Deutschland, irgendwo, in naher Zukunft: Beklommen steigt eine Gruppe Reisender in einen bereitgestellten Bus und fährt einer neuartigen, überaus angepriesenen Fortbildung für Arbeitslose entgegen, fährt ins Trainingslager »Sphericon«. Der Bus trägt das Logo der Bundesagentur und den Slogan »Deutschland bewegt sich«. Geduckt sitzen die Trainees am Computer und feilen an ihren Lebensläufen. Sie nächtigen in provisorisch hergerichteten Schlafsälen. Ihr Essen erhalten sie aus Automaten, in Menge und Qualität gestaffelt nach den Leistungen der Vorwoche. Und dann gibt es noch einen Fitnessraum und auch einen »Samstagabend« und für die ganz Kontaktfreudigen noch die Weekend Suite - sowie die Stelle eines »Sphericon«-Trainers, um die sich die Teilnehmer bewerben sollen. Mit allen Mitteln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2007Schlimme, fette Welt
Arbeitslosenabwicklung: Joachim Zelter erzählt vom Elend
Allem Anschein nach deckt dieser Roman einen Bedarf. Seit seinem Erscheinen ist er vergleichsweise monoton gelobt worden als ein Werk in der Tradition von "Brave New World" und "1984", welches einen "schmerzhaft klaren Blick in eine düstere, nahe Zukunft" werfe; in welchem "unsere Welt nur ein kleines Stückchen weiter gedacht" werde; welches dann - im Extremfall - "ein eminent wichtiger Roman" sei. Da stutzt man kurz: Wie wichtig kann ein Buch sein, welches so offensichtlich auf seine Vorbilder verweist - Orwell und Huxley, Literatur für die aufkeimende Oberstufe also? Kann es sein: Die herzliche Aufnahme des Buches verrät weniger über seine Qualität als über die Erwartungen und Reflexe, mit denen weite Teile der Literaturkritik auf alles reagieren, was den Anschein gut verständlicher Gesellschaftskritik erweckt?
Der Plot des Buches ist schnell erzählt; er ist, weil man ja damals dabei war in der Oberstufe, auch nach zehn Seiten vollkommen absehbar; die größte Überraschung ist es, dass bis zum bitteren Ende so gar nichts Überraschendes geschehen mag: In einer nicht gar zu weit entfernten Zukunft, zirka zehn Jahre weg von uns, steht der Arbeitslosenpegel noch mal höher als heute, und die Arbeitslosen werden nun massenweise in Fortbildungscamps verbracht, wo man ihnen im Auftrag der Bundesagentur gründlich die Hirne wäscht: Jeder habe sein Schicksal selbst in der Hand; wer nur seine Biographie entschlossen genug fälsche, bekomme irgendwann seine Chance; wer keine Stelle abbekomme, habe sich eben nicht genügend bemüht.
Kalt und skizzenhaft entwirft der Erzähler seinen Handlungsort, die Arbeitslosenschulungsstätte "SPHERICON", eine von vielen ihrer Art. Verschüchtert unterwerfen sich die Arbeitslosen hier allem, was da auf sie zukommt: Entmündigung. Berieselung. Bewerbungstraining. Bewusst individuenbefreit, bewusst entwurfhaft wird das alles geschildert: "Eine stillgelegte Fabrik in einem niedergegangenen Industriegebiet. Zweistöckig. Das Gebäude wurde provisorisch renoviert - aufgeteilt in einzelne Räume und Zwischenräume: ,coaching zones', ,training points', ,recreation sectors' ... Im ersten Stock Schlafräume, Waschgelegenheiten und Duschen."
Einige Lektürezeit geht dahin, hinweg über Figurenschemen, Propagandaphrasen, Demütigungsroutinen - bis der Erzähler dann doch noch zwei Individuen einführt, welche, den Anforderungen des Genres gehorchend, in Opposition gehen. Karla und Roland werden hingeworfen als Träger von biographischen Elementen, von Kindheitserinnerungen, von zwischenmenschlichem Interesse; sie verstoßen gegen die Regeln, indem sie eine geistige statt der erwünschten sexuellen Beziehung aufnehmen. Mit souveräner, kühler, wenngleich risikoloser Sprache wird diese Welt zusammengezimmert, wechseln sich distanzierte Schilderungen standardisierter Abläufe ab mit streng dialogischen Verhörpassagen, welche man von der dritten an nur noch überfliegt. So maschinell die Arbeitslosen hier abgewickelt werden, so maschinell spult auch Joachim Zelter seinen Plot ab, so steril, wie seine Welt sein soll, ist auch der Zugriff des Erzählers - kann aber das funktionieren?
Kein gutes Buch ohne Unheil. Wie aber lockt der Autor seinen Leser da rein? Womit fängt er uns, welcher Wärmespur soll man folgen? Gern riebe man sich an einer verdichteten, individuellen Sprache - welche Zelters Funktionalismus absichtsvoll meidet. Oder auch nähme man personale Identifikationsangebote an; gäbe man sich dem wärmenden Kitzel des Dokumentarischen hin; vibrierte zur Not auch noch in der Aufgeladenheit spannender Handlung - nun ja. All das ist hier sorgfältig wegsterilisiert worden, für tot liegt das sorgsam gearbeitete Buch auf dem Tisch. Was es zum Leben erwecken könnte, wäre höchstens noch: die Wärme einer Stimme.
Dem Autor Joachim Zelter eilt der Ruf voraus, ein performativ engagierter, wenn nicht gar witziger Vorleser seiner eigenen Werke zu sein - hier wäre ein solcher dringend vonnöten. Gut vorgelesen, könnten sie wieder funktionieren, die Anleihen aus Drittreich- und Endkampfrhetorik, die irren Aufpeitschphrasen aus den Managerseminaren, die Zynismen der Polit-Talkshows. Ein guter Vorleser könnte die fehlende Brechung einarbeiten, könnte das Werk zu seinem eigentlichen Witz finden lassen, der ja in der beinahe lückenlosen Ernsthaftigkeit des Erzählers liegt, im neurotischen Totalitarismus seiner Ideen und auch in der verborgenen Begeisterung für all die hohlen Phrasen, die hier so gründlich durchdekliniert werden.
Die "Schule der Arbeitslosen" ist vor allem ein versiertes Spiel mit Rhetorik. Dass das Buch aber gar zu dicht und gar zu scharfsinnig auf unser Heute reagiere - also, da muss man doch bitten. Zu wohlfeil ist es, die derzeitigen Probleme unseres Kapitalismus und unserer Medienrealität mit der Sprache des Dritten Reiches zu verschränken - da bleibt die Analysentiefe doch recht seicht.
In der echten Welt gäbe es ja reichlich genug zu finden und zu beschreiben vom Zynismus, mit dem Arbeitslose sich heute zu befassen haben, von der Absurdität real vorhandener Schwachsinnsschulungen und Pseudobeschäftigungen, welche durch die Verlagerung in eine dystopische Zukunft hier ihren wirkungsvollsten Resonanzboden verlieren. Viel gäbe es zu sagen über die Debattenrhetorik, mit der von den Fehlfunktionen unseres Politwirtschaftssystems fernsehweit abgelenkt wird; auch verdient das tragikomische Monstrum der Bundesagentur für Arbeit literarische Aufmerksamkeit. Dass aber aus einer verfetteten, ratlosen, still vor sich hin wuchernden Behörde binnen weniger Jahre eine straff organisierte, totalitäre Institution werden könnte - alles, was recht ist, das ist wahrhaftig nicht die größte Angst unserer Tage.
KLAUS UNGERER.
Joachim Zelter: "Schule der Arbeitslosen". Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2006. 206 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arbeitslosenabwicklung: Joachim Zelter erzählt vom Elend
Allem Anschein nach deckt dieser Roman einen Bedarf. Seit seinem Erscheinen ist er vergleichsweise monoton gelobt worden als ein Werk in der Tradition von "Brave New World" und "1984", welches einen "schmerzhaft klaren Blick in eine düstere, nahe Zukunft" werfe; in welchem "unsere Welt nur ein kleines Stückchen weiter gedacht" werde; welches dann - im Extremfall - "ein eminent wichtiger Roman" sei. Da stutzt man kurz: Wie wichtig kann ein Buch sein, welches so offensichtlich auf seine Vorbilder verweist - Orwell und Huxley, Literatur für die aufkeimende Oberstufe also? Kann es sein: Die herzliche Aufnahme des Buches verrät weniger über seine Qualität als über die Erwartungen und Reflexe, mit denen weite Teile der Literaturkritik auf alles reagieren, was den Anschein gut verständlicher Gesellschaftskritik erweckt?
Der Plot des Buches ist schnell erzählt; er ist, weil man ja damals dabei war in der Oberstufe, auch nach zehn Seiten vollkommen absehbar; die größte Überraschung ist es, dass bis zum bitteren Ende so gar nichts Überraschendes geschehen mag: In einer nicht gar zu weit entfernten Zukunft, zirka zehn Jahre weg von uns, steht der Arbeitslosenpegel noch mal höher als heute, und die Arbeitslosen werden nun massenweise in Fortbildungscamps verbracht, wo man ihnen im Auftrag der Bundesagentur gründlich die Hirne wäscht: Jeder habe sein Schicksal selbst in der Hand; wer nur seine Biographie entschlossen genug fälsche, bekomme irgendwann seine Chance; wer keine Stelle abbekomme, habe sich eben nicht genügend bemüht.
Kalt und skizzenhaft entwirft der Erzähler seinen Handlungsort, die Arbeitslosenschulungsstätte "SPHERICON", eine von vielen ihrer Art. Verschüchtert unterwerfen sich die Arbeitslosen hier allem, was da auf sie zukommt: Entmündigung. Berieselung. Bewerbungstraining. Bewusst individuenbefreit, bewusst entwurfhaft wird das alles geschildert: "Eine stillgelegte Fabrik in einem niedergegangenen Industriegebiet. Zweistöckig. Das Gebäude wurde provisorisch renoviert - aufgeteilt in einzelne Räume und Zwischenräume: ,coaching zones', ,training points', ,recreation sectors' ... Im ersten Stock Schlafräume, Waschgelegenheiten und Duschen."
Einige Lektürezeit geht dahin, hinweg über Figurenschemen, Propagandaphrasen, Demütigungsroutinen - bis der Erzähler dann doch noch zwei Individuen einführt, welche, den Anforderungen des Genres gehorchend, in Opposition gehen. Karla und Roland werden hingeworfen als Träger von biographischen Elementen, von Kindheitserinnerungen, von zwischenmenschlichem Interesse; sie verstoßen gegen die Regeln, indem sie eine geistige statt der erwünschten sexuellen Beziehung aufnehmen. Mit souveräner, kühler, wenngleich risikoloser Sprache wird diese Welt zusammengezimmert, wechseln sich distanzierte Schilderungen standardisierter Abläufe ab mit streng dialogischen Verhörpassagen, welche man von der dritten an nur noch überfliegt. So maschinell die Arbeitslosen hier abgewickelt werden, so maschinell spult auch Joachim Zelter seinen Plot ab, so steril, wie seine Welt sein soll, ist auch der Zugriff des Erzählers - kann aber das funktionieren?
Kein gutes Buch ohne Unheil. Wie aber lockt der Autor seinen Leser da rein? Womit fängt er uns, welcher Wärmespur soll man folgen? Gern riebe man sich an einer verdichteten, individuellen Sprache - welche Zelters Funktionalismus absichtsvoll meidet. Oder auch nähme man personale Identifikationsangebote an; gäbe man sich dem wärmenden Kitzel des Dokumentarischen hin; vibrierte zur Not auch noch in der Aufgeladenheit spannender Handlung - nun ja. All das ist hier sorgfältig wegsterilisiert worden, für tot liegt das sorgsam gearbeitete Buch auf dem Tisch. Was es zum Leben erwecken könnte, wäre höchstens noch: die Wärme einer Stimme.
Dem Autor Joachim Zelter eilt der Ruf voraus, ein performativ engagierter, wenn nicht gar witziger Vorleser seiner eigenen Werke zu sein - hier wäre ein solcher dringend vonnöten. Gut vorgelesen, könnten sie wieder funktionieren, die Anleihen aus Drittreich- und Endkampfrhetorik, die irren Aufpeitschphrasen aus den Managerseminaren, die Zynismen der Polit-Talkshows. Ein guter Vorleser könnte die fehlende Brechung einarbeiten, könnte das Werk zu seinem eigentlichen Witz finden lassen, der ja in der beinahe lückenlosen Ernsthaftigkeit des Erzählers liegt, im neurotischen Totalitarismus seiner Ideen und auch in der verborgenen Begeisterung für all die hohlen Phrasen, die hier so gründlich durchdekliniert werden.
Die "Schule der Arbeitslosen" ist vor allem ein versiertes Spiel mit Rhetorik. Dass das Buch aber gar zu dicht und gar zu scharfsinnig auf unser Heute reagiere - also, da muss man doch bitten. Zu wohlfeil ist es, die derzeitigen Probleme unseres Kapitalismus und unserer Medienrealität mit der Sprache des Dritten Reiches zu verschränken - da bleibt die Analysentiefe doch recht seicht.
In der echten Welt gäbe es ja reichlich genug zu finden und zu beschreiben vom Zynismus, mit dem Arbeitslose sich heute zu befassen haben, von der Absurdität real vorhandener Schwachsinnsschulungen und Pseudobeschäftigungen, welche durch die Verlagerung in eine dystopische Zukunft hier ihren wirkungsvollsten Resonanzboden verlieren. Viel gäbe es zu sagen über die Debattenrhetorik, mit der von den Fehlfunktionen unseres Politwirtschaftssystems fernsehweit abgelenkt wird; auch verdient das tragikomische Monstrum der Bundesagentur für Arbeit literarische Aufmerksamkeit. Dass aber aus einer verfetteten, ratlosen, still vor sich hin wuchernden Behörde binnen weniger Jahre eine straff organisierte, totalitäre Institution werden könnte - alles, was recht ist, das ist wahrhaftig nicht die größte Angst unserer Tage.
KLAUS UNGERER.
Joachim Zelter: "Schule der Arbeitslosen". Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2006. 206 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.07.2006Sie schinden sich hier
Stille Eskalation: Joachim Zelters „Schule der Arbeitslosen”
2016. Einerseits ist das noch ein gute Weile hin. Zehn Jahre. Mindestens zwei Bundeskanzler werden noch gewählt bis dahin, zwei Fußballweltmeisterschaften wegspektakelt. Andererseits: Eine Dekade, was ist das schon inzwischen? Ein Neuntel eines Menschenlebens. Und vielleicht eine CD mehr neben denen mit den Hits der 70er, 80er und 90er. 2016, das ist also zu weit weg, um zu wissen, wer dann die entscheidenden Chancen versieben wird - aber immer noch nah genug, um ziemlich sicher sein zu können, dass es so weit kommt.
In eben dieses Jahr 2016 hat der 1962 geborene Anglist und Schriftsteller Joachim Zelter sein sechstes Buch, „Schule der Arbeitslosen”, verlegt. Und es geht genau darum: eine provisorisch renovierte private Schule für Arbeitslose namens Sphericon in einer „stillgelegten Fabrik in einem niedergegangenen Industriegebiet”. Dorthin, in die „School of Life”, verfrachtet die staatliche „Bundesagentur” bei Zelter ihre Arbeitslosen per Bus zur „Lebensschulung”. Sphericon ist freiwillig. Für die Arbeitslosen allerdings, die das „Angebot” nicht annehmen, gibt es auch nicht den bei der späteren Arbeitssuche hilfreichen, vorteilhaften Status in den Dossiers der Agentur.
Als Anstaltsroman, als Anstaltsreportage nimmt die Sache ihren Lauf. Fast unmerklich, irritierend zart nur zeigt sich der utopische Überschuss: „SPHERICON liegt in der Düsseldorfer Straße. Sie ist noch nicht geschlossen. Ihre Gebäude wurden notdürftig umfunktioniert, in Bowling Centers, Ersatzteillager und sektiererische Gotteshäuser.” Zelter seziert sein Thema, treibt den Leser von einer Seite zur nächsten, in dem er ganz nüchtern die Details einspielt. Die Diktion ist karg, fast kühl, während sich der ungeheuerliche Raum des Buchs entfaltet. Hartnäckig bleibt der frühe Satz im Ohr: „SPHERICON ist absolut freiwillig.”
Die großen Dystopien des vergangenen Jahrhunderts klingen an. Aber in Huxleys schöner neuer Welt donnert gleich im ersten Absatz der „Wahlspruch des Weltstaats”, und Orwell lässt in „1984” schon im zweiten Absatz die „Hass-Woche” planen und den „Großen Bruder” grüßen. Zelters Buch dagegen erhält seine Wucht, weil es die auf die Verwaltung schwer Vermittelbarer abgerichtete und abrichtende Ideologie der echten Bundesagentur beim Wort nimmt: „Wenn überhaupt, dann produziert SPHERICON Möglichkeiten. . . SPHERICON ist ein Maßnahmen-Center.”
Arbeit ist Freiheit
In diesem Maßnahmen-Center sollen innerhalb von drei Monaten aus schlaffen Arbeitslosen dynamische „Bewerber” werden, besser noch: furchtlose Bewerbungsprofis. „Work is Freedom” oder „Just do it” lauten die Merksätze. Es hätte dieser dunklen Anspielungen vielleicht gar nicht bedurft, sie fügen der Sache kaum etwas hinzu. Der brutale, lebensfeindliche Unterton der Rhetorik der in unserer Gegenwart große Hallen füllenden Motivationstrainer wird so aber vielleicht auch nur mit der gebührenden Härte demaskiert.
„Die Arbeit verfolgt uns nicht mehr. Wir verfolgen sie. Wir fahnden nach ihr. Mit allen Mitteln. Wie nach einem kostbaren Rohstoff. Oder wie ein Jäger nach Beute. Die eigentliche Arbeit ist heute nicht mehr die Arbeit selbst, sondern die Suche nach Arbeit”, erklärt der Sphericon-Schulleiter zackig zur Begrüßung seiner neuen Eleven.
Das Panorama der möglichst marktkonformen Zurichtung der Schüler, das Zelter nach und nach entfaltet, reicht vom Studium der Todesanzeigen - denn die sind schließlich auch nichts anderes als Hinweise auf freie, weil gerade freigewordene Stellen - bis zum „biographischen Arbeiten”, der vollkommen willkürlichen Erfindung eines Erfolg versprechenden Lebenslaufs, der dann der eigene sein soll, obwohl gerade noch Name, Alter und Geburtsort der Wahrheit entsprechen. „Ein Jahr nicht in der Schule. Was kann man daraus machen?”, fragt ein Ausbilder. Die Klasse einigt sich für Karla auf eine Tätigkeit als Reiseleiterin in Patagonien.
„Bonus Coins”, die Währung Sphericons für die Nahrungsautomaten, gibt es, wenn ein Schüler in der Lage ist, in oft stundenlangen, simulierten Vorstellungsgesprächen das neue Leben überzeugend als das eigene zu präsentieren - nachdem er nachts um drei aus dem Bett geholt wurde.
Dass bald zwei Schüler versuchen, das System zu unterlaufen, ist natürlich der unvermeidliche Tribut ans Genre. Das Szenario jedoch, innerhalb dessen dies geschieht, entwickelt einen ganz eigenen Sog, denn Zelter spielt den Ernstfall ein: den Kampf um eine Trainerstelle an der Schule, die der beste Absolvent, der fleißigste biografische Arbeiter bekommen soll.
Zur denkbar kältesten Attacke auf den Mythos Vollbeschäftigung macht das Buch allerdings sein Schluss, eine Art stille Eskalation des Szenarios. Die Kür des einen neuen Trainers ist darin nur der Auftakt. Zur bitteren Pointe, die natürlich nicht verraten werden soll, sei bloß gesagt: Konsequenter ist die Frage, was denn nun zu tun ist mit dem menschlichen Strandgut, das die strukturelle Arbeitslosigkeit im späten Informationskapitalismus massenhaft produziert - konsequenter ist diese Frage literarisch zuletzt nicht beantwortet worden.
JENS-CHRISTIAN RABE
JOACHIM ZELTER: Schule der Arbeitslosen. Roman. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2006. 207 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Stille Eskalation: Joachim Zelters „Schule der Arbeitslosen”
2016. Einerseits ist das noch ein gute Weile hin. Zehn Jahre. Mindestens zwei Bundeskanzler werden noch gewählt bis dahin, zwei Fußballweltmeisterschaften wegspektakelt. Andererseits: Eine Dekade, was ist das schon inzwischen? Ein Neuntel eines Menschenlebens. Und vielleicht eine CD mehr neben denen mit den Hits der 70er, 80er und 90er. 2016, das ist also zu weit weg, um zu wissen, wer dann die entscheidenden Chancen versieben wird - aber immer noch nah genug, um ziemlich sicher sein zu können, dass es so weit kommt.
In eben dieses Jahr 2016 hat der 1962 geborene Anglist und Schriftsteller Joachim Zelter sein sechstes Buch, „Schule der Arbeitslosen”, verlegt. Und es geht genau darum: eine provisorisch renovierte private Schule für Arbeitslose namens Sphericon in einer „stillgelegten Fabrik in einem niedergegangenen Industriegebiet”. Dorthin, in die „School of Life”, verfrachtet die staatliche „Bundesagentur” bei Zelter ihre Arbeitslosen per Bus zur „Lebensschulung”. Sphericon ist freiwillig. Für die Arbeitslosen allerdings, die das „Angebot” nicht annehmen, gibt es auch nicht den bei der späteren Arbeitssuche hilfreichen, vorteilhaften Status in den Dossiers der Agentur.
Als Anstaltsroman, als Anstaltsreportage nimmt die Sache ihren Lauf. Fast unmerklich, irritierend zart nur zeigt sich der utopische Überschuss: „SPHERICON liegt in der Düsseldorfer Straße. Sie ist noch nicht geschlossen. Ihre Gebäude wurden notdürftig umfunktioniert, in Bowling Centers, Ersatzteillager und sektiererische Gotteshäuser.” Zelter seziert sein Thema, treibt den Leser von einer Seite zur nächsten, in dem er ganz nüchtern die Details einspielt. Die Diktion ist karg, fast kühl, während sich der ungeheuerliche Raum des Buchs entfaltet. Hartnäckig bleibt der frühe Satz im Ohr: „SPHERICON ist absolut freiwillig.”
Die großen Dystopien des vergangenen Jahrhunderts klingen an. Aber in Huxleys schöner neuer Welt donnert gleich im ersten Absatz der „Wahlspruch des Weltstaats”, und Orwell lässt in „1984” schon im zweiten Absatz die „Hass-Woche” planen und den „Großen Bruder” grüßen. Zelters Buch dagegen erhält seine Wucht, weil es die auf die Verwaltung schwer Vermittelbarer abgerichtete und abrichtende Ideologie der echten Bundesagentur beim Wort nimmt: „Wenn überhaupt, dann produziert SPHERICON Möglichkeiten. . . SPHERICON ist ein Maßnahmen-Center.”
Arbeit ist Freiheit
In diesem Maßnahmen-Center sollen innerhalb von drei Monaten aus schlaffen Arbeitslosen dynamische „Bewerber” werden, besser noch: furchtlose Bewerbungsprofis. „Work is Freedom” oder „Just do it” lauten die Merksätze. Es hätte dieser dunklen Anspielungen vielleicht gar nicht bedurft, sie fügen der Sache kaum etwas hinzu. Der brutale, lebensfeindliche Unterton der Rhetorik der in unserer Gegenwart große Hallen füllenden Motivationstrainer wird so aber vielleicht auch nur mit der gebührenden Härte demaskiert.
„Die Arbeit verfolgt uns nicht mehr. Wir verfolgen sie. Wir fahnden nach ihr. Mit allen Mitteln. Wie nach einem kostbaren Rohstoff. Oder wie ein Jäger nach Beute. Die eigentliche Arbeit ist heute nicht mehr die Arbeit selbst, sondern die Suche nach Arbeit”, erklärt der Sphericon-Schulleiter zackig zur Begrüßung seiner neuen Eleven.
Das Panorama der möglichst marktkonformen Zurichtung der Schüler, das Zelter nach und nach entfaltet, reicht vom Studium der Todesanzeigen - denn die sind schließlich auch nichts anderes als Hinweise auf freie, weil gerade freigewordene Stellen - bis zum „biographischen Arbeiten”, der vollkommen willkürlichen Erfindung eines Erfolg versprechenden Lebenslaufs, der dann der eigene sein soll, obwohl gerade noch Name, Alter und Geburtsort der Wahrheit entsprechen. „Ein Jahr nicht in der Schule. Was kann man daraus machen?”, fragt ein Ausbilder. Die Klasse einigt sich für Karla auf eine Tätigkeit als Reiseleiterin in Patagonien.
„Bonus Coins”, die Währung Sphericons für die Nahrungsautomaten, gibt es, wenn ein Schüler in der Lage ist, in oft stundenlangen, simulierten Vorstellungsgesprächen das neue Leben überzeugend als das eigene zu präsentieren - nachdem er nachts um drei aus dem Bett geholt wurde.
Dass bald zwei Schüler versuchen, das System zu unterlaufen, ist natürlich der unvermeidliche Tribut ans Genre. Das Szenario jedoch, innerhalb dessen dies geschieht, entwickelt einen ganz eigenen Sog, denn Zelter spielt den Ernstfall ein: den Kampf um eine Trainerstelle an der Schule, die der beste Absolvent, der fleißigste biografische Arbeiter bekommen soll.
Zur denkbar kältesten Attacke auf den Mythos Vollbeschäftigung macht das Buch allerdings sein Schluss, eine Art stille Eskalation des Szenarios. Die Kür des einen neuen Trainers ist darin nur der Auftakt. Zur bitteren Pointe, die natürlich nicht verraten werden soll, sei bloß gesagt: Konsequenter ist die Frage, was denn nun zu tun ist mit dem menschlichen Strandgut, das die strukturelle Arbeitslosigkeit im späten Informationskapitalismus massenhaft produziert - konsequenter ist diese Frage literarisch zuletzt nicht beantwortet worden.
JENS-CHRISTIAN RABE
JOACHIM ZELTER: Schule der Arbeitslosen. Roman. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2006. 207 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein Königreich für einen guten Vorleser, ruft Rezensent Klaus Ungerer verzweifelt. Joachim Zelter habe seinen Roman in so perfekter Mimikry an unbeseelte Endzeiten geschrieben, dass für den Leser kein bisschen "Wärmespur" mehr übrig bleibe: keine Identifikation mit Figuren, keine individuelle Sprache des Textes. "Sorgsam" und "absichtlich" sterilisiert ist der Roman aus Sicht des Rezensenten und liefere stattdessen eine Collage von Jargonzitaten, sei es LTI, also Nazitalk, Managerplattitüden oder Talkshow-"Zynismen". Der Witz des Ganzen, sinniert der Rezensent, liege vielleicht in seiner gnadenlosen Ernsthaftigkeit. Inhaltlich sei aber das Herbeizitieren von Nazipropaganda ein wenig "wohlfeil" und auch sonst bliebe die Analysekraft des Buches an den Oberflächenphänomenen wie Bundesagentur für Arbeit, Fernsehdebatten, "Schwachsinnsschulungen" hängen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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