Die erste kultur- und geschichtswissenschaftliche Vermessung einer problematischen (Rechts-)Figur des 20. und 21. Jahrhunderts.Der Begriff des »Schreibtischtäters« nahm seit der Verurteilung Adolf Eichmanns eine erstaunliche Karriere. Der Organisator des Holocaust bündelte geradezu idealtypisch arbeitsteilige Prozesse, bürokratische Vernichtung und geteilte Verantwortlichkeit. Die Autoren kreisen die Entstehung, die Wirkung und die Problematik dieser Kategorie erstmals systematisch ein. Dabei werden Perspektiven der Literatur-, Kultur- und Zeitgeschichte mit solchen der Sozial-, Politik- und Rechtswissenschaft verbunden.Der »Schreibtischtäter« erweist sich als eine charakteristische Figur der Moderne, der spezifische Medien zugeordnet sind. Als Anstifter oder Ausführender versteht er sich als »Rädchen« in einem »Getriebe«, das Juristen ebenso herausfordert wie Kultursoziologen, denn der Begriff besaß von Beginn an auch eine Tendenz zur Verharmlosung.Aus dem Inhalt:Kerstin Hofmann: »Ich hatte nie davon gehört, dass man die Juden vernichten will.« Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg und die Grenzen der StrafverfolgungVerena Mais: »Also bin ich eine Schreibtischtäterin«. Paradoxien des Schreibens und der Täterschaft bei Elfriede JelinekAnnette Weinke: Sichtbare und unsichtbare Gewalt. Der »Schreibtischtäter« in den gewaltkritischen Diskursen der Nachkriegszeit
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2018In der friedlichen Stille ihrer Büros
Ein Sammelband nähert sich dem Schreibtischtäter. Gemeint sind damit meist Organisatoren des Holocaust.
Doch das Wort eignet sich sogar als politischer Kampfbegriff
VON RUDOLF WALTHER
Nicht nur Bücher haben sprichwörtlich ihre Schicksale, sondern auch politische Begriffe. Der Begriff „Schreibtischtäter“ ist in historischer, politischer und philologisch-semantischer Hinsicht bemerkenswert. In dem von Dirk van Laak und Dirk Rose herausgegebenen Sammelband beschäftigen sich 17 Autoren (Historiker, Literatur- und Medienwissenschaftler sowie Juristen) mit den zahlreichen Facetten des Begriffs.
Philologisch-semantisch gesehen hat der Begriff Schreibtischtäter nur im Deutschen in der wissenschaftlichen Prosa und in banalisiert-geschichtsloser Form in der Alltagssprache eine Karriere gemacht. „desk murderer“ und „white collar criminal“ sind im Englischen zwar geläufig, finden aber in der historisch-politischen Literatur, im Journalismus und in der Alltagssprache längst nicht so viel Verwendung wie im Deutschen. Im Französischen, Italienischen und Spanischen sind direkte Übersetzungen gar nicht möglich, sondern nur Hilfskonstrukte (im Französischen etwa „cerveau du crime“ oder „cerveau de la guerre“). Und dies, obwohl die Tatbestände, auf die der Begriff verweist, natürlich in allen modernen Gesellschaften gleichermaßen vorhanden sind: die logistische Vorbereitung, taktische und strategische Anordnung und Durchführung von Handlungen nicht am Tatort, sondern aus Büros, Kanzleien, Verwaltungen und Stäben im Hinterland heraus. Das gilt für Kriege und Massenverbrechen ebenso wie für die effiziente Verbreitung von Gütern, Dienstleistungen und Informationen. Der Dichter Theodor Fontane stellte schon für die Befreiungskriege im Hinblick auf die dort tätigen Bürokraten fest: „Ohne Federfuchserei geht es nicht mehr in der Welt.“
Die rasante Entwicklung der Kommunikations- und Transportmedien zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert hat die Distanz zwischen Planungsort und Tatort, Ursprung und Ziel von Interventionen wirtschaftlicher, militärischer oder politischer Art virtuell beliebig gedehnt, was erhebliche moralisch-politische Fragen hinsichtlich der Täterschaft aufwirft. „Manch ein Kapital, das heute in den Vereinigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, ist erst gestern in England kapitalisiertes Kinderblut“, schrieb Marx 1867. Der Schreibtischtäter ist ein „Untäter“ (Dirk Rose), der in der Regel nie mit dem direkt konfrontiert wird, was sich zuerst seiner eigenen Planung und Organisation verdankt.
Wie so oft in der Geschichte existiert der Tatbestand lange vor dem Wort, wird aber anders benannt. Karl Kraus wollte schon 1919 professorale und journalistische Kriegshetzer vor Gericht stellen, weil sich deren mit Druckerschwärze gedruckte Worte im Krieg „in Blut“ verwandelten. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurden – wie Christoph Jahr darlegt – zwar auch „Männer“ schuldig gesprochen, die „in der friedlichen Stille ihrer Büros in den Ministerien an diesem Feldzug (…) teilgenommen hatten“, aber das Wort Schreibtischtäter kam in den Verhandlungen nicht vor, obwohl darin inhaltlich genau das beschrieben wurde, was der israelische Chefankläger Gideon Hausner im Eichmann-Prozess dem Angeklagten vorwarf, nämlich „das Bluthandwerk vom Schreibtisch aus“ betrieben zu haben. Auch Hannah Arendt gebrauchte in ihrem berühmten Eichmann-Essay „Report on the Banality of Evil“ das Wort „desk murderer“ nicht, sondern sprach einige Monate danach in einem Brief auf Deutsch von „Schreibtischmördern“. Auf Deutsch hat Hannah Arendt das Wort Schreibtischtäter – entgegen verbreiteter Meinung – nie verwendet. Nach den Recherchen von Christoph Jahr tauchte der Begriff Schreibtischtäter in der deutschen Presse erst im Januar 1964 auf – drei Jahre nach dem Urteil im Eichmann-Prozess.
Auch Raul Hilberg, der Nestor der Holocaustforschung, verwendet den Begriff in seinem Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ (1961) nicht, wie René Schlott darlegt. Hilberg beschrieb jedoch sehr genau die Tätigkeit von Schreibtischtätern: „Die meisten Bürokraten verfassten Denkschriften, entwarfen Durchführungsbestimmungen, unterschrieben Briefe, telefonierten und nahmen an Besprechungen teil. Sie konnten ein ganzes Volk vernichten, ohne ihren Schreibtisch zu verlassen.“
Für die deutsche Nachkriegsjustiz waren NS-Täter, die nicht direkt an Straftaten beteiligt waren, zunächst „Gehilfen“, die nur wegen Beihilfehandlungen belangbar waren und in der Regel mild oder gar nicht bestraft wurden. Der Jurist Jan Schlösser klärt darüber auf, wie sich die Justiz aus dieser kompromittierenden Lage mit der Konstruktion „mittelbarer Täterschaft“ (Claus Roxin) befreite. Roxin geht von der Organisationsherrschaft des Schreibtischtäters über den eigentlichen Täter aus, also einem Autoritätsverhältnis zwischen einem die Tat ausführenden Täter und seinem planenden, organisierenden und befehlenden Hintermann.
Sehr früh begann die Übertragung des Begriffs auf Täter aus ganz anderen historisch-politischen Verhältnissen. Ein eng mit dem Rechtsradikalismus verbundener Strafverteidiger nannte im Frankfurter Auschwitz-Prozess (!) im Februar 1965 den SED-Funktionär – und früheren Häftling in Auschwitz-Monowitz – Erich Markowitsch wegen des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze ebenso losgelöst von historischen Konnotationen des Begriffs einen „Schreibtischtäter“ wie Willy Brandt die Verleumder seiner Ostpolitik. In kurzer Zeit wurde der Begriff zum inhaltlich entleerten Kampfbegriff im politischen Handgemenge.
Am Beispiel von Martin Walsers Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ zeigt Kerstin Stüssel in ihrem Aufsatz, wie das virulente Problem der „Schreibtischtäterschaft“ in der Nachkriegsliteratur behandelt wurde. Die kontroverse Haltung deutscher Intellektueller und Schriftsteller zum Ersten Weltkrieg behandelt Sarah Mohi-von Känel. Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann standen auf der Seite der „Papierkrieger“, diese bezichtigten Kurt Tucholsky und Karl Kraus, „durch Anpreisung fremden Heldentodes sich den eigenen zu ersparen“ (Kraus). Der Band verschafft einen von Sachkunde geprägten Blick auf die Geschichte eines nur vermeintlich klaren Begriffs.
Wie so oft in der Geschichte
existiert der Tatbestand
lange vor dem Wort
Weder Hannah Arendt
noch Raul Hilberg gebrauchten
das Wort „Schreibtischtäter“
Dirk van Laak,
Dirk Rose (Hg.):
Schreibtischtäter.
Begriff – Geschichte –
Typologie. Wallstein-Verlag
Göttingen 2018, 315 Seiten, 24,90 Euro.
Penible Buchführung: Tischkalender vom Reichsführer SS, Heinrich Himmler,
in einer Ausstellung in der Erinnerungsstätte Wewelsburg. Gezeigt werden zwei Seiten des Jahres 1940.
Die großen Ziffern am Rand zählen die Tage seit Beginn des Zweiten Weltkriegs. Foto: M. Benirschke/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Sammelband nähert sich dem Schreibtischtäter. Gemeint sind damit meist Organisatoren des Holocaust.
Doch das Wort eignet sich sogar als politischer Kampfbegriff
VON RUDOLF WALTHER
Nicht nur Bücher haben sprichwörtlich ihre Schicksale, sondern auch politische Begriffe. Der Begriff „Schreibtischtäter“ ist in historischer, politischer und philologisch-semantischer Hinsicht bemerkenswert. In dem von Dirk van Laak und Dirk Rose herausgegebenen Sammelband beschäftigen sich 17 Autoren (Historiker, Literatur- und Medienwissenschaftler sowie Juristen) mit den zahlreichen Facetten des Begriffs.
Philologisch-semantisch gesehen hat der Begriff Schreibtischtäter nur im Deutschen in der wissenschaftlichen Prosa und in banalisiert-geschichtsloser Form in der Alltagssprache eine Karriere gemacht. „desk murderer“ und „white collar criminal“ sind im Englischen zwar geläufig, finden aber in der historisch-politischen Literatur, im Journalismus und in der Alltagssprache längst nicht so viel Verwendung wie im Deutschen. Im Französischen, Italienischen und Spanischen sind direkte Übersetzungen gar nicht möglich, sondern nur Hilfskonstrukte (im Französischen etwa „cerveau du crime“ oder „cerveau de la guerre“). Und dies, obwohl die Tatbestände, auf die der Begriff verweist, natürlich in allen modernen Gesellschaften gleichermaßen vorhanden sind: die logistische Vorbereitung, taktische und strategische Anordnung und Durchführung von Handlungen nicht am Tatort, sondern aus Büros, Kanzleien, Verwaltungen und Stäben im Hinterland heraus. Das gilt für Kriege und Massenverbrechen ebenso wie für die effiziente Verbreitung von Gütern, Dienstleistungen und Informationen. Der Dichter Theodor Fontane stellte schon für die Befreiungskriege im Hinblick auf die dort tätigen Bürokraten fest: „Ohne Federfuchserei geht es nicht mehr in der Welt.“
Die rasante Entwicklung der Kommunikations- und Transportmedien zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert hat die Distanz zwischen Planungsort und Tatort, Ursprung und Ziel von Interventionen wirtschaftlicher, militärischer oder politischer Art virtuell beliebig gedehnt, was erhebliche moralisch-politische Fragen hinsichtlich der Täterschaft aufwirft. „Manch ein Kapital, das heute in den Vereinigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, ist erst gestern in England kapitalisiertes Kinderblut“, schrieb Marx 1867. Der Schreibtischtäter ist ein „Untäter“ (Dirk Rose), der in der Regel nie mit dem direkt konfrontiert wird, was sich zuerst seiner eigenen Planung und Organisation verdankt.
Wie so oft in der Geschichte existiert der Tatbestand lange vor dem Wort, wird aber anders benannt. Karl Kraus wollte schon 1919 professorale und journalistische Kriegshetzer vor Gericht stellen, weil sich deren mit Druckerschwärze gedruckte Worte im Krieg „in Blut“ verwandelten. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurden – wie Christoph Jahr darlegt – zwar auch „Männer“ schuldig gesprochen, die „in der friedlichen Stille ihrer Büros in den Ministerien an diesem Feldzug (…) teilgenommen hatten“, aber das Wort Schreibtischtäter kam in den Verhandlungen nicht vor, obwohl darin inhaltlich genau das beschrieben wurde, was der israelische Chefankläger Gideon Hausner im Eichmann-Prozess dem Angeklagten vorwarf, nämlich „das Bluthandwerk vom Schreibtisch aus“ betrieben zu haben. Auch Hannah Arendt gebrauchte in ihrem berühmten Eichmann-Essay „Report on the Banality of Evil“ das Wort „desk murderer“ nicht, sondern sprach einige Monate danach in einem Brief auf Deutsch von „Schreibtischmördern“. Auf Deutsch hat Hannah Arendt das Wort Schreibtischtäter – entgegen verbreiteter Meinung – nie verwendet. Nach den Recherchen von Christoph Jahr tauchte der Begriff Schreibtischtäter in der deutschen Presse erst im Januar 1964 auf – drei Jahre nach dem Urteil im Eichmann-Prozess.
Auch Raul Hilberg, der Nestor der Holocaustforschung, verwendet den Begriff in seinem Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ (1961) nicht, wie René Schlott darlegt. Hilberg beschrieb jedoch sehr genau die Tätigkeit von Schreibtischtätern: „Die meisten Bürokraten verfassten Denkschriften, entwarfen Durchführungsbestimmungen, unterschrieben Briefe, telefonierten und nahmen an Besprechungen teil. Sie konnten ein ganzes Volk vernichten, ohne ihren Schreibtisch zu verlassen.“
Für die deutsche Nachkriegsjustiz waren NS-Täter, die nicht direkt an Straftaten beteiligt waren, zunächst „Gehilfen“, die nur wegen Beihilfehandlungen belangbar waren und in der Regel mild oder gar nicht bestraft wurden. Der Jurist Jan Schlösser klärt darüber auf, wie sich die Justiz aus dieser kompromittierenden Lage mit der Konstruktion „mittelbarer Täterschaft“ (Claus Roxin) befreite. Roxin geht von der Organisationsherrschaft des Schreibtischtäters über den eigentlichen Täter aus, also einem Autoritätsverhältnis zwischen einem die Tat ausführenden Täter und seinem planenden, organisierenden und befehlenden Hintermann.
Sehr früh begann die Übertragung des Begriffs auf Täter aus ganz anderen historisch-politischen Verhältnissen. Ein eng mit dem Rechtsradikalismus verbundener Strafverteidiger nannte im Frankfurter Auschwitz-Prozess (!) im Februar 1965 den SED-Funktionär – und früheren Häftling in Auschwitz-Monowitz – Erich Markowitsch wegen des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze ebenso losgelöst von historischen Konnotationen des Begriffs einen „Schreibtischtäter“ wie Willy Brandt die Verleumder seiner Ostpolitik. In kurzer Zeit wurde der Begriff zum inhaltlich entleerten Kampfbegriff im politischen Handgemenge.
Am Beispiel von Martin Walsers Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ zeigt Kerstin Stüssel in ihrem Aufsatz, wie das virulente Problem der „Schreibtischtäterschaft“ in der Nachkriegsliteratur behandelt wurde. Die kontroverse Haltung deutscher Intellektueller und Schriftsteller zum Ersten Weltkrieg behandelt Sarah Mohi-von Känel. Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann standen auf der Seite der „Papierkrieger“, diese bezichtigten Kurt Tucholsky und Karl Kraus, „durch Anpreisung fremden Heldentodes sich den eigenen zu ersparen“ (Kraus). Der Band verschafft einen von Sachkunde geprägten Blick auf die Geschichte eines nur vermeintlich klaren Begriffs.
Wie so oft in der Geschichte
existiert der Tatbestand
lange vor dem Wort
Weder Hannah Arendt
noch Raul Hilberg gebrauchten
das Wort „Schreibtischtäter“
Dirk van Laak,
Dirk Rose (Hg.):
Schreibtischtäter.
Begriff – Geschichte –
Typologie. Wallstein-Verlag
Göttingen 2018, 315 Seiten, 24,90 Euro.
Penible Buchführung: Tischkalender vom Reichsführer SS, Heinrich Himmler,
in einer Ausstellung in der Erinnerungsstätte Wewelsburg. Gezeigt werden zwei Seiten des Jahres 1940.
Die großen Ziffern am Rand zählen die Tage seit Beginn des Zweiten Weltkriegs. Foto: M. Benirschke/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Der Band verschafft einen von Sachkunde geprägten Blick auf die Geschichte eines nur vermeintlich klaren Begriffs.« (Rudolf Walther, Süddeutsche Zeitung, 26.03.2018) »Die Beiträge sind allesamt von höchster Qualität und bieten wichtige Anregungen für künftige wissenschaftliche Diskussionen« (Peter Becker, H-Soz-Kult, 28.09.2018)