Anders als Nietzsche dachte, ist die Schuld nicht aus dem modernen Leben verschwunden, sondern erobert zunehmend den politischen Raum. Schuldbekenntnisse sind heute fester Bestandteil nationaler wie internationaler Politik. Maria-Sibylla Lotter hinterfragt die kulturelle Bedeutung der neuen Schuldpraxis und unterscheidet die politische Bedeutung von Schuldbekenntnissen von ihrer moralischen und rechtlichen. Wie Praktiken der Ausrede und der Rache dienen auch Schuldbekenntnisse der Wiederherstellung gestörter Respektsbeziehungen unter Gleichen. Aufgrund ihrer Anfälligkeit für moralistische Missverständnisse können sie aber auch eine destruktive Eigendynamik entwickeln.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Schweitzer möchte sich bei Maria-Sibylla Lotter über das Thema Rache und Moral erkundigen. Der Rezensent reibt sich die Augen, wenn die Autorin eine Rehabilitatierung der Rache als einer progressiven Sozialtechnik vorschlägt, die kulturell eingeübt werden müsse. Die Philosophin positioniert sich damit in Opposition zu Teilen der zeitgenössischen Moralphilosophie, sieht Schweitzer, erkennt aber nicht, weshalb Racheverhalten beim Täter "für Verständnis sorgen soll". Wenn Lotter in Teil zwei des Bandes die jüngere Zeitgeschichte und ihre Entschuldigungskultur in ihre Überlegungen einbezieht, horcht Schweitzer auf. Begrifflich zu erfassen ist das entsprechende politische Handeln aber nur schwer, ahnt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Schuld und Respekt ist ein Paradebeispiel, wie politisch kontroverse Begriffe nüchtern und differenziert erörtert werden können.« Marc Püschel junge Welt 20240725