Nach Stationen bei der UN in New York und Burundi arbeitet Mira für das Büro der Vereinten Nationen in Genf. Während sie tagsüber Berichte über Krisenregionen und Friedensmaßnahmen schreibt, eilt sie abends durch die Gänge der Luxushotels, um zwischen verfeindeten Staatsvertretern zu vermitteln. Als ihre Rolle bei der Aufarbeitung des Völkermords in Burundi hinterfragt wird, gerät Miras Glaube, sie könne von außen eingreifen, ohne selbst schuldig zu werden, ins Wanken.
Was bedeuten Gerechtigkeit, Vertrauen und Verantwortung? Wie greifen Schutz und Herrschaft ineinander? Wie verhält sich Zeugenschaft zur Wahrheit? Und wer sitzt darüber zu Gericht? Hellsichtig und teilnahmsvoll geht Nora Bossong in ihrem virtuosen Roman diesen Fragen nach und setzt den Konflikten der Vergangenheit die Hoffnung auf Versöhnung entgegen.
Was bedeuten Gerechtigkeit, Vertrauen und Verantwortung? Wie greifen Schutz und Herrschaft ineinander? Wie verhält sich Zeugenschaft zur Wahrheit? Und wer sitzt darüber zu Gericht? Hellsichtig und teilnahmsvoll geht Nora Bossong in ihrem virtuosen Roman diesen Fragen nach und setzt den Konflikten der Vergangenheit die Hoffnung auf Versöhnung entgegen.
buecher-magazin.de„Es sind die Grenzen, die Einteilungen, die uns beruhigen, die Aufteilung zwischen Schlafen und Wachsein, in Wahrheit und Lüge, in heimlich und legitim, und auch wenn diese Grenzen willkürlich gezogen werden, glauben wir ihnen doch.“ Dieser Roman ist ein einziger innerer Monolog, sprunghaft, schmerzvoll, desillusioniert. Mira arbeitet für die Vereinten Nationen, sie leitet in Genf Verhandlungen zum Zypernkonflikt. Durch ein Wiedersehen mit Milan, bei dessen Familie sie als Kind während der Trennung ihrer Eltern einige Monate wohnte, wandern ihre Gedanken auch immer wieder dorthin zurück. Und während sie in ihrer Affäre mit Milan Grenzen überschreitet, wird auch ihre Rolle bei der Aufarbeitung des Völkermordes in Burundi hinterfragt. Ihre innere und äußere Welt gerät ins Wanken, sie muss sich der Frage stellen, wer sie in allem ist. Wie Bossong die Grenzen zwischen persönlichen und politischen Beziehungen in Miras Gedankenwelt verschränkt und ineinandergreifen lässt, ist eine große Kunst. Es ist die assoziative und poetische Sprache, die diesen hypnotischen Sog erzeugt, der den zutiefst menschlichen Bürokratiesumpf hinter der großen Bühne der Weltfriedenspolitik ergründet.
Bossong sprengt sprachgewaltig die Schutzzone zwischen persönlichen und politischen Grenzüberschreitungen.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
Bossong sprengt sprachgewaltig die Schutzzone zwischen persönlichen und politischen Grenzüberschreitungen.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
»Man kann die Beweglichkeit nur bewundern, mit der Nora Bossong ihr Thema ausfaltet, den Sinn für das bezeichnende Detail und die schlanken Pointen, mit der sie die innere Welt ihrer Heldin gegen alle Zumutungen der Globalität abfedert.« Thomas Thiel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191024
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.09.2019Mit dem Warlord am Grill
Wer hilft wem warum? Nora Bossongs Roman „Schutzzone“ kreist
kunstvoll um die Leerstellen moralischer Eindeutigkeit auf der weltpolitischen Bühne
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Unter den UN-Mitarbeitern gibt es in Nora Bossongs neuem Roman „Schutzzone“ ein Spiel, das sich „Nilpferd“ nennt. Es besteht darin, in einen offiziellen Bericht ein möglichst abseitiges Wort einzuschleusen, das mit dem Vorgang an sich nicht das Geringste zu tun hat, um dann zuzuschauen, wie viele administrative Ebenen der Bericht durchläuft, ohne beanstandet zu werden. Gelangt die Akte in die Hände des obersten Vorgesetzten, ist das Spiel gewonnen. Ein auf den ersten Blick sinnfreier Spaß, hinter dem, so formuliert es Nora Bossongs Erzählerin Mira, der Wunsch „nach ein wenig Anarchie in den bürokratischen Strukturen“ steckt. Und darüber hinaus selbstverständlich auch ein starkes Bild für die Willkürlichkeit organisatorischen Handelns. Über ein Land, in dem keine Sicherheiten herrschen, lässt sich im Zweifelsfall alles erzählen. „Ihr habt den ganzen Kontinent in eine Geschichte verwandelt“, sagt Zacharie, ein einheimischer Guide in Burundi zu Mira, „in einen Nebenzweig eurer Geschichte.“
Nora Bossongs Interesse an den feinen Verästelungen diplomatischer Gepflogenheiten und an der Verantwortung des Einzelnen für gesamtstaatliches Agieren ist nicht neu. Schon ihr zweiter, 2009 erschienener Roman „Webers Protokoll“ war der raffinierte Versuch einer Annäherung an die Möglichkeit, geschichtliche Wahrheit zu beschreiben und zugleich die Verweigerung eines literarischen Textes gegenüber einer Verpflichtung zum rein Faktischen. Die Chronologie der Geschichte um den deutschen Diplomaten Konrad Weber, der in den Jahren 1943 und 1944 für die Nationalsozialisten im diplomatischen Dienst in Mailand arbeitete und in der Bonner Republik als Abgesandter im Vatikan landete, war zersplittert, die Perspektivengestaltung komplex. In „Schutzzone“ setzt Bossong nun, zehn Jahre später, ihre Poetik der Uneindeutigkeit fort, doch hat sie ihre Mittel verfeinert und ist in ihrem Stoff näher an die Gegenwart herangerückt.
Mira ist Mitte der Achtzigerjahre in Bonn geboren, in der Hoch- und Endphase der alten Bundesrepublik. Nach dem Studium ist sie, eher durch einen Zufall als aus Idealismus, bei den UN gelandet, die sie im Jahr 2012 nach Bujumbura, dem wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Zentrum von Burundi, schicken. Und obwohl Nora Bossong aus der Ich-Perspektive und rückblickend aus dem Jahr 2017 erzählt und mithin die Erwartung an eine retrospektive Möglichkeit der Rekonstruktion von Zusammenhängen weckt, sind es die Leerstellen, die den Roman grundieren.
Zwei Vorwürfe sind es, mit denen „Schutzzone“, der für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, konfrontiert werden dürfte: Zum einen ist der Blick der Erzählerin naturgemäß rein eurozentrisch; allerdings ist diese Perspektive innerhalb des motivisch vielfach verflochtenen Romans auch stets reflektiert. Die diversen Blickwinkel, Weltbetrachtungen und Haltungen schieben sich knirschend übereinander, erzeugen Zweifel, Spannung, Ambivalenzen.
Zum anderen hantiert Nora Bossong mit den ganz großen Begriffen: „Frieden“, „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Versöhnung“ – das sind die Schlagworte, mit denen die Kapitel überschrieben sind. Das Überzeugende an „Schutzzone“ liegt unter anderem darin, dass Nora Bossong über diesen Katalog an hochtönenenden Sonntagswörtern nicht in julizehhafter Gewissheit verfügt, sondern im Gegenteil deren Bedeutung dekonstruiert, und das in einer nuancen- und vokabelreichen Diktion und in einem imponierenden sprachlichen Variantenreichtum. „Schutzzone“ ist kein Thesenroman und erst recht keine Kriegsreportage. Wer etwas über die konkrete politische Situation in Burundi nach dem Bürgerkrieg in den Nullerjahren erfahren wollte, wäre mit Bossongs Roman schlecht bedient. Das hat auch damit zu tun, dass Mira eine charakterlich nicht sonderlich sympathische und auch unzuverlässige Ausstattung hat und darüber hinaus auch über ihrer Zeit in Burundi der Schatten einer möglichen eigenen Verfehlung liegt. Mira, eine an sich bereits sinistere Figur, formuliert aus Eigeninteresse fragmentarisch und an entscheidenden Stellen bewusst lückenhaft. Das gilt auch für ihre Erinnerungen an ihre Beziehung zu einem Mann namens Aimé, dessen Funktion und mögliche Verbrechen im Bürgerkrieg widersprüchlich beurteilt werden. Man nennt ihn General; möglicherweise handelt es sich um eine Art von Warlord, doch auf welcher Seite er gestanden und mit welchen Methoden er gearbeitet hat, bleibt im Dunkeln.
Es gibt großartige Szenen in diesem Roman. Zu den besten gehören zweifelsohne jene zehn Seiten, in denen Mira mit verbundenen Augen zu Aimés Villa chauffiert wird, wo der General im dunklen Anzug mit Kochschürze darüber den Grill anfacht und dabei über Folter, getötete Seelen und vor allem über die Frage, wer tatsächlich wen dringender braucht, nachdenkt: „Ich weiß zwar nicht, was wir ohne Sie tun würden, aber noch weniger weiß ich, was Sie ohne uns täten.“
Das Verschwimmen des Politischen mit dem Privaten ist eines der Grundthemen von „Schutzzone“, nicht nur in der Mira-Aimé-Konstellation. Im Jahr 2017 trifft Mira in Genf, wo sie mittlerweile als Delegationsmitglied der Zypern-Verhandlungen lebt und arbeitet, den acht Jahre älteren Milan wieder. Mit Milan, ebenfalls aus Bonn und wie sein Vater ebenfalls im diplomatischen Dienst tätig, verbindet Mira eine Kindheitsgeschichte: Als ihre Eltern im Jahr 1994 im Begriff waren, sich zu trennen, schickte Miras Vater sie zwischenzeitlich zu einer Freundin, Milans Mutter.
Seinerzeit war der Altersunterschied entscheidend; nun, 23 Jahre später, entspinnt sich wie selbstverständlich ein Verhältnis zwischen dem verheirateten Milan und Mira, die dabei keinerlei Rücksichten zu nehmen scheint. „Schutzzone“ wirft Fragen auf, auf die Nora Bossong erfreulicherweise keine endgültigen Antworten parat hat: Wie steht es um die Differenz von Planbarem und Unvorhersehbaren? Wie wahrt man in unübersichtlichen Situationen den Schein der Souveränität? Was hat es auf sich mit vermeintlich moralischem Handeln und nicht formulierten kolonialen Interessen, sowohl im politischen als auch im persönlichen Kontext?
Die ethischen Dilemmata werden hier nicht explizit verhandelt, sondern sind in einen fluiden Text eingeschrieben. Die Ich-Perspektive täuscht zunächst über den Umstand hinweg, dass auch die Autorin selbst in ihrem Roman quasi unsichtbar bleibt: Meinungen, Wertungen oder Urteile sind ebenso unmerklich eliminiert wie eine Kausalität herstellende Psychologie. Stattdessen wechselt Nora Bossong bruchlos oft innerhalb kurzer Kapitel den Tonfall und die Perspektive und bleibt dabei doch immer nah an ihrer Protagonistin.
Das Entscheidende an „Schutzzone“ sind die Leerstellen und die Kälte, mit der Mira über diese Leerstellen hinwegdenkt. Das mag irritierend wirken, doch ist es nur konsequent, dass ein Roman, der voll ist von Sätzen wie „Menschen sind immer ein Problem, und das Problem werden Sie nicht los“, sich als eine dezidierte Absage an jegliche Form von Gefühligkeitsprosa verstehen lässt. Tribunale, Wahrheitskommission, Versöhnung – und Nilpferde: „Schutzzone“ pendelt zwischen der fatalistischen Einsicht, dass im schlechtesten Sinne jederzeit alles möglich ist, wenn Menschen im Spiel sind, und der vagen Hoffnung, dass es bei aller Irrationalität des Handelns tatsächlich so etwas geben kann wie einen befriedeten Raum. Ein komplexer Roman, eine komplexe Lektüre.
Nora Bossong: Schutzzone. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 336 Seiten, 24 Euro.
Die Bedeutung großer Begriffe
wird dekonstruiert:
Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit
Das Entscheidende
in dem Roman
sind die Leerstellen
Ihr neuer Roman „Schutzzone“ befindet sich derzeit auf der Longlist des Deutschen Buchpreises: die Lyrikerin und Roman-Autorin Nora Bossong.
Foto: Heike Steinweg, Suhrkamp Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wer hilft wem warum? Nora Bossongs Roman „Schutzzone“ kreist
kunstvoll um die Leerstellen moralischer Eindeutigkeit auf der weltpolitischen Bühne
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Unter den UN-Mitarbeitern gibt es in Nora Bossongs neuem Roman „Schutzzone“ ein Spiel, das sich „Nilpferd“ nennt. Es besteht darin, in einen offiziellen Bericht ein möglichst abseitiges Wort einzuschleusen, das mit dem Vorgang an sich nicht das Geringste zu tun hat, um dann zuzuschauen, wie viele administrative Ebenen der Bericht durchläuft, ohne beanstandet zu werden. Gelangt die Akte in die Hände des obersten Vorgesetzten, ist das Spiel gewonnen. Ein auf den ersten Blick sinnfreier Spaß, hinter dem, so formuliert es Nora Bossongs Erzählerin Mira, der Wunsch „nach ein wenig Anarchie in den bürokratischen Strukturen“ steckt. Und darüber hinaus selbstverständlich auch ein starkes Bild für die Willkürlichkeit organisatorischen Handelns. Über ein Land, in dem keine Sicherheiten herrschen, lässt sich im Zweifelsfall alles erzählen. „Ihr habt den ganzen Kontinent in eine Geschichte verwandelt“, sagt Zacharie, ein einheimischer Guide in Burundi zu Mira, „in einen Nebenzweig eurer Geschichte.“
Nora Bossongs Interesse an den feinen Verästelungen diplomatischer Gepflogenheiten und an der Verantwortung des Einzelnen für gesamtstaatliches Agieren ist nicht neu. Schon ihr zweiter, 2009 erschienener Roman „Webers Protokoll“ war der raffinierte Versuch einer Annäherung an die Möglichkeit, geschichtliche Wahrheit zu beschreiben und zugleich die Verweigerung eines literarischen Textes gegenüber einer Verpflichtung zum rein Faktischen. Die Chronologie der Geschichte um den deutschen Diplomaten Konrad Weber, der in den Jahren 1943 und 1944 für die Nationalsozialisten im diplomatischen Dienst in Mailand arbeitete und in der Bonner Republik als Abgesandter im Vatikan landete, war zersplittert, die Perspektivengestaltung komplex. In „Schutzzone“ setzt Bossong nun, zehn Jahre später, ihre Poetik der Uneindeutigkeit fort, doch hat sie ihre Mittel verfeinert und ist in ihrem Stoff näher an die Gegenwart herangerückt.
Mira ist Mitte der Achtzigerjahre in Bonn geboren, in der Hoch- und Endphase der alten Bundesrepublik. Nach dem Studium ist sie, eher durch einen Zufall als aus Idealismus, bei den UN gelandet, die sie im Jahr 2012 nach Bujumbura, dem wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Zentrum von Burundi, schicken. Und obwohl Nora Bossong aus der Ich-Perspektive und rückblickend aus dem Jahr 2017 erzählt und mithin die Erwartung an eine retrospektive Möglichkeit der Rekonstruktion von Zusammenhängen weckt, sind es die Leerstellen, die den Roman grundieren.
Zwei Vorwürfe sind es, mit denen „Schutzzone“, der für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, konfrontiert werden dürfte: Zum einen ist der Blick der Erzählerin naturgemäß rein eurozentrisch; allerdings ist diese Perspektive innerhalb des motivisch vielfach verflochtenen Romans auch stets reflektiert. Die diversen Blickwinkel, Weltbetrachtungen und Haltungen schieben sich knirschend übereinander, erzeugen Zweifel, Spannung, Ambivalenzen.
Zum anderen hantiert Nora Bossong mit den ganz großen Begriffen: „Frieden“, „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Versöhnung“ – das sind die Schlagworte, mit denen die Kapitel überschrieben sind. Das Überzeugende an „Schutzzone“ liegt unter anderem darin, dass Nora Bossong über diesen Katalog an hochtönenenden Sonntagswörtern nicht in julizehhafter Gewissheit verfügt, sondern im Gegenteil deren Bedeutung dekonstruiert, und das in einer nuancen- und vokabelreichen Diktion und in einem imponierenden sprachlichen Variantenreichtum. „Schutzzone“ ist kein Thesenroman und erst recht keine Kriegsreportage. Wer etwas über die konkrete politische Situation in Burundi nach dem Bürgerkrieg in den Nullerjahren erfahren wollte, wäre mit Bossongs Roman schlecht bedient. Das hat auch damit zu tun, dass Mira eine charakterlich nicht sonderlich sympathische und auch unzuverlässige Ausstattung hat und darüber hinaus auch über ihrer Zeit in Burundi der Schatten einer möglichen eigenen Verfehlung liegt. Mira, eine an sich bereits sinistere Figur, formuliert aus Eigeninteresse fragmentarisch und an entscheidenden Stellen bewusst lückenhaft. Das gilt auch für ihre Erinnerungen an ihre Beziehung zu einem Mann namens Aimé, dessen Funktion und mögliche Verbrechen im Bürgerkrieg widersprüchlich beurteilt werden. Man nennt ihn General; möglicherweise handelt es sich um eine Art von Warlord, doch auf welcher Seite er gestanden und mit welchen Methoden er gearbeitet hat, bleibt im Dunkeln.
Es gibt großartige Szenen in diesem Roman. Zu den besten gehören zweifelsohne jene zehn Seiten, in denen Mira mit verbundenen Augen zu Aimés Villa chauffiert wird, wo der General im dunklen Anzug mit Kochschürze darüber den Grill anfacht und dabei über Folter, getötete Seelen und vor allem über die Frage, wer tatsächlich wen dringender braucht, nachdenkt: „Ich weiß zwar nicht, was wir ohne Sie tun würden, aber noch weniger weiß ich, was Sie ohne uns täten.“
Das Verschwimmen des Politischen mit dem Privaten ist eines der Grundthemen von „Schutzzone“, nicht nur in der Mira-Aimé-Konstellation. Im Jahr 2017 trifft Mira in Genf, wo sie mittlerweile als Delegationsmitglied der Zypern-Verhandlungen lebt und arbeitet, den acht Jahre älteren Milan wieder. Mit Milan, ebenfalls aus Bonn und wie sein Vater ebenfalls im diplomatischen Dienst tätig, verbindet Mira eine Kindheitsgeschichte: Als ihre Eltern im Jahr 1994 im Begriff waren, sich zu trennen, schickte Miras Vater sie zwischenzeitlich zu einer Freundin, Milans Mutter.
Seinerzeit war der Altersunterschied entscheidend; nun, 23 Jahre später, entspinnt sich wie selbstverständlich ein Verhältnis zwischen dem verheirateten Milan und Mira, die dabei keinerlei Rücksichten zu nehmen scheint. „Schutzzone“ wirft Fragen auf, auf die Nora Bossong erfreulicherweise keine endgültigen Antworten parat hat: Wie steht es um die Differenz von Planbarem und Unvorhersehbaren? Wie wahrt man in unübersichtlichen Situationen den Schein der Souveränität? Was hat es auf sich mit vermeintlich moralischem Handeln und nicht formulierten kolonialen Interessen, sowohl im politischen als auch im persönlichen Kontext?
Die ethischen Dilemmata werden hier nicht explizit verhandelt, sondern sind in einen fluiden Text eingeschrieben. Die Ich-Perspektive täuscht zunächst über den Umstand hinweg, dass auch die Autorin selbst in ihrem Roman quasi unsichtbar bleibt: Meinungen, Wertungen oder Urteile sind ebenso unmerklich eliminiert wie eine Kausalität herstellende Psychologie. Stattdessen wechselt Nora Bossong bruchlos oft innerhalb kurzer Kapitel den Tonfall und die Perspektive und bleibt dabei doch immer nah an ihrer Protagonistin.
Das Entscheidende an „Schutzzone“ sind die Leerstellen und die Kälte, mit der Mira über diese Leerstellen hinwegdenkt. Das mag irritierend wirken, doch ist es nur konsequent, dass ein Roman, der voll ist von Sätzen wie „Menschen sind immer ein Problem, und das Problem werden Sie nicht los“, sich als eine dezidierte Absage an jegliche Form von Gefühligkeitsprosa verstehen lässt. Tribunale, Wahrheitskommission, Versöhnung – und Nilpferde: „Schutzzone“ pendelt zwischen der fatalistischen Einsicht, dass im schlechtesten Sinne jederzeit alles möglich ist, wenn Menschen im Spiel sind, und der vagen Hoffnung, dass es bei aller Irrationalität des Handelns tatsächlich so etwas geben kann wie einen befriedeten Raum. Ein komplexer Roman, eine komplexe Lektüre.
Nora Bossong: Schutzzone. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 336 Seiten, 24 Euro.
Die Bedeutung großer Begriffe
wird dekonstruiert:
Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit
Das Entscheidende
in dem Roman
sind die Leerstellen
Ihr neuer Roman „Schutzzone“ befindet sich derzeit auf der Longlist des Deutschen Buchpreises: die Lyrikerin und Roman-Autorin Nora Bossong.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2019Die Leerstelle zwischen Mission und Leben
Idee und Wirklichkeit der Vereinten Nationen: Nora Bossongs Roman "Schutzzone"
"Ihr wisst, dass ich Lügen hasse", sagt Marlow in Conrads "Herz der Finsternis", "dass ich sie verabscheue, nicht ausstehen kann. Nicht weil ich anständiger bin als andere, sondern einfach weil sie mir Angst machen. Es ist ein Hauch von Tod, ein Geschmack von Sterblichkeit an Lügen - und das ist ja genau das, was ich an der Welt hasse und verabscheue -, was ich vergessen will." Es ist anzunehmen, dass auch Mira, die Heldin von Nora Bossongs Roman, nicht viel von Lügen hält. Beruflich ist sie aber gezwungen, die Erfahrungen, die sie in den Krisengebieten dieser Welt sammelt, in eine sauerstoffarme Behördenprosa zu überführen, in der sich alles Leben in Prozesse, Statistiken, Strategiepläne auflöst, die wiederum nur ein Zögern verschleiert: die Ohnmacht der großen Bürokratie.
Mira ist zu bedauern. Sie arbeitet bei den Vereinten Nationen, was als toller Job gilt, doch sie fremdelt mit ihrer Arbeit, hat sich anders als ihre Kollegen keine professionelle Schutzhaut zugelegt. Sie hat kein Leben, wie man so sagt, wenn jemand allein ist, eingesperrt in einem Apartment mit höhnend weißem Mobiliar. Miras Aufgabe ist es, Frieden zu stiften zwischen Leuten, die von der höheren Wahrheit der Vereinten Nationen nichts wissen wollen, und Potentaten, die das nackte Überlebensinteresse antreibt. Wie ihre Kollegen ist Mira ortlos, getrieben, doch nicht flüchtig. Sie nimmt ihre Sache viel zu ernst.
Denn die Lügen braucht man ja, um die Lücken zu stopfen, die sich zwischen der Weltmission der Vereinten Nationen und dem eigenen und fremden Leben auftun, zwischen den Erfahrungen vor Ort und den Zahlenwerken, die sie operabel machen im Verkehr zwischen den Hierarchien. Und so liegt in den Leerstellen der Berichte, die Mira erstellt, eine sanfte, kompromittierende Grausamkeit.
Nora Bossong hat sich mit den Vereinten Nationen, jenem schwerfälligen, schief gewachsenen Gebilde, das wie keine zweite Institution dieser Erde für die Hoffnung steht, die Welt von einem Punkt aus zu regieren, einen uferlosen Stoff vorgelegt. Die Last, die sie ihrer Heldin damit auf die Schultern legt, wächst noch einmal mit der missionarischen Rhetorik der Vereinten Nationen, die weltweit nichts weniger als Frieden und Gerechtigkeit stiften will. Können Miras Schultern so viel Gewicht tragen? Die Personen in ihrem Umfeld sind jedenfalls nicht bereit, die Last mit ihrer zu teilen. Es sind Friedenslegionäre, die einen abenteuerlichen Reiz daran empfinden, von Brennpunkt zu Brennpunkt zu jetten, oder ernüchterte Idealisten, die sich arrangiert haben. Zwischen ihnen steht Mira, allein mit ihrer Skepsis.
Man kann die Beweglichkeit nur bewundern, mit der Nora Bossong ihr Thema ausfaltet, den Sinn für das bezeichnende Detail und die schlanken Pointen, mit der sie die innere Welt ihrer Heldin gegen alle Zumutungen der Globalität abfedert. Bossong hat ein besonderes Interesse daran, wie sich die globalisierte Welt in Personen begegnet. Wenn sie sich begegnet: Die UN-Mitarbeiter leben in Camps, die von Mossul bis Abidjan einander gleichen. Man lässt die Wirklichkeit nur so weit eindringen, wie sie operabel ist und wartet auf die nächste Karrierestation. Luftdicht abgeschlossen ist auch diese Existenzform nicht. Gemeinsam ist allen Personen, dass sie nicht vergessen können, was sie vor Ort gesehen haben. Das erlebte Elend zeichnet Risse in ihr Leben und setzt private Beziehungen bis an die Belastungsgrenze unter Druck, aber die Bereitschaft zum strategischen Handeln ist groß.
Milan, den Mira aus der Kindheit kennt, gehört zu jenen jederzeit absprungbereiten Kollegen, die alle Widersprüche an sich abperlen lassen. Das Spiel von Nähe und Distanz, das sich zwischen Mira und Milan entwickelt, ist vom Bewusstsein des Provisorischen bestimmt. Es ist eine Romantik, die nur im Augenblick Erfüllung findet, und weil Mira das alles schon weiß, hat das kurze Glück der Gegenwart eine besondere Intensität.
Anders als Mira hat Milan hat das Geschick, seinem Sagen und Tun die Aura von Bedeutung zu verleihen. Und er hat eine Schutzzone: seine Familie, die zwar löchrig ist, aber von Mira trotzdem nicht aus den Angeln gehoben werden kann. Beim Zufallstreffen im Genfer UN-Quartier flackern alte Gefühle noch mal auf, bevor die Wege wieder auseinanderführen.
Trotz des illusionslosen Blicks hat Bossong kein Schwarzbuch der Vereinten Nationen geschrieben. Sie trifft einen ausgewogenen Ton in der von Idealisierung und Abwehr bestimmten Debatte um koloniale Schuld und globale Gerechtigkeit. Es ist ja etwas dran an der Behauptung, dass sich fremde Wirklichkeit nicht mit den eigenen Begriffen einfangen lässt. Aber es ist auch selbstsüchtig, die Bewohner dieser Weltgegenden als Ikonen eines reinen Bewusstseins zu feiern, in dem man sich selbst spiegeln will, und ihnen auf diese Weise die Menschlichkeit zu nehmen, zu der auch das Böse gehört. Diese Doppelmoral macht sich besonders in Ruanda bemerkbar, einem zentralen Schauplatz in dem Roman, der wie kein zweiter für den Vorwurf an die UN-Friedensmission steht, sich im entscheidenden Augenblick aus dem Staub zu machen und dem Morden in schützender Distanz seinen Lauf zu lassen. Mit wenigen Strichen setzt Bossong Orte wie das ruandische Bujumbura so auf die Weltkarte, dass sie ein Eigengewicht haben gegenüber der großen Bürokratie. Wie bleich wirkt dagegen das mondäne Genf mit seinen sprühenden Fontänen.
Bossong spannt den Gegensatz zwischen Außen- und Innenwelt aufs äußerste. Die Welt schnellt immer wieder ins Bewusstsein der Heldin zurück. Der desillusionierte Blick mündet aber nicht in Klagelied oder Nabelschau, sondern in eine spannungsreiche Balance von Ästhetik und Politik. Mira wird aus dem Kosmos der Vereinten Nationen hinausgetrieben, der das Ganze sein will und nur ein Schattenwurf ist, hat in Gedanken aber schon jene Freiheit gefunden, nach der sich das alles begründende Denken sehnt.
THOMAS THIEL
Nora Bossong:
"Schutzzone". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 332 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Idee und Wirklichkeit der Vereinten Nationen: Nora Bossongs Roman "Schutzzone"
"Ihr wisst, dass ich Lügen hasse", sagt Marlow in Conrads "Herz der Finsternis", "dass ich sie verabscheue, nicht ausstehen kann. Nicht weil ich anständiger bin als andere, sondern einfach weil sie mir Angst machen. Es ist ein Hauch von Tod, ein Geschmack von Sterblichkeit an Lügen - und das ist ja genau das, was ich an der Welt hasse und verabscheue -, was ich vergessen will." Es ist anzunehmen, dass auch Mira, die Heldin von Nora Bossongs Roman, nicht viel von Lügen hält. Beruflich ist sie aber gezwungen, die Erfahrungen, die sie in den Krisengebieten dieser Welt sammelt, in eine sauerstoffarme Behördenprosa zu überführen, in der sich alles Leben in Prozesse, Statistiken, Strategiepläne auflöst, die wiederum nur ein Zögern verschleiert: die Ohnmacht der großen Bürokratie.
Mira ist zu bedauern. Sie arbeitet bei den Vereinten Nationen, was als toller Job gilt, doch sie fremdelt mit ihrer Arbeit, hat sich anders als ihre Kollegen keine professionelle Schutzhaut zugelegt. Sie hat kein Leben, wie man so sagt, wenn jemand allein ist, eingesperrt in einem Apartment mit höhnend weißem Mobiliar. Miras Aufgabe ist es, Frieden zu stiften zwischen Leuten, die von der höheren Wahrheit der Vereinten Nationen nichts wissen wollen, und Potentaten, die das nackte Überlebensinteresse antreibt. Wie ihre Kollegen ist Mira ortlos, getrieben, doch nicht flüchtig. Sie nimmt ihre Sache viel zu ernst.
Denn die Lügen braucht man ja, um die Lücken zu stopfen, die sich zwischen der Weltmission der Vereinten Nationen und dem eigenen und fremden Leben auftun, zwischen den Erfahrungen vor Ort und den Zahlenwerken, die sie operabel machen im Verkehr zwischen den Hierarchien. Und so liegt in den Leerstellen der Berichte, die Mira erstellt, eine sanfte, kompromittierende Grausamkeit.
Nora Bossong hat sich mit den Vereinten Nationen, jenem schwerfälligen, schief gewachsenen Gebilde, das wie keine zweite Institution dieser Erde für die Hoffnung steht, die Welt von einem Punkt aus zu regieren, einen uferlosen Stoff vorgelegt. Die Last, die sie ihrer Heldin damit auf die Schultern legt, wächst noch einmal mit der missionarischen Rhetorik der Vereinten Nationen, die weltweit nichts weniger als Frieden und Gerechtigkeit stiften will. Können Miras Schultern so viel Gewicht tragen? Die Personen in ihrem Umfeld sind jedenfalls nicht bereit, die Last mit ihrer zu teilen. Es sind Friedenslegionäre, die einen abenteuerlichen Reiz daran empfinden, von Brennpunkt zu Brennpunkt zu jetten, oder ernüchterte Idealisten, die sich arrangiert haben. Zwischen ihnen steht Mira, allein mit ihrer Skepsis.
Man kann die Beweglichkeit nur bewundern, mit der Nora Bossong ihr Thema ausfaltet, den Sinn für das bezeichnende Detail und die schlanken Pointen, mit der sie die innere Welt ihrer Heldin gegen alle Zumutungen der Globalität abfedert. Bossong hat ein besonderes Interesse daran, wie sich die globalisierte Welt in Personen begegnet. Wenn sie sich begegnet: Die UN-Mitarbeiter leben in Camps, die von Mossul bis Abidjan einander gleichen. Man lässt die Wirklichkeit nur so weit eindringen, wie sie operabel ist und wartet auf die nächste Karrierestation. Luftdicht abgeschlossen ist auch diese Existenzform nicht. Gemeinsam ist allen Personen, dass sie nicht vergessen können, was sie vor Ort gesehen haben. Das erlebte Elend zeichnet Risse in ihr Leben und setzt private Beziehungen bis an die Belastungsgrenze unter Druck, aber die Bereitschaft zum strategischen Handeln ist groß.
Milan, den Mira aus der Kindheit kennt, gehört zu jenen jederzeit absprungbereiten Kollegen, die alle Widersprüche an sich abperlen lassen. Das Spiel von Nähe und Distanz, das sich zwischen Mira und Milan entwickelt, ist vom Bewusstsein des Provisorischen bestimmt. Es ist eine Romantik, die nur im Augenblick Erfüllung findet, und weil Mira das alles schon weiß, hat das kurze Glück der Gegenwart eine besondere Intensität.
Anders als Mira hat Milan hat das Geschick, seinem Sagen und Tun die Aura von Bedeutung zu verleihen. Und er hat eine Schutzzone: seine Familie, die zwar löchrig ist, aber von Mira trotzdem nicht aus den Angeln gehoben werden kann. Beim Zufallstreffen im Genfer UN-Quartier flackern alte Gefühle noch mal auf, bevor die Wege wieder auseinanderführen.
Trotz des illusionslosen Blicks hat Bossong kein Schwarzbuch der Vereinten Nationen geschrieben. Sie trifft einen ausgewogenen Ton in der von Idealisierung und Abwehr bestimmten Debatte um koloniale Schuld und globale Gerechtigkeit. Es ist ja etwas dran an der Behauptung, dass sich fremde Wirklichkeit nicht mit den eigenen Begriffen einfangen lässt. Aber es ist auch selbstsüchtig, die Bewohner dieser Weltgegenden als Ikonen eines reinen Bewusstseins zu feiern, in dem man sich selbst spiegeln will, und ihnen auf diese Weise die Menschlichkeit zu nehmen, zu der auch das Böse gehört. Diese Doppelmoral macht sich besonders in Ruanda bemerkbar, einem zentralen Schauplatz in dem Roman, der wie kein zweiter für den Vorwurf an die UN-Friedensmission steht, sich im entscheidenden Augenblick aus dem Staub zu machen und dem Morden in schützender Distanz seinen Lauf zu lassen. Mit wenigen Strichen setzt Bossong Orte wie das ruandische Bujumbura so auf die Weltkarte, dass sie ein Eigengewicht haben gegenüber der großen Bürokratie. Wie bleich wirkt dagegen das mondäne Genf mit seinen sprühenden Fontänen.
Bossong spannt den Gegensatz zwischen Außen- und Innenwelt aufs äußerste. Die Welt schnellt immer wieder ins Bewusstsein der Heldin zurück. Der desillusionierte Blick mündet aber nicht in Klagelied oder Nabelschau, sondern in eine spannungsreiche Balance von Ästhetik und Politik. Mira wird aus dem Kosmos der Vereinten Nationen hinausgetrieben, der das Ganze sein will und nur ein Schattenwurf ist, hat in Gedanken aber schon jene Freiheit gefunden, nach der sich das alles begründende Denken sehnt.
THOMAS THIEL
Nora Bossong:
"Schutzzone". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 332 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Nora Bossong findet poetische Bilder für die Dilemmata unserer Zeit.« Frankfurter Rundschau »Und wir denken, dass wir unbeteiligt wären, dass uns keine Schuld träfe. Aber vielleicht trifft sie uns gerade deshalb, weil wir unbeteiligt sind, arrogant, erhaben und scheinbar unangreifbar.« Aus »Schutzzone«