»Das ist mein Mittelpunkt, diese Herzgewächse, und das Drumherum sind Marginale«, sagte Hans Wollschläger über sein opus magnum.Er nannte es selbst ein »wahnwitzig umfangreiches, diffiziles, auch rücksichtsloses Buch«. Die »Herzgewächse« sind eine fiktive Künstlerbiographie in Form tagebuchartiger Aufzeichnungen. Der philosophische Schriftsteller Michael Adams, 1900 geboren, kehrt 1950 aus der Emigration in seine Heimatstadt Bamberg zurück. Von der Gegenwart, der frühen Adenauerzeit, bis in die Urvergangenheit menschlicher Kultur spannen sich die Einträge seines fiktiven Tagebuches. Immer stärker quälen ihn Paranoia und geistige Zerrüttung, bis er letztlich in der Psychiatrie landet. Überblendung, schnelle Schnitte und abrupte Brechungen kennzeichnen diesen Text, in dem verschiedene Sprach- und Bewusstseinsebenen einander ergänzen, immer neue Geschichten aufeinander zu und gegeneinander laufen. Die »Herzgewächse« sind ihrer strukturellen Komposition nach Musik: Wortklang und Bedeutung gehen eine in der deutschen Literatur einmalige Synthese ein. Der Band gibt den Text der dritten Auflage von 1997 wieder, das einzige abgeschlossene Kapitel des zweiten Teils (VI) wird im Anhang abgedruckt. Hans Wollschlägers großes Romanwerk blieb unvollendet.Von einer Ingeniosität, auch einem intellektuellen Gedankenreichtum und einer Weite des Wissens, daß daneben die üblichen zeitgenössischen literarischen Strickmuster ärmlich aussehen.Jörg Drews
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Nachtlied vom Schweigen
Sprache verloren, Heimat gefunden: Hans Wollschlägers "Herzgewächse oder Der Fall Adams" liegt endlich wieder vor.
Von Dietmar Dath
Einer ist in die Welt zurückgekehrt, aus der er hatte fliehen müssen. Davon, wie das ist, notiert er Sätze, die nicht einmal mit ihm, dem zum eigenen Selbstgesprächsgegenüber verdoppelten Menschen, kommunizieren können, weil der Spiegel, den wir "Reflexion" nennen, hier zersprungen ist: "ganz bald schon wieder auf - früh in der Nacht noch - der Schnee treibt immer noch dicht, klebt knistrig fragil an den Scheiben : das Licht ganz wunderlich fahl davon - kann das sein : Draußen Nur Nichts : mich anstarrend - Schwärze durch Weiß : ich". Die "Schwärze durch Weiß" ist das Notizheft, Krakel auf hellem Papier, verschieden groß im Druckbild des Romans, der daraus komponiert ist; Notation fortschreitenden Selbstverlusts und des Verlöschens der Hoffnung, man könne nach Hitler in die Zivilisation zurückkehren, die er verheert hat.
Hans Wollschlägers größtes Buch, das einzige erzählende unter zahlreichen erklärenden, um Wahrheiten werbenden oder gegen Falsches wetternden, gibt vor, Ephemeridentext des Denkers und Schriftstellers Michael Adams zu sein. Dessen fiktives Hauptwerk, das den Hintergrund der Handlung bildet wie ein Gebirgsmassiv den eines Schlachtengemäldes, heißt "Abschied von der Humanität". Man muss es sich als eine Art Schnittmenge aus Adornos und Horkheimers "Dialektik der Aufklärung", den "Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft" von Hannah Arendt und der "Antiquiertheit des Menschen" von Günther Anders denken. Auch Adorno, Horkheimer, Arendt und Anders mussten ihren Sprachraum verlassen, als die Mordmaschine anlief. Aber aus den Sätzen und Büchern, in denen sie sich bewegten, erfuhren und bestätigten, hat man sie nicht vertreiben können.
Wollschlägers Michael Adams dagegen stürzt unrettbar aus seinen, als er den Versuch unternimmt, im Bamberg des Jahres 1950 erneut heimisch zu werden. Er versucht alles, was ihm helfen könnte, verliebt sich, erinnert sich, pflegt seine Formulierungskünste und leiht sogar einem fuchtelnd betriebsamen Dämon sein Ohr, der ihm verspricht: "Millionen werden Ihre Meinung sagen - Universitätslehrer sich drängen, sie auszulegen - Dornen und Disteln vor Ihnen den Stachel wenden : Macht! Macht!"
Nein: Ohnmacht. Adams rutscht an seiner Liebe zur jungen deutschen Leserin ab, verliert seine Erinnerungen im Prozess der Niederschrift, verirrt sich in Sprache. "Herzgewächse oder Der Fall Adams - Fragmentarische Biographik in unzufälligen Makulaturblättern" ist ein unheimliches, in vielen Zügen der romantischen Schauerdichtung verpflichtetes Buch. Aber seine Traumähnlichkeit hat nichts mit malerischer Groteske zu tun. Vielmehr liegt hier eines der wenigen nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen deutschsprachigen Beispiele für das vor, was John Clute "gebundene Phantastik" nennt: die Schilderung einer Welt, die sich von unserer nicht dadurch unterscheidet, dass man in sie fliehen könnte vor dem Wirklichen, sondern dass es aus ihr für die Geschöpfe, die in ihr eingesperrt sind, nicht einmal jene Form des kognitiven Entkommens gibt, die für uns die Künste bereitstellen, zu denen paradoxerweise dann eben auch Bücher gehören, die von der Unmöglichkeit jeglicher Flucht ins Innen handeln.
Die dunkle Musikalität von Wollschlägers Prosa, der narrativen Kontrapunktik E. T. A. Hoffmanns so eng verbunden wie dem tonsetzerischen Gestus Gustav Mahlers, ist beim ersten Erscheinen des Buches vor rund dreißig Jahren bereits gerühmt worden. Das Kronprinzenklischee, mit dem man das Buch den Werken von Wollschlägers Lehrer Arno Schmidt verglichen hat, übersieht, dass Wollschläger, Becketts Verhältnis zu Joyce vergleichbar, da reduziert und zerbricht, wo Schmidt übereinanderschichtet und verknüpft.
Ein zweiter Band der "Herzgewächse" war geplant. Er ist nie fertiggestellt worden. Hans Wollschläger hat seiner erschütternden Figur in Trauer und Zuneigung die Treue bewahrt, als er entschied, ihr keine weiteren Worte in den Mund zu legen und ihr Verstummen zu respektieren.
Hans Wollschläger: "Herzgewächse oder Der Fall Adams". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen. 544 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprache verloren, Heimat gefunden: Hans Wollschlägers "Herzgewächse oder Der Fall Adams" liegt endlich wieder vor.
Von Dietmar Dath
Einer ist in die Welt zurückgekehrt, aus der er hatte fliehen müssen. Davon, wie das ist, notiert er Sätze, die nicht einmal mit ihm, dem zum eigenen Selbstgesprächsgegenüber verdoppelten Menschen, kommunizieren können, weil der Spiegel, den wir "Reflexion" nennen, hier zersprungen ist: "ganz bald schon wieder auf - früh in der Nacht noch - der Schnee treibt immer noch dicht, klebt knistrig fragil an den Scheiben : das Licht ganz wunderlich fahl davon - kann das sein : Draußen Nur Nichts : mich anstarrend - Schwärze durch Weiß : ich". Die "Schwärze durch Weiß" ist das Notizheft, Krakel auf hellem Papier, verschieden groß im Druckbild des Romans, der daraus komponiert ist; Notation fortschreitenden Selbstverlusts und des Verlöschens der Hoffnung, man könne nach Hitler in die Zivilisation zurückkehren, die er verheert hat.
Hans Wollschlägers größtes Buch, das einzige erzählende unter zahlreichen erklärenden, um Wahrheiten werbenden oder gegen Falsches wetternden, gibt vor, Ephemeridentext des Denkers und Schriftstellers Michael Adams zu sein. Dessen fiktives Hauptwerk, das den Hintergrund der Handlung bildet wie ein Gebirgsmassiv den eines Schlachtengemäldes, heißt "Abschied von der Humanität". Man muss es sich als eine Art Schnittmenge aus Adornos und Horkheimers "Dialektik der Aufklärung", den "Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft" von Hannah Arendt und der "Antiquiertheit des Menschen" von Günther Anders denken. Auch Adorno, Horkheimer, Arendt und Anders mussten ihren Sprachraum verlassen, als die Mordmaschine anlief. Aber aus den Sätzen und Büchern, in denen sie sich bewegten, erfuhren und bestätigten, hat man sie nicht vertreiben können.
Wollschlägers Michael Adams dagegen stürzt unrettbar aus seinen, als er den Versuch unternimmt, im Bamberg des Jahres 1950 erneut heimisch zu werden. Er versucht alles, was ihm helfen könnte, verliebt sich, erinnert sich, pflegt seine Formulierungskünste und leiht sogar einem fuchtelnd betriebsamen Dämon sein Ohr, der ihm verspricht: "Millionen werden Ihre Meinung sagen - Universitätslehrer sich drängen, sie auszulegen - Dornen und Disteln vor Ihnen den Stachel wenden : Macht! Macht!"
Nein: Ohnmacht. Adams rutscht an seiner Liebe zur jungen deutschen Leserin ab, verliert seine Erinnerungen im Prozess der Niederschrift, verirrt sich in Sprache. "Herzgewächse oder Der Fall Adams - Fragmentarische Biographik in unzufälligen Makulaturblättern" ist ein unheimliches, in vielen Zügen der romantischen Schauerdichtung verpflichtetes Buch. Aber seine Traumähnlichkeit hat nichts mit malerischer Groteske zu tun. Vielmehr liegt hier eines der wenigen nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen deutschsprachigen Beispiele für das vor, was John Clute "gebundene Phantastik" nennt: die Schilderung einer Welt, die sich von unserer nicht dadurch unterscheidet, dass man in sie fliehen könnte vor dem Wirklichen, sondern dass es aus ihr für die Geschöpfe, die in ihr eingesperrt sind, nicht einmal jene Form des kognitiven Entkommens gibt, die für uns die Künste bereitstellen, zu denen paradoxerweise dann eben auch Bücher gehören, die von der Unmöglichkeit jeglicher Flucht ins Innen handeln.
Die dunkle Musikalität von Wollschlägers Prosa, der narrativen Kontrapunktik E. T. A. Hoffmanns so eng verbunden wie dem tonsetzerischen Gestus Gustav Mahlers, ist beim ersten Erscheinen des Buches vor rund dreißig Jahren bereits gerühmt worden. Das Kronprinzenklischee, mit dem man das Buch den Werken von Wollschlägers Lehrer Arno Schmidt verglichen hat, übersieht, dass Wollschläger, Becketts Verhältnis zu Joyce vergleichbar, da reduziert und zerbricht, wo Schmidt übereinanderschichtet und verknüpft.
Ein zweiter Band der "Herzgewächse" war geplant. Er ist nie fertiggestellt worden. Hans Wollschläger hat seiner erschütternden Figur in Trauer und Zuneigung die Treue bewahrt, als er entschied, ihr keine weiteren Worte in den Mund zu legen und ihr Verstummen zu respektieren.
Hans Wollschläger: "Herzgewächse oder Der Fall Adams". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen. 544 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Dietmar Dath ist hocherfreut über die Neuedition von Hans Wollschlägers "größtem Buch". Sein Protagonist ist der Schriftsteller Michael Adams, der das Bamberg der Nachkriegszeit erfolglos zu seiner Heimat zu machen versucht, erzählt der Rezensent. Adams' Aufzeichnungen bilden dabei den Romantext, so Dath. Der Kritiker betrachtet sie als "Notation fortschreitenden Selbstverlusts" und als Zeugnis vergeblichen Bemühens um eine Rückkehr in die von Hitler hinterlassenen Ruinen der Zivilisation: Denn Adams scheitere im Alltag, an der Liebe, und nicht zuletzt an der eigenen Sprache. Ein düsteres Buch habe Wollschläger hier verfasst, das in seiner "Traumähnlichkeit" häufig an romantische Schauerliteratur erinnere, ohne jedoch im mindesten "malerisch" zu sein. Vielmehr handle das Werk von der "Unmöglichkeit jeglicher Flucht ins Innen", wie Dath meint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wollschlägers Literatur ist psychologisch und kritisch, ungemütlich und erschreckend direkt, klug und tiefgründig. Eine alte-neue Leseempfehlung!« (Helke Jacob, Stadtecho BA, Mai 2017)