüber. Im dritten Teil erzählt Semprun von dem Wagnis, die Vergangenheit aufzuschließen und dem Tod wieder seinen Platz in der Zukunft zuzuweisen.
Der Tod durchzieht das Buch, aber es ist nicht düster. Im Gegenteil, in ihm steckt ein erstaunlicher, beinahe weiser Gleichmut, eine tiefe Gewißheit über die Freiheit des Menschen. In Sempruns Perspektive bewahren die Häftlinge, wiewohl geschunden und gepeinigt, ihre Würde. Auf der Seuchenstation des Reviers, ein Ort, den die SS panisch mied, versammelten sich am Sonntag nachmittag während der wenigen Freistunden politische Häftlinge aus allen Ländern, um über Kant, Hegel, Schelling oder die Romane von Malraux zu reden. Hier, im Block 56 des Kleinen Lagers, diskutierten die von den Nationalsozialisten aus ganz Europa Verschleppten die These, daß das radikal Böse nicht das Unmenschliche sei, sondern einer der möglichen Entwürfe der Menschlichkeit des Menschen. Außer Primo Levi hat selten jemand so unerbittlich und kompromißlos wie Semprun durch die herrschende Trennung von Tätern und Opfern hindurch gedacht, ohne mit einem einzigen Wort die Schrecken des Lagers und die Verantwortlichkeit für den Massenmord zu relativieren.
Kann es verwundern, daß neben dem Tod die Poesie, der Versuch, außerhalb der Alltagsregeln und der Gewöhnlichkeit eine präzise sprachliche Form für Gefühle, Erlebnisse, Situationen zu finden, den zweiten Grundton dieses Buches angibt? Gedichte begleiten Semprun. Am Totenbett des Häftlings Maurice Halbwachs spricht er Verse von Baudelaire, gemeinsam deklamieren die Kameraden Gedichte von Valéry, Vallejo und Aragon. Er habe, schreibt Semprun, das Glück gehabt, in entscheidenden Momenten seines Lebens immer auf einen Dichter gestoßen zu sein. "Schreiben oder Leben" bildet den Schlüssel zum Schriftsteller Jorge Semprun. Kaum jemand hat so überzeugend über die Totalitarismen dieses Jahrhunderts schreiben können wie der Résistance-Kämpfer, KZ-Häftling, Kommunist und ausgeschlossene Renegat Semprun, der zu einem der großen europäischen Intellektuellen wurde. In diesem Buch läßt er uns Einblick nehmen in den Kern seines Werks, die Wahl der Freiheit aus der Brüderlichkeit des Todes.
Am 11. April 1987, 42 Jahre nach der Befreiung Buchenwalds, am selben Tag, an dem sich in Turin Primo Levi das Leben nahm, geriet Semprun beim Schreiben seines Romans "Netschajew kehrt zurück" unversehens in die Ich-Form. Statt des Protagonisten Roger Marroux sprach mit einem Mal Jorge Semprun. Die fünfzehn Blätter dieses Apriltages bildeten den Grundstock für "Schreiben oder Leben", abgelegt in einem Aktendeckel. Fünf Jahre später bittet ihn ein deutsches Fernsehteam zu einem Interview auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Die Begegnung mit Buchenwald nach 47 Jahren löst endgültig die erstarrten Erinnerungen. Im Hotel "Elephant" in Weimar träumt Semprun wieder vom Schnee, glitzernd im Licht der Scheinwerfer wie in jener Nacht im Jahr 1944, als er das Lager zum ersten Mal betrat. "Ich träumte nicht mehr, ich war in den Traum zurückgekehrt, der mein Leben gewesen war, der mein Leben sein wird."
Jorge Semprun: "Schreiben oder Leben". Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 369 S., geb., 44,- DM.
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"Schreiben oder Leben": Jorge Semprun entscheidet sich · Von Michael Wildt
"Ich fühlte mich in der verwüsteten Kälte dieses Blicks gefangen, eines glänzenden Blicks in einem knochigen, abgezehrten Gesicht. Ich hatte den Eindruck, von Augen jenseits oder diesseits des Lebens beobachtet, abgeschätzt zu werden. Als käme der neutrale, flache Strahl dieses Blicks von einem toten Stern, einer verschwundenen Existenz zu mir."
Die Begegnung fand am 12. April 1945 im Konzentrationslager Buchenwald statt, einen Tag nach der Befreiung. Der junge Häftling, über den der französische Offizier in amerikanischer Uniform an seine Verlobte in Paris schrieb, hieß Jorge Semprun, 21 Jahre alt, Häftlingsnummer 44904, mit einem roten Winkel und schwarzem S an der Jacke, die ihn als politischen Gefangenen und Spanier auswiesen. Semprun führte den Franzosen und zwei weitere amerikanische Offiziere durch das Lager.
Man griffe zu kurz, wollte man Jorge Sempruns neues Buch, das vornehmlich die kurze Zeitspanne von April bis Dezember 1945 umfaßt, als den letzten Teil einer autobiographischen Häftlingstrilogie bezeichnen, die mit "Die große Reise" 1963 begonnen habe und durch "Was für ein schöner Sonntag" 1980 fortgesetzt worden sei. "Schreiben oder Leben" überschreitet den Horizont der Befreiung, jenen Moment des Stillstands, in dem zwar der Tod seine alles beherrschende Macht verloren hatte, das Sterben aber noch nicht beendet war. Semprun erzählt, was er bislang nur angedeutet hat: seinen Übertritt in das Leben. Aus Erinnerungen, literarischen Assoziationen, philosophischen und politischen Reflexionen setzt sich dieses Buch wie ein Kaleidoskop zusammen.
,Schreiben oder Leben" ist keine literarische Metapher, sondern eine reale, existentielle Entscheidung. Manche der erzählten Begebenheiten sind aus früheren Büchern bekannt. Nicht alles ist neu in diesem Band, aber alles erhält eine neue Bedeutung. "Schreiben oder Leben" ist Sempruns persönlichstes und eindrucksvollstes Buch geworden. Wenn die unzähligen Gedenkreden und Mahnappelle dieses Jahres längst vergessen sein werden und die zum fünfzigjährigen Jubiläum renovierten KZ-Gedenkstätten schon wieder verwittern, wird man dieses Buch immer noch lesen, atemlos, gebannt und voller Bewunderung.
Wie viele andere begann auch Semprun nach der Befreiung, seine Erlebnisse in Buchenwald aufzuzeichnen. Aber während für Primo Levi das Schreiben Überleben bedeutete, bis auch ihn der Tod einholte, mußte Semprun sich den Tod, wenn er über ihn schrieb, vergegenwärtigen und drohte, von ihm überwältigt zu werden. Nicht daß Semprun das Vermögen zu schreiben gefehlt hätte, er mußte sich vielmehr entscheiden, ob er sich schreibend dem Tod aussetzen oder leben wollte. Die Entscheidung fiel nicht in weltabgewandter Zurückgezogenheit, sondern in Ascona im Dezember 1945 in der kurzen Liebe mit einer jungen Schweizerin aus großbürgerlichem Hause. Lorène wußte nicht, in wen sie sich verliebt hatte. Sogar seinen wirklichen Namen verschwieg Semprun, in voller Absicht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er wußte, wozu er sich entschloß. Zu glauben, über irgend etwas anderes als das Lager, den Tod schreiben zu können, war aussichtslos. Die Entscheidung hieß: L'écriture ou la vie. Lorène war das Leben. Semprun gab den Vorsatz, Schriftsteller zu werden, auf und ging in den politischen Untergrund, als kommunistischer Kämpfer gegen das Regime Francos.
Ursprünglich sollte das Buch "L'écriture ou la mort" heißen, und seine drei Teile lassen sich in ihrer unterschiedlichen Bestimmung zum Tod lesen. Die Befreiung rückte ihn in die Vergangenheit, in weit zurückliegende Ferne. Der Versuch, die Erinnerungen festzuhalten, holte den Tod in die Gegenwart zurück, und nur der Entschluß, nicht zu schreiben, bannte ihn aus dem Leben. Erst sechzehn Jahre später entstand "Die große Reise". In Madrid 1961, in einer illegalen Wohnung in der Calle Concepcion Bahamonde, als die Gefahr bestand, daß Francos Polizei die illegale Organisation auffliegen lassen könnte und Semprun sich eine Zeitlang nicht öffentlich zeigen durfte, brach der jahrzehntelange Bann, die Zeit des Schweigens und Vergessens war vorüber. Im dritten Teil erzählt Semprun von dem Wagnis, die Vergangenheit aufzuschließen und dem Tod wieder seinen Platz in der Zukunft zuzuweisen.
Der Tod durchzieht das Buch, aber es ist nicht düster. Im Gegenteil, in ihm steckt ein erstaunlicher, beinahe weiser Gleichmut, eine tiefe Gewißheit über die Freiheit des Menschen. In Sempruns Perspektive bewahren die Häftlinge, wiewohl geschunden und gepeinigt, ihre Würde. Auf der Seuchenstation des Reviers, ein Ort, den die SS panisch mied, versammelten sich am Sonntag nachmittag während der wenigen Freistunden politische Häftlinge aus allen Ländern, um über Kant, Hegel, Schelling oder die Romane von Malraux zu reden. Hier, im Block 56 des Kleinen Lagers, diskutierten die von den Nationalsozialisten aus ganz Europa Verschleppten die These, daß das radikal Böse nicht das Unmenschliche sei, sondern einer der möglichen Entwürfe der Menschlichkeit des Menschen. Außer Primo Levi hat selten jemand so unerbittlich und kompromißlos wie Semprun durch die herrschende Trennung von Tätern und Opfern hindurch gedacht, ohne mit einem einzigen Wort die Schrecken des Lagers und die Verantwortlichkeit für den Massenmord zu relativieren.
Kann es verwundern, daß neben dem Tod die Poesie, der Versuch, außerhalb der Alltagsregeln und der Gewöhnlichkeit eine präzise sprachliche Form für Gefühle, Erlebnisse, Situationen zu finden, den zweiten Grundton dieses Buches angibt? Gedichte begleiten Semprun. Am Totenbett des Häftlings Maurice Halbwachs spricht er Verse von Baudelaire, gemeinsam deklamieren die Kameraden Gedichte von Valéry, Vallejo und Aragon. Er habe, schreibt Semprun, das Glück gehabt, in entscheidenden Momenten seines Lebens immer auf einen Dichter gestoßen zu sein. "Schreiben oder Leben" bildet den Schlüssel zum Schriftsteller Jorge Semprun. Kaum jemand hat so überzeugend über die Totalitarismen dieses Jahrhunderts schreiben können wie der Résistance-Kämpfer, KZ-Häftling, Kommunist und ausgeschlossene Renegat Semprun, der zu einem der großen europäischen Intellektuellen wurde. In diesem Buch läßt er uns Einblick nehmen in den Kern seines Werks, die Wahl der Freiheit aus der Brüderlichkeit des Todes.
Am 11. April 1987, 42 Jahre nach der Befreiung Buchenwalds, am selben Tag, an dem sich in Turin Primo Levi das Leben nahm, geriet Semprun beim Schreiben seines Romans "Netschajew kehrt zurück" unversehens in die Ich-Form. Statt des Protagonisten Roger Marroux sprach mit einem Mal Jorge Semprun. Die fünfzehn Blätter dieses Apriltages bildeten den Grundstock für "Schreiben oder Leben", abgelegt in einem Aktendeckel. Fünf Jahre später bittet ihn ein deutsches Fernsehteam zu einem Interview auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Die Begegnung mit Buchenwald nach 47 Jahren löst endgültig die erstarrten Erinnerungen. Im Hotel "Elephant" in Weimar träumt Semprun wieder vom Schnee, glitzernd im Licht der Scheinwerfer wie in jener Nacht im Jahr 1944, als er das Lager zum ersten Mal betrat. "Ich träumte nicht mehr, ich war in den Traum zurückgekehrt, der mein Leben gewesen war, der mein Leben sein wird."
Jorge Semprun: "Schreiben oder Leben". Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 369 S., geb., 44,- DM.
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