Produktdetails
- Verlag: Alber
- 1994.
- Seitenzahl: 510
- Deutsch
- Abmessung: 32mm x 151mm x 228mm
- Gewicht: 820g
- ISBN-13: 9783495477823
- ISBN-10: 3495477829
- Artikelnr.: 04850650
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.1995Der lange Marsch
Otto Pöggelers Mitteilungen aus den hermeneutischen Zirkeln
Mit der Frage, was unter "Hermeneutik" eigentlich zu verstehen sei, kann der Frager selbst einen Fachphilosophen schnell in Verlegenheit bringen. Kein Wunder, denn wie kaum ein anderer Bereich der Philosophie entziehen sich Begriff und Sache der eindeutigen Definition. Versteht man nämlich unter Hermeneutik die "philosophische Kunstlehre des Verstehens" oder eine "Lehre von der rechten Textauslegung", dann wird jede Erklärung ihrer Methodik und ihres Gegenstandes selbst bereits Auslegung und Interpretation sein. Ebendiesen Sachverhalt bezeichnet die bekannte Formel vom hermeneutischen Zirkel des Verstehens, der zugleich Thema und Lebenselement der Auslegungskunst ist - wer ihn begreifen möchte, muß sich in ihn hineinbegeben und ihn geduldig ausschreiten.
Das neue Buch von Otto Pöggeler bietet dem Leser gleich ein rundes Dutzend Beispiele für diesen hermeneutischen Zirkelschlag. Es handelt sich um Aufsätze und Vorträge des Autors aus dem vergangenen Vierteljahrhundert. Sie beschäftigen sich, wie der Verfasser in seiner Einleitung formuliert, mit dem Problem, wie die philosophische "Besinnung, die jeder durch sich selbst finden muß", mit sachlich unumstrittener und verallgemeinerbarer "Verbindlichkeit für die anderen Menschen" zusammengedacht werden könne. Doch so wichtig und vielleicht gerade gegenwärtig bedrängend diese Fragestellung auch erscheinen mag - wer auf den immerhin gut fünfhundert Seiten eine zumindest halbwegs schlüssige Lösung des Verfassers erwartet, sieht sich rundum enttäuscht.
Pöggelers "Schritte", so die ambulatorische Metaphorik des Buchtitels, in das hermeneutische Feld des Denkens bestehen in Wahrheit in Streifzügen, die in ihrer Weitläufigkeit für den Leser mitunter zu einem recht strapaziösen Langstreckenmarsch geraten. Das philosophische Terrain des Autors erstreckt sich von den Eiswüsten hegelianischer Abstraktion bis hin zu den stolpergefährlichen Holz- und Feldwegen Martin Heideggers und seiner Schülerschar. Dilthey, Begsson, Husserl, Scheler und Misch, insbesondere Oskar Becker, neben Heidegger zweiter Assistent Husserls, zählen für Pöggeler zu den wichtigsten Markierungsgrößen seines zuweilen recht unübersichtlichen geistigen Geländes. Hinzu kommt eine Reihe von Einzelstudien, etwa zu Hans Lipps oder Werner Marx oder über den einflußreichen Philosophenkreis um Erich Rothacker und seine Schüler, unter ihnen Joachim Ritter, Karl-Otto Apel oder Jürgen Habermas.
Der Bochumer Emeritus und Direktor des Hegel-Archivs Otto Pöggeler hat die philosophische Öffentlichkeit durch eine stupende Anzahl von Herausgeberschaften mit der hier erneut durchmessenen geistesgeschichtlichen Wegstrecke zwischen Hegel und Heidegger vertraut gemacht. In hermeneutisches Neuland führt er den Kenner seiner bisherigen Werke in der Tat nicht. Die "Schritte" sind deshalb vor allem für solche Leser von Interesse, die sich einen Panoramablick auf die Themenfülle der Pöggelerschen Hermeneutik verschaffen möchten, ohne sich die großen Monographien des Autors einzeln vorzunehmen. Geboten wird ihm ein mit profunder Kennerschaft angelegtes Ambulatorium durch die hermeneutischen Zirkel der Philosophie der letzten gut einhundertfünfzig Jahre.
Pöggeler hat seine Beiträge in die vier Themenfelder "Hermeneutik des Ausdrucks", "Phänomenologie und Metaphysik", "Ethik - Politik - Pädagogik" sowie "Geist und Geschichte" gegliedert. Doch handelt es sich dabei bestenfalls um Leitmotive, die ein filigranes Beziehungsgeflecht überschaubar machen sollen. Spürbar wird dies besonders an den zahlreichen Wiederholungen auch größerer Textpassagen in den einzelnen Beiträgen. Hegels Verfehlen der Hermeneutik, Diltheys Skizzen zur Methodik der Geisteswissenschaften und Husserls gegen Verstehenslehre und Lebensphilosophie gerichtete Wendung "zu den Sachen selbst" gehören zum Repertoire des Autors ebenso wie die zahlreichen Wendungen und Windungen Martin Heideggers oder ein sanfter Tadel für die Gadamersche Onto-Hermeneutik.
Es gibt freilich bei Pöggeler einen strukturellen und methodischen Mangel. Zwar zieht er den Leser im Verlaufe seiner gefälligen Ausführungen gleichsam Schritt für Schritt in den hermeneutischen Zirkel hinein. Einen Blick zurück, ein Innehalten oder gar einen Weg aus ihm hinaus gibt es für Pöggeler aber nicht mehr. Wie sollten aber jene Sachlichkeit und Allgemeinverbindlichkeit des Philosophierens herzustellen sein, zu denen sich der Verfasser zu Beginn seines Buches bekennt, wenn sein eigenes Denken immer wieder in bloße Kreisbahnen um den jeweiligen Gegenstand einschwenkt, statt sich einer klar umrissenen Sache zumindest asymptotisch zu nähern? Daß "in der Hermeneutik das jeweilige Eindringen in die Sache immer neue Differenzierungen und ständige Selbstkorrektur verlangt", ist sicher zutreffend. Aber wenn, wie beim Verfasser, völlig offen bleibt, nach welchen Kriterien solcherlei Vorstöße (und Rückzüge?), Irrungen (und Richtigstellungen?) als unvermeidbar oder aber als kunstgerecht zu bewerten sind, dann droht die Vestehenslehre in einen sicherlich gefälligen, zuweilen freilich auch selbstgefälligen Historismus abzugleiten.
So fällt es dem Leser schwer, die Leistungsfähigkeit des hermeneutischen Verfahrens nach verbindlichen Maßstäben zu messen. Gewiß muß Hermeneutik heute die Zeitgebundenheit ihrer eigenen Entstehung und damit die Geschichtlichkeit und Relativität ihrer Geltung reflektieren. Der darin sich anzeigende "Rückgriff auf die Mannigfaltigkeit des Wirklichen, der eine letzte Offenheit behält", und der sich wiederum daraus herleitende "Pluralismus der Philosophien" zählen - hierin ist Pöggeler zuzustimmen - zu ihren Stärken.
Diese Einsicht darf freilich nicht dazu führen, daß die Philosophie ihren Anspruch auf Kritik über Bord wirft. Den hat bekanntlich Wilhelm Dilthey bereits vor mehr als einhundert Jahren formuliert. Das Projekt einer "Kritik der historischen Vernunft", das er den Geisteswissenschaften aufgegeben hat, vermochte ihnen einen methodisch reflektierten Mittelweg zwischen spekulativer Geschichtsphilosophie und positivistischem Historismus zu bahnen. Pöggeler verdeutlicht dem Leser, daß eine Hermeneutik ohne kritische Reibung in Gefahr gerät, zu einem leerlaufenden Rad zu werden. MATTHIAS KROSS
Otto Pöggeler: "Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie". Verlag Karl Alber, Freiburg, München 1994. 508 Seiten, geb., 124,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Otto Pöggelers Mitteilungen aus den hermeneutischen Zirkeln
Mit der Frage, was unter "Hermeneutik" eigentlich zu verstehen sei, kann der Frager selbst einen Fachphilosophen schnell in Verlegenheit bringen. Kein Wunder, denn wie kaum ein anderer Bereich der Philosophie entziehen sich Begriff und Sache der eindeutigen Definition. Versteht man nämlich unter Hermeneutik die "philosophische Kunstlehre des Verstehens" oder eine "Lehre von der rechten Textauslegung", dann wird jede Erklärung ihrer Methodik und ihres Gegenstandes selbst bereits Auslegung und Interpretation sein. Ebendiesen Sachverhalt bezeichnet die bekannte Formel vom hermeneutischen Zirkel des Verstehens, der zugleich Thema und Lebenselement der Auslegungskunst ist - wer ihn begreifen möchte, muß sich in ihn hineinbegeben und ihn geduldig ausschreiten.
Das neue Buch von Otto Pöggeler bietet dem Leser gleich ein rundes Dutzend Beispiele für diesen hermeneutischen Zirkelschlag. Es handelt sich um Aufsätze und Vorträge des Autors aus dem vergangenen Vierteljahrhundert. Sie beschäftigen sich, wie der Verfasser in seiner Einleitung formuliert, mit dem Problem, wie die philosophische "Besinnung, die jeder durch sich selbst finden muß", mit sachlich unumstrittener und verallgemeinerbarer "Verbindlichkeit für die anderen Menschen" zusammengedacht werden könne. Doch so wichtig und vielleicht gerade gegenwärtig bedrängend diese Fragestellung auch erscheinen mag - wer auf den immerhin gut fünfhundert Seiten eine zumindest halbwegs schlüssige Lösung des Verfassers erwartet, sieht sich rundum enttäuscht.
Pöggelers "Schritte", so die ambulatorische Metaphorik des Buchtitels, in das hermeneutische Feld des Denkens bestehen in Wahrheit in Streifzügen, die in ihrer Weitläufigkeit für den Leser mitunter zu einem recht strapaziösen Langstreckenmarsch geraten. Das philosophische Terrain des Autors erstreckt sich von den Eiswüsten hegelianischer Abstraktion bis hin zu den stolpergefährlichen Holz- und Feldwegen Martin Heideggers und seiner Schülerschar. Dilthey, Begsson, Husserl, Scheler und Misch, insbesondere Oskar Becker, neben Heidegger zweiter Assistent Husserls, zählen für Pöggeler zu den wichtigsten Markierungsgrößen seines zuweilen recht unübersichtlichen geistigen Geländes. Hinzu kommt eine Reihe von Einzelstudien, etwa zu Hans Lipps oder Werner Marx oder über den einflußreichen Philosophenkreis um Erich Rothacker und seine Schüler, unter ihnen Joachim Ritter, Karl-Otto Apel oder Jürgen Habermas.
Der Bochumer Emeritus und Direktor des Hegel-Archivs Otto Pöggeler hat die philosophische Öffentlichkeit durch eine stupende Anzahl von Herausgeberschaften mit der hier erneut durchmessenen geistesgeschichtlichen Wegstrecke zwischen Hegel und Heidegger vertraut gemacht. In hermeneutisches Neuland führt er den Kenner seiner bisherigen Werke in der Tat nicht. Die "Schritte" sind deshalb vor allem für solche Leser von Interesse, die sich einen Panoramablick auf die Themenfülle der Pöggelerschen Hermeneutik verschaffen möchten, ohne sich die großen Monographien des Autors einzeln vorzunehmen. Geboten wird ihm ein mit profunder Kennerschaft angelegtes Ambulatorium durch die hermeneutischen Zirkel der Philosophie der letzten gut einhundertfünfzig Jahre.
Pöggeler hat seine Beiträge in die vier Themenfelder "Hermeneutik des Ausdrucks", "Phänomenologie und Metaphysik", "Ethik - Politik - Pädagogik" sowie "Geist und Geschichte" gegliedert. Doch handelt es sich dabei bestenfalls um Leitmotive, die ein filigranes Beziehungsgeflecht überschaubar machen sollen. Spürbar wird dies besonders an den zahlreichen Wiederholungen auch größerer Textpassagen in den einzelnen Beiträgen. Hegels Verfehlen der Hermeneutik, Diltheys Skizzen zur Methodik der Geisteswissenschaften und Husserls gegen Verstehenslehre und Lebensphilosophie gerichtete Wendung "zu den Sachen selbst" gehören zum Repertoire des Autors ebenso wie die zahlreichen Wendungen und Windungen Martin Heideggers oder ein sanfter Tadel für die Gadamersche Onto-Hermeneutik.
Es gibt freilich bei Pöggeler einen strukturellen und methodischen Mangel. Zwar zieht er den Leser im Verlaufe seiner gefälligen Ausführungen gleichsam Schritt für Schritt in den hermeneutischen Zirkel hinein. Einen Blick zurück, ein Innehalten oder gar einen Weg aus ihm hinaus gibt es für Pöggeler aber nicht mehr. Wie sollten aber jene Sachlichkeit und Allgemeinverbindlichkeit des Philosophierens herzustellen sein, zu denen sich der Verfasser zu Beginn seines Buches bekennt, wenn sein eigenes Denken immer wieder in bloße Kreisbahnen um den jeweiligen Gegenstand einschwenkt, statt sich einer klar umrissenen Sache zumindest asymptotisch zu nähern? Daß "in der Hermeneutik das jeweilige Eindringen in die Sache immer neue Differenzierungen und ständige Selbstkorrektur verlangt", ist sicher zutreffend. Aber wenn, wie beim Verfasser, völlig offen bleibt, nach welchen Kriterien solcherlei Vorstöße (und Rückzüge?), Irrungen (und Richtigstellungen?) als unvermeidbar oder aber als kunstgerecht zu bewerten sind, dann droht die Vestehenslehre in einen sicherlich gefälligen, zuweilen freilich auch selbstgefälligen Historismus abzugleiten.
So fällt es dem Leser schwer, die Leistungsfähigkeit des hermeneutischen Verfahrens nach verbindlichen Maßstäben zu messen. Gewiß muß Hermeneutik heute die Zeitgebundenheit ihrer eigenen Entstehung und damit die Geschichtlichkeit und Relativität ihrer Geltung reflektieren. Der darin sich anzeigende "Rückgriff auf die Mannigfaltigkeit des Wirklichen, der eine letzte Offenheit behält", und der sich wiederum daraus herleitende "Pluralismus der Philosophien" zählen - hierin ist Pöggeler zuzustimmen - zu ihren Stärken.
Diese Einsicht darf freilich nicht dazu führen, daß die Philosophie ihren Anspruch auf Kritik über Bord wirft. Den hat bekanntlich Wilhelm Dilthey bereits vor mehr als einhundert Jahren formuliert. Das Projekt einer "Kritik der historischen Vernunft", das er den Geisteswissenschaften aufgegeben hat, vermochte ihnen einen methodisch reflektierten Mittelweg zwischen spekulativer Geschichtsphilosophie und positivistischem Historismus zu bahnen. Pöggeler verdeutlicht dem Leser, daß eine Hermeneutik ohne kritische Reibung in Gefahr gerät, zu einem leerlaufenden Rad zu werden. MATTHIAS KROSS
Otto Pöggeler: "Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie". Verlag Karl Alber, Freiburg, München 1994. 508 Seiten, geb., 124,- DM.
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