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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.1996

Philosoph ohne Leser
Andreas Arndt fordert Gerechtigkeit für Friedrich Schleiermacher

Für die Romantik war es kein Widerspruch, mitten im Rausch, in dem sie selber stand, die Ernüchterung vorzubereiten. So inszenierte Schleiermacher den Übergang zur wissenschaftlichen Form und zum theoriefähigen Argument in Gestalt eines Buches, mit dem er sich "auch unter den Philosophen einigen Ruf machen" wollte.

Wenige Jahre nach seinen "Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" und nach den gleichfalls anonym erschienenen "Monologen" publizierte Schleiermacher im August 1803 die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre", eine breit angelegte und schwer zugängliche Abhandlung, mit der sich auch der Autor abgemüht hatte: "ein Buch von dieser Art; in meinem Leben nicht wieder! Ich glaube ich habe diese ganze Zeit über nicht einen gescheuten Gedanken gehabt, lauter kritische Späne." Der "einzige Spaß" fand sich in der Vorstellung, "wie Fichte sich ärgern" und manch "alte Herren sich wundern" würden, daß aus "mir ein so nüchterner und gründlicher Kritiker geworden, und abwarten, ob ich eine solche Verwandlung überleben werde".

Schleiermacher hat überlebt und auch die Enttäuschung verkraftet, daß er diesmal nur wenige Leser fand. Trotz der Bedenken des Autors und der ausbleibenden öffentlichen Aufmerksamkeit machte sein Buch, das nahezu alle ethischen Entwürfe als Mißgriffe gegenüber der sittlichen Wirklichkeit demontierte, einen programmatischen und zukunftweisenden Grundgedanken publik. Der verlieh dem romantischen Individualitätsdenken einen neuen Horizont. Schleiermacher skizzierte das Projekt einer Theorie des objektiven Geistes, die er Güterethik nannte. Es ging darum, die in den sozialen Anerkennungsverhältnissen schon verwirklichte Vernunft neben einer an der Moralität des reinen Sollens orientierten Plichtenethik zur Geltung zu bringen. Damit war dem individuellen Selbstbewußtsein der Weg gewiesen, in der Kommunikation mit den jeweils relevanten anderen und in den unterschiedlichen Gestalten sozialer Organisation seine Bestimmtheit zu konkretisieren.

Der Brückenschlag zur Sozialphilosophie bereitete die Grundlegung einer Konzeption systematischen Philosophierens vor, die Schleiermacher später als Professor in Halle und Berlin entwickelte und die sich von der Dialektik und der Ethik über Hermeneutik, Ästhetik, Psychologie bis hin zur Pädagogik und zur politischen Philosophie erstreckte. Doch dieser Philosophie, die der Theologe, protestantische Prediger und kirchliche Reformer sozusagen nebenbei erarbeitete, erging es kaum besser als dem Buch, in dem sie sich zuerst ankündigte. Sie fand den Weg zu den Lesern nicht, weil sie - nie ganz in eine schriftliche Form gebracht - ein Ereignis im Hörsaal blieb. Die Öffentlichkeit dankte Schleiermacher für seine Platonübersetzungen, nahm ihn selbst aber als romantischen Redner wahr, nicht als einen Philosophen und schon gar nicht als einen Klassiker der Philosophie.

Eine Edition, die die ganze Breite der Philosophie Schleiermachers dokumentiert, bietet daher mehr und anderes als eine repräsentative Auswahl einschlägig bekannter Texte. Sie rekonstruiert aus Mosaikstücken ein Bild, das sich bisher nur in der Sekundärliteratur und in verstreuten Ausgaben, aber nicht zwischen zwei Buchdeckeln gewinnen ließ. Die von Andreas Arndt herausgegebene und mit einer umfangreichen Einleitung und nützlichen Kommentaren versehene Sammlung enthält Auszüge aus Schleiermachers Schriften, die seine philosophischen Gedanken bis zur Gründung der Berliner Universität und die Berliner Vorlesungen als Platzhalter für das unvollendete System lesbar machen. Eine solche Sammlung kann und will die historisch-kritische Schleiermacherausgabe nicht ersetzen, dennoch verdient sie das Interesse der Schleiermacherforschung.

Der Band enthält nämlich den Erstnachdruck einer von Diesterweg 1835 veröffentlichten und bald in Vergessenheit geratenen Nachschrift einer Pädagogikvorlesung Schleiermachers; und der Herausgeber bestimmt als Interpret die Stellung der Psychologie mit Bezug auf Schleiermachers System der Wissenschaften neu. Diese bilde den empirisch-individuellen Gegenhalt zur Dialektik, so daß das System nicht dreigliedrig von der Dialektik zu den einander entgegengesetzten Disziplinen Ethik und Physik fortschreite, sondern - mit einem von Schleiermacher häufig benutzten Bild zu sprechen - mit vier Brennpunkten operiere. Welche Disziplin in Schleiermachers System die Basiswissenschaft darstelle, ist umstritten, jüngst hat Eilert Herms die lange vernachlässigte Psychologie in den Status ebendieser Grunddisziplin gehoben. Arndts Edition präsentiert nun ein eigenwilliges, systematisches Gesamtbild. Es kann als Hinweis darauf verstanden werden, daß Schleiermacher schon durch den Aufbau seines Systems aus einem identitätsphilosophisch motivierten Grundlegungsgedanken ausschert.

Einwände gegen eine solche Auswahl betreffen naturgemäß das, was fehlt: die Rolle, die der Begriff des höchsten Gutes in Schleiermachers Frühzeit spielt, ist nicht erkennbar - in den ausgewählten Jugendschriften taucht das Thema nicht auf, und die Kürzungen im Nachdruck der "Grundlinien" unterschlagen es. Arndts Entscheidung, auf die Vorlesungen statt auf die von Schleiermacher selbst ausgearbeiteten Akademieabhandlungen zurückzugreifen, ist nur bedingt nachvollziehbar, zumal hinsichtlich der Ästhetik dann doch von ihr abgewichen wird. Die Einleitung zur Dialektik von 1833 sähe man gerne miteinbezogen, während Schleiermachers "Katechismus der Vernunft für edle Frauen" selbst in Zeiten feministischer Philosophie besser dem Anekdotischen überlassen bliebe.

Bedenklicher jedoch als solche Absenzen sind die Stellen, an denen Arndt des Guten zuviel tut. Die Bemühung, Schleiermacher als Philosophen ins rechte Licht zu rücken, geht in Auswahl und Kommentar mit einer Marginalisierung seiner Theologie einher. Diese als Ausdruck einer Gefühlsreligion und als Predigt zu charakterisieren, die eine "Verzichterklärung der Vernunft auf jede Einmischung in das Gebiet der Religion" implizieren soll, läuft auf eine Entflechtung und wechselseitige Immunisierung hinaus, die trennt, was Schleiermacher nur unterscheiden wollte. Schleiermachers Philosophie endet nicht dort, wo seine Theologie beginnt, sondern findet ihren Anfang immer wieder in der auch theologisch gehaltvollen Einsicht, nicht alles herleiten und begründen zu können, dessen die Vernunft für ihre Vollzüge bedarf. MICHAEL MOXTER

Friedrich Schleiermacher: "Schriften". Herausgegeben von Andreas Arndt. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1996. 1396 S., geb., 178,- DM, Subskr.-Pr. 160,- DM.

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