Im Jahr 2002 erschien mit Das Erziehungssystem der Gesellschaft der letzte Band von Niklas Luhmanns epochaler Theorie der Gesellschaft. Dem Erziehungssystem der Gesellschaft widmete Luhmann allerdings bereits seit den siebziger Jahren große Aufmerksamkeit und publizierte eine Vielzahl von Texten, die von einem Lexikonartikel über System und Systemtheorie in einem pädagogischen Wörterbuch über das »Kind als Medium der Erziehung« bis hin zur Reformpädagogik reichen. Dieser Band versammelt erstmals diese verstreut publizierten Texte und bietet somit einen exzellenten überblick über Luhmanns Theorie des Erziehungssystems.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2004Die Erziehungsagentur
Niklas Luhmanns Kritik und Theorie der Pädagogik
Niklas Luhmann hatte „Fragen an die Pädagogik” (gemeinsam mit Karl-Eberhard Schorr) schon sehr früh formuliert, das „Erziehungssystem der Gesellschaft”, postum 2002 erschienen, aber erst spät seinem Opus systematisch eingeordnet. Die Kritik an der Reflexionsfähigkeit der wissenschaftlichen Pädagogik stand am Anfang, die genuin luhmannsche, an Ideen von „Autopoiesis” orientierte soziologische Analyse war das Ergebnis dieser Arbeit. Dieter Lenzens Sammlung präsentiert jetzt elf Beiträge, die für die Zeit von 1985 bis 1997 belegen, wie Luhmann im Dialog mit der Pädagogik Themen aufnimmt, die Leistungsfähigkeit ihrer Reflexion diskutiert und sein eigenes Theorieangebot formuliert, um „neue Beweglichkeit in der Handhabung der Formen” von Theorie und Praxis der Erziehung möglich zu machen.
Das ist, um falsche Erwartungen nicht erst aufkommen zu lassen, kein Rezeptbuch der Bildungsreform nach PISA, sondern grundlagentheoretische Arbeit, Theoriekritik und -konstruktion, produktiv in der Kritik der Pädagogik und provozierend in den eigenen Referenzen. Die Texte gelten nicht allein dem Erziehungssystem und seiner Praxis, sondern in gleicher Weise der Pädagogik als seiner Reflexion.
Für Luhmann ist die Pädagogik die „Systembetreuungswissenschaft”, aber offenbar wider Willen - sie will die Rolle nicht annehmen, die sie hat. Sie arbeitet ohne hinreichende Theoriemittel, will die „strukturellen Defizite” nicht sehen, die den schwierigen, paradoxen Charakter ihrer Aufgaben im Alltag ausmachen, sondern setzt immer neu gute Absichten gegen schlechte Erfahrung. Die Realität des Unterrichts wird so, lautet der Vorwurf, eher mystifiziert als nüchtern beschrieben, brauchbare Orientierung fehlt, es gibt allenfalls „Programme”, große Formeln wie den Bildungsbegriff, oder immer neue „Reformpädagogik” (Luhmann und Schorrs Abhandlung darüber von 1988 verdiente ebenfalls neue Lektüre). Aber weder lernt dabei die pädagogische Profession hinreichend noch wird die Steuerung des Bildungssystems rationaler, nachprüfbarer, abgeklärter.
Fremde Interaktion Unterricht
Luhmanns Analysen dienen aber nicht nur der Ernüchterung, sie zeigen, wie Systembetreuungswissenschaft funktionieren könnte. Selbstverständlich, er beschränkt sich neben der Kritik der pädagogischen Traumgespinste auf Orientierungsschemata, wie sie seine Kommunikationstheorie zur Verfügung hat: Anders, als man von einem Soziologen vielleicht erwartet, steht dabei nicht „Gesellschaft”, sondern Unterricht im Zentrum des Interesses, diese besondere, vom Alltag so deutlich unterschiedene und für Laien häufig fremd anmutende Form der Interaktion: asymmetrisch, zugleich an Themen und Personenveränderung orientiert, schwer zielgenau zu steuern.
Luhmann offeriert Unterscheidungen für die Analyse, etwa die von „Sozialisation” und „Erziehung” - das eine geschieht sowieso, das andere ist der ehrgeizige Versuch, zu überformen, was sowieso geschieht, und dann mit den Folgen leben zu können. „Codierung” und „Programmierung” ist ein anderes Paar: Bildung, als Programm, beherrscht die Rhetorik der Schule; Codierung, die Selektion nach Leistung und die Unterscheidung der Schüler als „besser” oder „schlechter”, die Praxis. Auch „Medium” und „Form” werden als Beschreibungssystem früh erprobt, zuerst für das Kind als Medium der Pädagogik, dann am „Lebenslauf”, aber das Thema hat hier noch keinen befriedigenden Abschluss gefunden.
Aufschlussreicher sind dann Luhmanns Versuche, bekannte, auch kritisierte Tatsachen des Systems neu zu verstehen: Die „Zensur” und die Leistungsmessung wird so gegen die Aversion der Pädagogen als notwendiger Mechanismus aufgewiesen, ohne den alle pädagogische Absicht ins Leere ginge. Im Blick auf „Anfang und Ende” versteht man den unvermeidlichen Weg von anfänglicher Gleichheit („Homogenisierung”) zu Differenz und Ungleichheit im Lernprozess.
Die Trivialmaschine
Luhmann kennt auch die Alltagsprobleme, vor allem der Zeitorganisation und den Zwang, unter Zeitdruck und bei unvollständiger Kenntnis der Lage im Unterricht dennoch handeln zu müssen, und zwar anschlussfähig, so, dass die Klasse sich auf Lehr- und Lernstrategien einlässt und eine eigene Lerngeschichte im Unterricht mitträgt. Die Differenz von „Organisation” und „Methode” erlaubt es dann, Strategien zu prüfen, und es ist nicht das unbegrenzte Vertrauen auf die Person, das Luhmann empfiehlt, weil er die Überlastung mit Erwartungen kennt.
In den praktischen Implikationen führt das zu einer relativ konventionellen Pädagogik, nahezu klassisch ist Luhmann darin, dass er den Unterricht primär als Erziehungsagentur versteht, die Lernen organisiert. Der erste Text verbindet insofern Tradition und Moderne: „Erziehender Unterricht”, das war schon Herbarts Losung um 1800, „als Interaktionssystem”, das ist das neue Theorieangebot (das im Luhmann-Umkreis, etwa bei Jürgen Markowitz, elaboriert ausgearbeitet wurde - Hinweise zur weiteren Lektüre gibt Lenzen leider nicht). Lernende, lernt man dann, werden von den Pädagogen als „Trivialmaschine” gedacht und nach dem Schema von Input und Output behandelt, ohne wirklich zu wissen, wie die Maschine funktioniert. Das Innere wird einfach als black box behandelt; aber auch das wusste schon die reflektierte Tradition: dass die Probleme damit beginnen, dass man auf das Innere des Menschen einwirken will, aber zum Innern keinen Zugang hat.
Ratschläge an den pädagogischen Akteur liegen hier nicht unmittelbar nahe, mehr als „professionelle Notbehelfe” hält Luhmann auch kaum für möglich. Aber er schreibt das nicht aus Schadenfreude. Der distanzierte Blick auf die Probleme von Schule und Unterricht eröffnet vielmehr realistische Handlungsoptionen, Offenheit für die hilfreichen Mechanismen der Organisation, also das „Schulleben”, kluge Selbstbegrenzung in den Absichten und Versprechen, Lerngewinn also, wenn die Pädagogik zu einem solchen Wandel ihres Selbstverständnisses fähig ist.
Insofern hat Dieter Lenzen eine verdienstvolle Sammlung vorgelegt. Man kann sie nutzen, um die luhmannsche Theorie praxisnah in Aktion zu sehen, bevor sie sich in den lichten Höhen der konstruktivistisch-autopoietischen Theoriespiele verliert, in denen die ursprünglichen Probleme systematisiert und der allgemeinen Theorie eingefügt werden.
HEINZ-ELMAR TENORTH
NIKLAS LUHMANN: Schriften zur Pädagogik. Hrsg. und mit einem Nachwort von Dieter Lenzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 278 S., 11 Euro.
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Niklas Luhmanns Kritik und Theorie der Pädagogik
Niklas Luhmann hatte „Fragen an die Pädagogik” (gemeinsam mit Karl-Eberhard Schorr) schon sehr früh formuliert, das „Erziehungssystem der Gesellschaft”, postum 2002 erschienen, aber erst spät seinem Opus systematisch eingeordnet. Die Kritik an der Reflexionsfähigkeit der wissenschaftlichen Pädagogik stand am Anfang, die genuin luhmannsche, an Ideen von „Autopoiesis” orientierte soziologische Analyse war das Ergebnis dieser Arbeit. Dieter Lenzens Sammlung präsentiert jetzt elf Beiträge, die für die Zeit von 1985 bis 1997 belegen, wie Luhmann im Dialog mit der Pädagogik Themen aufnimmt, die Leistungsfähigkeit ihrer Reflexion diskutiert und sein eigenes Theorieangebot formuliert, um „neue Beweglichkeit in der Handhabung der Formen” von Theorie und Praxis der Erziehung möglich zu machen.
Das ist, um falsche Erwartungen nicht erst aufkommen zu lassen, kein Rezeptbuch der Bildungsreform nach PISA, sondern grundlagentheoretische Arbeit, Theoriekritik und -konstruktion, produktiv in der Kritik der Pädagogik und provozierend in den eigenen Referenzen. Die Texte gelten nicht allein dem Erziehungssystem und seiner Praxis, sondern in gleicher Weise der Pädagogik als seiner Reflexion.
Für Luhmann ist die Pädagogik die „Systembetreuungswissenschaft”, aber offenbar wider Willen - sie will die Rolle nicht annehmen, die sie hat. Sie arbeitet ohne hinreichende Theoriemittel, will die „strukturellen Defizite” nicht sehen, die den schwierigen, paradoxen Charakter ihrer Aufgaben im Alltag ausmachen, sondern setzt immer neu gute Absichten gegen schlechte Erfahrung. Die Realität des Unterrichts wird so, lautet der Vorwurf, eher mystifiziert als nüchtern beschrieben, brauchbare Orientierung fehlt, es gibt allenfalls „Programme”, große Formeln wie den Bildungsbegriff, oder immer neue „Reformpädagogik” (Luhmann und Schorrs Abhandlung darüber von 1988 verdiente ebenfalls neue Lektüre). Aber weder lernt dabei die pädagogische Profession hinreichend noch wird die Steuerung des Bildungssystems rationaler, nachprüfbarer, abgeklärter.
Fremde Interaktion Unterricht
Luhmanns Analysen dienen aber nicht nur der Ernüchterung, sie zeigen, wie Systembetreuungswissenschaft funktionieren könnte. Selbstverständlich, er beschränkt sich neben der Kritik der pädagogischen Traumgespinste auf Orientierungsschemata, wie sie seine Kommunikationstheorie zur Verfügung hat: Anders, als man von einem Soziologen vielleicht erwartet, steht dabei nicht „Gesellschaft”, sondern Unterricht im Zentrum des Interesses, diese besondere, vom Alltag so deutlich unterschiedene und für Laien häufig fremd anmutende Form der Interaktion: asymmetrisch, zugleich an Themen und Personenveränderung orientiert, schwer zielgenau zu steuern.
Luhmann offeriert Unterscheidungen für die Analyse, etwa die von „Sozialisation” und „Erziehung” - das eine geschieht sowieso, das andere ist der ehrgeizige Versuch, zu überformen, was sowieso geschieht, und dann mit den Folgen leben zu können. „Codierung” und „Programmierung” ist ein anderes Paar: Bildung, als Programm, beherrscht die Rhetorik der Schule; Codierung, die Selektion nach Leistung und die Unterscheidung der Schüler als „besser” oder „schlechter”, die Praxis. Auch „Medium” und „Form” werden als Beschreibungssystem früh erprobt, zuerst für das Kind als Medium der Pädagogik, dann am „Lebenslauf”, aber das Thema hat hier noch keinen befriedigenden Abschluss gefunden.
Aufschlussreicher sind dann Luhmanns Versuche, bekannte, auch kritisierte Tatsachen des Systems neu zu verstehen: Die „Zensur” und die Leistungsmessung wird so gegen die Aversion der Pädagogen als notwendiger Mechanismus aufgewiesen, ohne den alle pädagogische Absicht ins Leere ginge. Im Blick auf „Anfang und Ende” versteht man den unvermeidlichen Weg von anfänglicher Gleichheit („Homogenisierung”) zu Differenz und Ungleichheit im Lernprozess.
Die Trivialmaschine
Luhmann kennt auch die Alltagsprobleme, vor allem der Zeitorganisation und den Zwang, unter Zeitdruck und bei unvollständiger Kenntnis der Lage im Unterricht dennoch handeln zu müssen, und zwar anschlussfähig, so, dass die Klasse sich auf Lehr- und Lernstrategien einlässt und eine eigene Lerngeschichte im Unterricht mitträgt. Die Differenz von „Organisation” und „Methode” erlaubt es dann, Strategien zu prüfen, und es ist nicht das unbegrenzte Vertrauen auf die Person, das Luhmann empfiehlt, weil er die Überlastung mit Erwartungen kennt.
In den praktischen Implikationen führt das zu einer relativ konventionellen Pädagogik, nahezu klassisch ist Luhmann darin, dass er den Unterricht primär als Erziehungsagentur versteht, die Lernen organisiert. Der erste Text verbindet insofern Tradition und Moderne: „Erziehender Unterricht”, das war schon Herbarts Losung um 1800, „als Interaktionssystem”, das ist das neue Theorieangebot (das im Luhmann-Umkreis, etwa bei Jürgen Markowitz, elaboriert ausgearbeitet wurde - Hinweise zur weiteren Lektüre gibt Lenzen leider nicht). Lernende, lernt man dann, werden von den Pädagogen als „Trivialmaschine” gedacht und nach dem Schema von Input und Output behandelt, ohne wirklich zu wissen, wie die Maschine funktioniert. Das Innere wird einfach als black box behandelt; aber auch das wusste schon die reflektierte Tradition: dass die Probleme damit beginnen, dass man auf das Innere des Menschen einwirken will, aber zum Innern keinen Zugang hat.
Ratschläge an den pädagogischen Akteur liegen hier nicht unmittelbar nahe, mehr als „professionelle Notbehelfe” hält Luhmann auch kaum für möglich. Aber er schreibt das nicht aus Schadenfreude. Der distanzierte Blick auf die Probleme von Schule und Unterricht eröffnet vielmehr realistische Handlungsoptionen, Offenheit für die hilfreichen Mechanismen der Organisation, also das „Schulleben”, kluge Selbstbegrenzung in den Absichten und Versprechen, Lerngewinn also, wenn die Pädagogik zu einem solchen Wandel ihres Selbstverständnisses fähig ist.
Insofern hat Dieter Lenzen eine verdienstvolle Sammlung vorgelegt. Man kann sie nutzen, um die luhmannsche Theorie praxisnah in Aktion zu sehen, bevor sie sich in den lichten Höhen der konstruktivistisch-autopoietischen Theoriespiele verliert, in denen die ursprünglichen Probleme systematisiert und der allgemeinen Theorie eingefügt werden.
HEINZ-ELMAR TENORTH
NIKLAS LUHMANN: Schriften zur Pädagogik. Hrsg. und mit einem Nachwort von Dieter Lenzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 278 S., 11 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Niklas Luhmann habe sich schon frü