Erst in den letzten Jahren sind Pierre Bourdieus frühe Studien zu Algerien und zur bäuerlichen Gesellschaft im südwestfranzösischen Béarn wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Tatsächlich bildet sich in diesen Arbeiten eine Art »Matrix« seines Werks heraus: Hier legt Bourdieu die Grundlagen einer neuartigen »Soziologie der Praxis« und erweist sich zugleich als kritischer Beobachter gesellschaftlicher Transformationen. Denn im kolonialen Algerien wie im peripheren Béarn zeigt sich die ganze Wucht einer »Moderne«, die über den Menschen und seine traditionellen Lebenswelten schonungslos hinwegmarschiert. Bourdieus Studien wirken daher zeitgenössisch wie nie.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2020NEUE TASCHENBÜCHER
Zusammenstoß
zweier Zivilisationen
In den Arbeiten über die Regeln der Kunst und den sozialen Sinn hat Pierre Bourdieu scheinbar individuelle Verhaltensweisen als universelle Verhaltensmuster untersucht und damit Erklärungsmodelle für den Umgang miteinander geschaffen. Ob das schon Lebenshilfe sein kann oder nur durch den „Irrtum der Lektüre“ dazu wird, bleibt dahingestellt. Wie er zu den Themen und Ansätzen kam, erschließt sich aus seinen versammelten frühen Aufsätzen (2 Bände), vor allem aus den Beobachtungen als Wehrdienstleistender im Algerien der Fünfzigerjahre, wo er den Zusammenprall zweier Zivilisationen und die Unterordnung der herkömmlichen Kultur der Berber unter die sich als fortschrittlich und aufgeklärt verstehenden Lebens- und Produktionsformen der französischen Kolonialherren beobachtete, während gleichzeitig der Islam den Alltag zunehmend besetzte. In „Habitus und Praxis“, dem zweiten Band, wird beschrieben, wie die veränderten Umstände weiche Aspekte wie „Ehre“ oder „männliche Dominanz“ zu berühren beginnen. Zur Anschaulichkeit kommen Aufgeschlossenheit und Erkenntnisfreude. Davon kann man sich anstecken lassen. RUDOLF VON BITTER
Pierre Bourdieu: Tradition und Reproduktion. Hrsg. v. F. Schultheis u. S. Egger. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020. 450 Seiten, 28 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zusammenstoß
zweier Zivilisationen
In den Arbeiten über die Regeln der Kunst und den sozialen Sinn hat Pierre Bourdieu scheinbar individuelle Verhaltensweisen als universelle Verhaltensmuster untersucht und damit Erklärungsmodelle für den Umgang miteinander geschaffen. Ob das schon Lebenshilfe sein kann oder nur durch den „Irrtum der Lektüre“ dazu wird, bleibt dahingestellt. Wie er zu den Themen und Ansätzen kam, erschließt sich aus seinen versammelten frühen Aufsätzen (2 Bände), vor allem aus den Beobachtungen als Wehrdienstleistender im Algerien der Fünfzigerjahre, wo er den Zusammenprall zweier Zivilisationen und die Unterordnung der herkömmlichen Kultur der Berber unter die sich als fortschrittlich und aufgeklärt verstehenden Lebens- und Produktionsformen der französischen Kolonialherren beobachtete, während gleichzeitig der Islam den Alltag zunehmend besetzte. In „Habitus und Praxis“, dem zweiten Band, wird beschrieben, wie die veränderten Umstände weiche Aspekte wie „Ehre“ oder „männliche Dominanz“ zu berühren beginnen. Zur Anschaulichkeit kommen Aufgeschlossenheit und Erkenntnisfreude. Davon kann man sich anstecken lassen. RUDOLF VON BITTER
Pierre Bourdieu: Tradition und Reproduktion. Hrsg. v. F. Schultheis u. S. Egger. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020. 450 Seiten, 28 Euro.
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»Zur Anschaulichkeit kommen Aufgeschlossenheit und Erkenntnisfreude. Davon kann man sich anstecken lassen.« Rudolf von Bitter Süddeutsche Zeitung 20200811