Eine reich illustrierte Reise durch die europäische Schriftgeschichte.Handschriften sind persönlicher als digitale Botschaften - davon zeugt der Lettering-Trend.Mit Informationen über Schreibgeräte und Materialien, die die Schriftentwicklung beeinflusst haben.Schreibschriften sind für uns etwas Alltägliches. In der Schule erlernt, hat man sich entweder mit der «laufenden Schrift» angefreundet oder sie bald gegen die Druckschrift ausgetauscht. Tatsächlich gehören die Schreib- oder Kursivschriften schon seit Jahrtausenden zu unserer menschlichen Zivilisation und dienten der Speicherung von Wissen.Dieses reich illustrierte Buch führt durch die europäische Schriftgeschichte, es stellt historische und politische Sachverhalte zum handschriftlichen Schreiben dar und greift aktuelle Diskussionen zum Thema Handschrift auf. Da Schreibschriften stark vom Schreibwerkzeug und den Trägermaterialien geprägt sind, dürfen auch Exkurse zu Gänsekiel, Schiefertafel oder Faserschreiber nicht fehlen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.2020Tintenklecksen hat seine kognitiven Vorteile
Mit Griffeln, Federn und Stiften: Lena Zeise führt auf lebendige Art durch die Geschichte der Schreibschriften
Eine niederländische Kontorszene, gezeichnet 1885: Hagere, bebrillte Gestalten in Kitteln beugen sich über die Stehpulte, man hört ihre Federn förmlich über das Papier kratzen. Das Bild aus Lena Zeises Buch über die Geschichte und Gegenwart der Schreibschriften heißt "De Pennelikkers". Das Wort, das es auch im Plattdeutschen gibt, findet sich im Grimmschen Wörterbuch als "Federlecker" verzeichnet. Es gehört wie "Tintenkleckser", "Federfuchser" oder "Blackscheißer" in die Reihe der Schimpfwörter, mit denen einst der Beruf des Schreibens verunglimpft wurde. Sie gehören ebenso der Vergangenheit an wie das Schreiben als Handwerk mit seinen Federkielen, Tintenfässern und Streusandbüchsen.
Als Kulturtechnik wird die Handschrift zwar immer noch gelehrt und praktiziert. Doch als Selbstverständlichkeit gilt auch das nicht mehr. Pädagogen, Politiker und Digital-Lobbyisten stellen ihre schulische Notwendigkeit zunehmend in Frage. Einzuüben, wie man Buchstaben eigenhändig zu Papier bringt und dort zu Wörtern verbindet, erscheint angesichts der Allgegenwart digitaler Tastaturen als unnötige Zeitverschwendung. Dass das eine Fehleinschätzung ist, weil das Schreiben von Hand eine zivilisatorische Errungenschaft darstellt, die auch in den Zeiten von Computer und Smartphone eine fundamentale Bedeutung hat, macht Lena Zeise deutlich.
Ihr lebendig und laienfreundlich geschriebenes Buch konzentriert sich auf die Schreibschriften des lateinischen Alphabets. Es spannt einen weiten Bogen, der kulturgeschichtliche und handwerkliche, politische, pädagogische, psychomotorische und ästhetische Aspekte umfasst. Als Grafikerin mit einem Blick für die visuellen Qualitäten des Themas hat die Autorin eine Fülle schöner und informativer Abbildungen zusammengetragen: Schriftproben, Prachturkunden, Seiten aus Schulheften und Poesiealben, historische Darstellungen unterschiedlicher Schreibsituationen machen diese Schriftgeschichte auch zu einem ästhetischen Vergnügen. Selbst gezeichnet hat Lena Zeise eine Reihe von Schreibutensilien. Anschaulich werden Herstellung und Handhabung von Griffeln, Federn und Stiften, von Papyrus und Pergament, Tinten und Tintenfässern, Wachs- und Schiefertafeln geschildert.
Viel Raum erhält die verzweigte Geschichte der Schriftarten und Schreibtechniken, wobei immer wieder deutlich wird, welch harte Arbeit dahintersteckte: "Drei Finger schreiben, der ganze Leib leidet", seufzt der Mönch im mittelalterlichen Skriptorium, der den Arm nicht aufstützen darf, damit das Pergament nicht verschmutzt. Dass Gutenbergs Drucktechnik mit beweglichen Metalllettern um 1450 das handschriftliche Kopieren von Büchern "fast über Nacht" überflüssig machte, trifft allerdings nicht zu. Noch jahrzehntelang waren solche in Manufakturen erstellten Kopien billiger als gedruckte Bücher, die zunächst als teure Luxusartikel auf den Markt kamen.
Ausführlich widmet sich die Autorin der "deutschen" und der "lateinischen" Schrift. Dabei behandelt sie neben der Schreibschrift auch die historisch und kulturpolitisch mit ihr verknüpften "gebrochenen" Druckschriften, die landläufig "Fraktur" genannt werden. Für die meisten heute lebenden Deutschen ist die Handschrift der Großelterngeneration nur noch ein Geheimcode, der obendrein im Ruch steht, eine "Nazischrift" zu sein. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: 1941 ordneten die Nationalsozialisten die Abschaffung der deutschen Schreibschrift sowie der "Fraktur" an, die jetzt als "jüdisch" galt. Das Frakturverbot entsprang allerdings nicht nur, wie Zeise meint, dem Wunsch, nach Kriegsbeginn die Auslandspropaganda durch die international gebräuchliche Antiqua effektiver zu machen. Vielmehr spiegelte sich in der wechselhaften Schriftpolitik der Nationalsozialisten auch ihre ambivalente Haltung zur Moderne. Hitler hatte schon 1934 "jene Rückwärtse" kritisiert, die im Zeitalter von Stahl, Glas und Beton "Straßenbenennungen und Maschinenschrift in echt gotischen Lettern" anstrebten.
Der Name "Sütterlin", unter dem heutzutage die deutsche Schreibschrift firmiert, bezeichnet eigentlich nur eine ihrer Unterarten: eine Lernschrift für Schulanfänger, die der Grafiker Ludwig Sütterlin 1911 entwickelte. Dass die Schreibschrift nicht nur einen kulturgeschichtlichen, sondern auch einen immensen kognitiven Wert hat, macht Zeise an vielen Stellen des Buches deutlich. Indem Schulanfänger die Buchstaben eigenhändig zu Papier bringen und zu "Wortbildern" verbinden, entwickeln sie ein Gefühl für das Verhältnis zwischen dem Fluss der Laute, dem Bau der Wörter und den Zeichen auf dem Papier. Sie verinnerlichen so das Funktionsprinzip der Schriftsprache. Studien zeigen zudem, dass Inhalte besser durchdrungen und nachhaltiger memoriert werden, wenn man sie von Hand notiert, statt sie in den Computer zu tippen.
Wegen all dieser Vorzüge sieht Lena Zeise die Handschrift auch zukünftig nicht in Gefahr. Dass viele Schulkinder statt echter Schreibschriften, die die Buchstaben flüssig verbinden, nur noch Druckbuchstaben lernen, hält sie für zweitrangig. Wichtig sei, dass Kinder überhaupt übten, mit der Hand zu schreiben, denn auf dieser Basis würden sie dann eine individuelle und funktionierende Handschrift entwickeln. Aktuelle Studien zu den Schreibfähigkeiten von Schülern und Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis stimmen skeptisch gegenüber solchem Optimismus. Eine Untersuchung des Deutschen Lehrerverbandes ergab, dass über die Hälfte der Jungen und fast ein Drittel der Mädchen an weiterführenden Schulen Probleme mit der Handschrift hatten.
Es spricht viel dafür, dass die Ursachen nicht nur in einem Übermaß an digitaler Kommunikation, sondern auch in einem falsch konzipierten Unterricht liegen, der die Bedeutung der Handschrift und die Voraussetzungen für ihren erfolgreichen Erwerb verkennt. Aber vielleicht hilft Lena Zeises Buch ja, den einmaligen Wert dieser Kulturtechnik wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen.
WOLFGANG KRISCHKE.
Lena Zeise: "Schreibschriften". Eine illustrierte Kulturgeschichte.
Haupt Verlag, Bern 2020. 208 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Griffeln, Federn und Stiften: Lena Zeise führt auf lebendige Art durch die Geschichte der Schreibschriften
Eine niederländische Kontorszene, gezeichnet 1885: Hagere, bebrillte Gestalten in Kitteln beugen sich über die Stehpulte, man hört ihre Federn förmlich über das Papier kratzen. Das Bild aus Lena Zeises Buch über die Geschichte und Gegenwart der Schreibschriften heißt "De Pennelikkers". Das Wort, das es auch im Plattdeutschen gibt, findet sich im Grimmschen Wörterbuch als "Federlecker" verzeichnet. Es gehört wie "Tintenkleckser", "Federfuchser" oder "Blackscheißer" in die Reihe der Schimpfwörter, mit denen einst der Beruf des Schreibens verunglimpft wurde. Sie gehören ebenso der Vergangenheit an wie das Schreiben als Handwerk mit seinen Federkielen, Tintenfässern und Streusandbüchsen.
Als Kulturtechnik wird die Handschrift zwar immer noch gelehrt und praktiziert. Doch als Selbstverständlichkeit gilt auch das nicht mehr. Pädagogen, Politiker und Digital-Lobbyisten stellen ihre schulische Notwendigkeit zunehmend in Frage. Einzuüben, wie man Buchstaben eigenhändig zu Papier bringt und dort zu Wörtern verbindet, erscheint angesichts der Allgegenwart digitaler Tastaturen als unnötige Zeitverschwendung. Dass das eine Fehleinschätzung ist, weil das Schreiben von Hand eine zivilisatorische Errungenschaft darstellt, die auch in den Zeiten von Computer und Smartphone eine fundamentale Bedeutung hat, macht Lena Zeise deutlich.
Ihr lebendig und laienfreundlich geschriebenes Buch konzentriert sich auf die Schreibschriften des lateinischen Alphabets. Es spannt einen weiten Bogen, der kulturgeschichtliche und handwerkliche, politische, pädagogische, psychomotorische und ästhetische Aspekte umfasst. Als Grafikerin mit einem Blick für die visuellen Qualitäten des Themas hat die Autorin eine Fülle schöner und informativer Abbildungen zusammengetragen: Schriftproben, Prachturkunden, Seiten aus Schulheften und Poesiealben, historische Darstellungen unterschiedlicher Schreibsituationen machen diese Schriftgeschichte auch zu einem ästhetischen Vergnügen. Selbst gezeichnet hat Lena Zeise eine Reihe von Schreibutensilien. Anschaulich werden Herstellung und Handhabung von Griffeln, Federn und Stiften, von Papyrus und Pergament, Tinten und Tintenfässern, Wachs- und Schiefertafeln geschildert.
Viel Raum erhält die verzweigte Geschichte der Schriftarten und Schreibtechniken, wobei immer wieder deutlich wird, welch harte Arbeit dahintersteckte: "Drei Finger schreiben, der ganze Leib leidet", seufzt der Mönch im mittelalterlichen Skriptorium, der den Arm nicht aufstützen darf, damit das Pergament nicht verschmutzt. Dass Gutenbergs Drucktechnik mit beweglichen Metalllettern um 1450 das handschriftliche Kopieren von Büchern "fast über Nacht" überflüssig machte, trifft allerdings nicht zu. Noch jahrzehntelang waren solche in Manufakturen erstellten Kopien billiger als gedruckte Bücher, die zunächst als teure Luxusartikel auf den Markt kamen.
Ausführlich widmet sich die Autorin der "deutschen" und der "lateinischen" Schrift. Dabei behandelt sie neben der Schreibschrift auch die historisch und kulturpolitisch mit ihr verknüpften "gebrochenen" Druckschriften, die landläufig "Fraktur" genannt werden. Für die meisten heute lebenden Deutschen ist die Handschrift der Großelterngeneration nur noch ein Geheimcode, der obendrein im Ruch steht, eine "Nazischrift" zu sein. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: 1941 ordneten die Nationalsozialisten die Abschaffung der deutschen Schreibschrift sowie der "Fraktur" an, die jetzt als "jüdisch" galt. Das Frakturverbot entsprang allerdings nicht nur, wie Zeise meint, dem Wunsch, nach Kriegsbeginn die Auslandspropaganda durch die international gebräuchliche Antiqua effektiver zu machen. Vielmehr spiegelte sich in der wechselhaften Schriftpolitik der Nationalsozialisten auch ihre ambivalente Haltung zur Moderne. Hitler hatte schon 1934 "jene Rückwärtse" kritisiert, die im Zeitalter von Stahl, Glas und Beton "Straßenbenennungen und Maschinenschrift in echt gotischen Lettern" anstrebten.
Der Name "Sütterlin", unter dem heutzutage die deutsche Schreibschrift firmiert, bezeichnet eigentlich nur eine ihrer Unterarten: eine Lernschrift für Schulanfänger, die der Grafiker Ludwig Sütterlin 1911 entwickelte. Dass die Schreibschrift nicht nur einen kulturgeschichtlichen, sondern auch einen immensen kognitiven Wert hat, macht Zeise an vielen Stellen des Buches deutlich. Indem Schulanfänger die Buchstaben eigenhändig zu Papier bringen und zu "Wortbildern" verbinden, entwickeln sie ein Gefühl für das Verhältnis zwischen dem Fluss der Laute, dem Bau der Wörter und den Zeichen auf dem Papier. Sie verinnerlichen so das Funktionsprinzip der Schriftsprache. Studien zeigen zudem, dass Inhalte besser durchdrungen und nachhaltiger memoriert werden, wenn man sie von Hand notiert, statt sie in den Computer zu tippen.
Wegen all dieser Vorzüge sieht Lena Zeise die Handschrift auch zukünftig nicht in Gefahr. Dass viele Schulkinder statt echter Schreibschriften, die die Buchstaben flüssig verbinden, nur noch Druckbuchstaben lernen, hält sie für zweitrangig. Wichtig sei, dass Kinder überhaupt übten, mit der Hand zu schreiben, denn auf dieser Basis würden sie dann eine individuelle und funktionierende Handschrift entwickeln. Aktuelle Studien zu den Schreibfähigkeiten von Schülern und Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis stimmen skeptisch gegenüber solchem Optimismus. Eine Untersuchung des Deutschen Lehrerverbandes ergab, dass über die Hälfte der Jungen und fast ein Drittel der Mädchen an weiterführenden Schulen Probleme mit der Handschrift hatten.
Es spricht viel dafür, dass die Ursachen nicht nur in einem Übermaß an digitaler Kommunikation, sondern auch in einem falsch konzipierten Unterricht liegen, der die Bedeutung der Handschrift und die Voraussetzungen für ihren erfolgreichen Erwerb verkennt. Aber vielleicht hilft Lena Zeises Buch ja, den einmaligen Wert dieser Kulturtechnik wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen.
WOLFGANG KRISCHKE.
Lena Zeise: "Schreibschriften". Eine illustrierte Kulturgeschichte.
Haupt Verlag, Bern 2020. 208 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
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