In diesem Buch geht es um die Genese des formalen Denkens in der Interaktion von Oralität und Literalität. Bestimmte Intellektualitätstypen wie formale Logik und Grammatik haben sich nur unter den besonderen Bedingungen der Alphabetschrift ausprägen können.
»Wie kommt es, daß der Kulturkreis der chinesischen Schrift - die nicht die Laute, sondern Begriffsbilder registriert - weder Grammatik noch formale Logik ausgebildet hat? Warum rangiert dort an der Stelle, an der bei uns das Prinzip der Orthographie (und mit ihm der Typus des Pedanten) waltet, die Kalligraphie? Stetter entwickelt die Frage zunächst systematisch, in Gestalt einer Phänomenologie unseres Umgangs mit Orthographie und Grammatik, um ihr dann historisch auf den Grund zu gehen - in ungemein sorgfältigen, bei aller Akribie auch für den linguistischen Laien gut lesbaren und nur selten abschweifenden Untersuchungen: zur Geburt des formalen Denkens aus dem Geist der Schrift bei Platon und Aristoteles, zur Metaphysik linguistischer Gegenstände bei den Gründervätern der modernen Sprachwissenschaft, de Saussure und Chomsky, und zu den Kronzeugen für ein alternatives Sprach - und Grammatikkonzept, Humboldt und Wittgenstein. In diesem Buch gelingt, was manch medienphilosophischer Versuch bislang nur raunend anzusinnen vermochte: die systematische Entwicklung vom Schriftbild über das Sprachbild zum Weltbild einsichtig zu machen.« (Uwe C. Steiner, Süddeutsche Zeitung, 19.1.1998)
»Wie kommt es, daß der Kulturkreis der chinesischen Schrift - die nicht die Laute, sondern Begriffsbilder registriert - weder Grammatik noch formale Logik ausgebildet hat? Warum rangiert dort an der Stelle, an der bei uns das Prinzip der Orthographie (und mit ihm der Typus des Pedanten) waltet, die Kalligraphie? Stetter entwickelt die Frage zunächst systematisch, in Gestalt einer Phänomenologie unseres Umgangs mit Orthographie und Grammatik, um ihr dann historisch auf den Grund zu gehen - in ungemein sorgfältigen, bei aller Akribie auch für den linguistischen Laien gut lesbaren und nur selten abschweifenden Untersuchungen: zur Geburt des formalen Denkens aus dem Geist der Schrift bei Platon und Aristoteles, zur Metaphysik linguistischer Gegenstände bei den Gründervätern der modernen Sprachwissenschaft, de Saussure und Chomsky, und zu den Kronzeugen für ein alternatives Sprach - und Grammatikkonzept, Humboldt und Wittgenstein. In diesem Buch gelingt, was manch medienphilosophischer Versuch bislang nur raunend anzusinnen vermochte: die systematische Entwicklung vom Schriftbild über das Sprachbild zum Weltbild einsichtig zu machen.« (Uwe C. Steiner, Süddeutsche Zeitung, 19.1.1998)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.1998Sage mir, wie du schreibst, und ich sage dir, was du denkst
Aristoteles buchstabierte die Wahrheit, Konfuzius machte sich ein Weltbild: Christian Stetter liest die Philosophiegeschichte graphologisch
Die philosophischen Gespräche des Sokrates kennen wir nur aus Texten. Dies hat nicht nur mit unserem historischen Abstand zu tun. Auch als Zeitgenossen Platons könnten wir sie nur aus Texten kennen, denn die Dialoge des Sokrates sind wesentlich geschriebene Gespräche. In ihrer formalen Inszenierung, ihrer argumentativen Logik, ja ihrer durchkomponierten Rhetorik wären sie als wirkliche Dialoge wohl undenkbar. Daß die europäische Metaphysik somit selbst dort, wo sie an ihrem platonischen Ursprung im literarischen Gewand des lebendigen Gesprächs zwischen Personen auftritt, wesentlich ein schriftliches und auch nur schriftlich denkbares Unternehmen ist, wäre den Philosophen bis heute wohl nicht weiter bemerkenswert erschienen, hätte nicht Jacques Derrida gewisse Grundzüge ebendieser Metaphysik, insbesondere ihren "Logozentrismus", auf eine Verdrängung des Bewußtseins von ihrer unvermeidlichen Schriftlichkeit zurückgeführt.
Der "Logozentrismus" der Philosophie ist nach Derrida zugleich ein "Phonozentrismus". Er orientierte sich exemplarisch an den phonetischen Zeichen, die im Moment des Aussprechens verklingen und so "hinter" den Bedeutungsgehalt zurückzutreten scheinen. So konnte der Schein entstehen, daß die jeweilige Form medialer Repräsentanz für die Identität des je zu Sagenden - des Logos - ganz gleichgültig sei. Es blieb verdrängt, daß sich die Situation mit der Schrift vollkommen ändert. Hätte die Philosophie dies von Anfang an zureichend beachtet, hätte sich ihr logozentrischer Grundzug wohl nicht auf diese Weise herausbilden können. Christian Stetters Untersuchung, die sich souverän im Grenzgebiet von Philosophie und Linguistik bewegt, stimmt mit Derrida in dem Punkt überein, daß selbst eine phonetische Alphabetschrift europäischer Provenienz (vom chinesischen Hanze-Schriftsystem oder vom japanischen Kana-Repertoire, die Stetter in seine Betrachtung einbezieht, gar nicht zu reden) nicht als bloße Repräsentation der Lautform einer Sprache betrachtet werden könne. Gerade mit der "vollständigen Unterordnung unter den Phonismus", die in Europa in einem langen Prozeß der Verschriftung der gesprochenen Sprache erreicht wurde, gewann die Schrift nach Stetter ihre Autonomie. Sie entwickelte sich "fortan nach eigenen Gesetzen".
Statt von Repräsentation der Sprache durch die Schrift sei darum von einem bestimmten Punkt der Schriftentwicklung an mit einem der neueren französischen Politik entlehnten Wort eher von einer "Kohabitation" von Sprache und Schrift zu reden, was die wechselseitige Beeinflussung beider in ihrem Entwicklungsprozeß zu bedenken erlaubt. Denn von medialer Unselbständigkeit weit entfernt, wirkt die Schrift auf die Sprache zurück, ja im Zuge "der Kohabitation von Sprache und Schrift wird immer schwerer unterscheidbar, auf wessen Konto was zu rechnen ist, was ,schriftlich', was genuin ,sprachlich' beziehungsweise ,oral' an den Formen ist, mit denen man umgeht".
Was Stetter von Derrida unterscheidet, ist seine These über das ursprüngliche Verhältnis der europäischen Metaphysik zur Schrift. "Die Logos-Metaphysik mit ihren identitätsphilosophischen Grundannahmen", die seit Platon den Diskurs der europäischen Philosophie dominiert, ist nach Stetter "schriftlich erzeugt worden und konnte nur in einem Schriftprinzip erzeugt werden, das es gestattete, in der Abstraktion vom Sinn des Gemeinten ein Bild seiner Form zurückzubehalten". Schon die formalen Argumentationsverfahren der platonischen Dialektik, wie sie in den späten Dialogen zum Ausdruck gelangt, wären unabhängig von ihrer Fixierung im Medium der Schrift wohl unmöglich. Und Platon scheint dies - trotz seiner berühmten Schrift-Kritik im Dialog Phaidros - durchaus gewußt zu haben, wie Stetter in einem ausführlichen Durchgang durch Platons Entwicklung zur Dialektik zu zeigen vermag.
Allerdings will Stetters Buch nicht primär auf philosophiehistorische Thesen über die Geburt der europäischen Metaphysik aus dem Medium der Schrift hinaus. Die europäische Metaphysik ist vielmehr nur ein - wenn auch prominentes - Beispiel für einen Typus formalen Denkens, den er wesentlich mit einem bestimmten Schrifttyp, der phonetischen Alphabetschrift, verbunden sieht. Formales Denken, wie es sich in Europa in der Entwicklung der Disziplinen Logik und Grammatik ausprägte, so Stetters philosophisch zweifellos brisante These, wurde durch den Gebrauch dieses Schrifttyps nicht nur befördert, sondern geradezu bedingt. Umgekehrt scheint es, daß dort, wo sich wie im chinesischen Kulturkreis ein anderer Typus von Schriftzeichen durchsetzte, "mit dem fremden Typ von Schriftzeichen ein andersartiger Typ von Denken einhergeht".
So mußte eine nicht-phonetische, das heißt eine nicht die Lautform einer Sprache, sondern unmittelbar die Bedeutung fixierende Schrift wie die chinesische eher "ein semantisch orientiertes Denken befördern". Die für Europa typische formale Denkweise wurde demgegenüber wohl gerade dadurch ermöglicht, daß die sich in diesem Kulturraum durchsetzende phonetische Alphabetschrift von aller Bedeutung abstrahiert, um die komplexe Lautform der Sprache durch die Unterscheidungsmöglichkeiten eines begrenzten Satzes von Schriftzeichen abzubilden. Es ist deshalb nach Stetter "ganz sicher kein Zufall, daß sich im Kulturkreis der chinesischen Schrift weder Grammatik noch formale Logik entwickelt haben".
Stetter belegt seine Grundthese vor allem am Beispiel der formalen Sprachbetrachtung der Grammatik. Wie er im Zuge ausführlicher, kritischer Lektüren der sprachwissenschaftlichen Ansätze von Saussure und Chomsky zeigt, ist die unter grammatischen Gesichtspunkten betrachtete Sprache niemals die Sprache schlechthin, sondern stets "eine Deutung der Sprache durch die Schrift". Denn das "grammatische Sprachbild" läßt sich nach Stetter "nur im Alphabet ausprägen". Dies hat Konsequenzen für einen angemessenen Begriff der Grammatik, die Stetters linguistische Grundlagenreflexion in großen Teilen seines umfangreichen Buches vor dem Gerüst der Werke seiner sprachphilosophischen Gewährsleute Humboldt und Wittgenstein herauszuarbeiten sucht. So ausführlich interpretiert Stetter klassische Positionen, daß seine Hauptthese zum Verhältnis von Schriftformen und Intellektualitätstypen manchmal ein wenig aus dem Blick gerät. Man darf hoffen, daß die Rezeption hier die Gewichtungen korrigieren wird. STEFAN MAJETSCHAK
Christian Stetter: "Schrift und Sprache". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 672 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aristoteles buchstabierte die Wahrheit, Konfuzius machte sich ein Weltbild: Christian Stetter liest die Philosophiegeschichte graphologisch
Die philosophischen Gespräche des Sokrates kennen wir nur aus Texten. Dies hat nicht nur mit unserem historischen Abstand zu tun. Auch als Zeitgenossen Platons könnten wir sie nur aus Texten kennen, denn die Dialoge des Sokrates sind wesentlich geschriebene Gespräche. In ihrer formalen Inszenierung, ihrer argumentativen Logik, ja ihrer durchkomponierten Rhetorik wären sie als wirkliche Dialoge wohl undenkbar. Daß die europäische Metaphysik somit selbst dort, wo sie an ihrem platonischen Ursprung im literarischen Gewand des lebendigen Gesprächs zwischen Personen auftritt, wesentlich ein schriftliches und auch nur schriftlich denkbares Unternehmen ist, wäre den Philosophen bis heute wohl nicht weiter bemerkenswert erschienen, hätte nicht Jacques Derrida gewisse Grundzüge ebendieser Metaphysik, insbesondere ihren "Logozentrismus", auf eine Verdrängung des Bewußtseins von ihrer unvermeidlichen Schriftlichkeit zurückgeführt.
Der "Logozentrismus" der Philosophie ist nach Derrida zugleich ein "Phonozentrismus". Er orientierte sich exemplarisch an den phonetischen Zeichen, die im Moment des Aussprechens verklingen und so "hinter" den Bedeutungsgehalt zurückzutreten scheinen. So konnte der Schein entstehen, daß die jeweilige Form medialer Repräsentanz für die Identität des je zu Sagenden - des Logos - ganz gleichgültig sei. Es blieb verdrängt, daß sich die Situation mit der Schrift vollkommen ändert. Hätte die Philosophie dies von Anfang an zureichend beachtet, hätte sich ihr logozentrischer Grundzug wohl nicht auf diese Weise herausbilden können. Christian Stetters Untersuchung, die sich souverän im Grenzgebiet von Philosophie und Linguistik bewegt, stimmt mit Derrida in dem Punkt überein, daß selbst eine phonetische Alphabetschrift europäischer Provenienz (vom chinesischen Hanze-Schriftsystem oder vom japanischen Kana-Repertoire, die Stetter in seine Betrachtung einbezieht, gar nicht zu reden) nicht als bloße Repräsentation der Lautform einer Sprache betrachtet werden könne. Gerade mit der "vollständigen Unterordnung unter den Phonismus", die in Europa in einem langen Prozeß der Verschriftung der gesprochenen Sprache erreicht wurde, gewann die Schrift nach Stetter ihre Autonomie. Sie entwickelte sich "fortan nach eigenen Gesetzen".
Statt von Repräsentation der Sprache durch die Schrift sei darum von einem bestimmten Punkt der Schriftentwicklung an mit einem der neueren französischen Politik entlehnten Wort eher von einer "Kohabitation" von Sprache und Schrift zu reden, was die wechselseitige Beeinflussung beider in ihrem Entwicklungsprozeß zu bedenken erlaubt. Denn von medialer Unselbständigkeit weit entfernt, wirkt die Schrift auf die Sprache zurück, ja im Zuge "der Kohabitation von Sprache und Schrift wird immer schwerer unterscheidbar, auf wessen Konto was zu rechnen ist, was ,schriftlich', was genuin ,sprachlich' beziehungsweise ,oral' an den Formen ist, mit denen man umgeht".
Was Stetter von Derrida unterscheidet, ist seine These über das ursprüngliche Verhältnis der europäischen Metaphysik zur Schrift. "Die Logos-Metaphysik mit ihren identitätsphilosophischen Grundannahmen", die seit Platon den Diskurs der europäischen Philosophie dominiert, ist nach Stetter "schriftlich erzeugt worden und konnte nur in einem Schriftprinzip erzeugt werden, das es gestattete, in der Abstraktion vom Sinn des Gemeinten ein Bild seiner Form zurückzubehalten". Schon die formalen Argumentationsverfahren der platonischen Dialektik, wie sie in den späten Dialogen zum Ausdruck gelangt, wären unabhängig von ihrer Fixierung im Medium der Schrift wohl unmöglich. Und Platon scheint dies - trotz seiner berühmten Schrift-Kritik im Dialog Phaidros - durchaus gewußt zu haben, wie Stetter in einem ausführlichen Durchgang durch Platons Entwicklung zur Dialektik zu zeigen vermag.
Allerdings will Stetters Buch nicht primär auf philosophiehistorische Thesen über die Geburt der europäischen Metaphysik aus dem Medium der Schrift hinaus. Die europäische Metaphysik ist vielmehr nur ein - wenn auch prominentes - Beispiel für einen Typus formalen Denkens, den er wesentlich mit einem bestimmten Schrifttyp, der phonetischen Alphabetschrift, verbunden sieht. Formales Denken, wie es sich in Europa in der Entwicklung der Disziplinen Logik und Grammatik ausprägte, so Stetters philosophisch zweifellos brisante These, wurde durch den Gebrauch dieses Schrifttyps nicht nur befördert, sondern geradezu bedingt. Umgekehrt scheint es, daß dort, wo sich wie im chinesischen Kulturkreis ein anderer Typus von Schriftzeichen durchsetzte, "mit dem fremden Typ von Schriftzeichen ein andersartiger Typ von Denken einhergeht".
So mußte eine nicht-phonetische, das heißt eine nicht die Lautform einer Sprache, sondern unmittelbar die Bedeutung fixierende Schrift wie die chinesische eher "ein semantisch orientiertes Denken befördern". Die für Europa typische formale Denkweise wurde demgegenüber wohl gerade dadurch ermöglicht, daß die sich in diesem Kulturraum durchsetzende phonetische Alphabetschrift von aller Bedeutung abstrahiert, um die komplexe Lautform der Sprache durch die Unterscheidungsmöglichkeiten eines begrenzten Satzes von Schriftzeichen abzubilden. Es ist deshalb nach Stetter "ganz sicher kein Zufall, daß sich im Kulturkreis der chinesischen Schrift weder Grammatik noch formale Logik entwickelt haben".
Stetter belegt seine Grundthese vor allem am Beispiel der formalen Sprachbetrachtung der Grammatik. Wie er im Zuge ausführlicher, kritischer Lektüren der sprachwissenschaftlichen Ansätze von Saussure und Chomsky zeigt, ist die unter grammatischen Gesichtspunkten betrachtete Sprache niemals die Sprache schlechthin, sondern stets "eine Deutung der Sprache durch die Schrift". Denn das "grammatische Sprachbild" läßt sich nach Stetter "nur im Alphabet ausprägen". Dies hat Konsequenzen für einen angemessenen Begriff der Grammatik, die Stetters linguistische Grundlagenreflexion in großen Teilen seines umfangreichen Buches vor dem Gerüst der Werke seiner sprachphilosophischen Gewährsleute Humboldt und Wittgenstein herauszuarbeiten sucht. So ausführlich interpretiert Stetter klassische Positionen, daß seine Hauptthese zum Verhältnis von Schriftformen und Intellektualitätstypen manchmal ein wenig aus dem Blick gerät. Man darf hoffen, daß die Rezeption hier die Gewichtungen korrigieren wird. STEFAN MAJETSCHAK
Christian Stetter: "Schrift und Sprache". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 672 S., geb., 98,- DM.
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