Die Digitalisierung fordert den Staat nicht einfach nur heraus. Sie überfordert ihn. Sie stellt in Frage, wie wir 70 Jahre lang unser Gemeinwesen gesteuert, organisiert und verteidigt haben. Unser demokratischer Staat mit seinen Institutionen und Verfahren tut sich schwer, seine bisherige Rolle auch im digitalen Raum zu spielen. Entlang persönlicher Erfahrungen zeichnet der Autor die Entstehung der Netz- und Digitalpolitik seit dem Jahr 2000 in Deutschland nach. Er beschreibt anhand von Beispielen die Mühen von Politik und Verwaltung im Umgang mit der Digitalisierung. Der Autor arbeitet die Ursachen der digitalen Schwäche des Staates heraus und präsentiert konkrete Vorschläge, wie die Politik die Wirksamkeit des Staates erhalten kann - auch in der digitalen Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2018Worauf sich Sisyphus jetzt konzentrieren muss
Martin Schallbruch führt vor, wie sich der überforderte Staat erfolgreich in der Digitalisierung behaupten kann
Netz und Staat sind wie Hase und Igel. Wann immer der Staat Missbrauch wittert oder eigene Projekte auf die Beine stellt, ist das Netz schon fort, auf einem anderen Server oder beim nächsten Geschäftsmodell. Darüber kann man lächeln. Doch der demokratische Staat, der auch seinen Spöttern Rechte und Freiheiten garantiert, ist um seine Aufgabe nicht zu beneiden. Wer auf die Herrschaft des Rechts und demokratische Willensbildung Wert legt, muss die langsam mahlenden Mühlen des parlamentarischen Prozesses akzeptieren. Passen Digitalisierung und liberale Demokratie also strukturell nicht zusammen, wie es derzeit den Anschein hat, oder liegt es an konkreten Versäumnissen, dass digitale Player immer weiter in staatliche Domänen vordringen?
Martin Schallbruch war fast zwanzig Jahre lang im Bundesinnenministerium für Informationstechnik, Cybersicherheit und viele weitere Aspekte der Digitalisierung verantwortlich und lehrt heute an einer Berliner Business School. Er hat all die großen Schlachten geschlagen, um Netzsperren, Hackerangriffe und Digitale Agenda, er kennt die Irrwege und vergeblichen Mühen und streut deshalb keine Blumen aus. Die Digitalisierung, schreibt er mit klaren Worten, fordert den Staat aktuell nicht nur heraus, sondern sie überfordert ihn, und es wird große Anstrengungen kosten, die Souveränität zurückzuerlangen. Gelingen kann das nur, wenn der Staat sich auf die wichtigsten Aufgaben konzentriert und nicht, wie bisher, kleingärtnerisch eine Vielzahl sich überschneidender Projekte vorantreibt. Die große Strategie muss erst noch gefunden werden. Bis heute redet man nur von ihr.
Die Schwäche des Staates im Netz hat vornehmlich mit zwei Dingen zu tun: Zu der relativen Langsamkeit des Staats kommt ein Vollzugsproblem, hervorgerufen durch Intransparenz, technische Komplexität und das Ausweichen in fremde Rechtsordnungen. Das juristische Handlungsdefizit hat nach Schallbruch mit konkreten Deformationen zu tun. Das Datenrecht sei ungeheuer kompliziert und kleinteilig. Wer eine Finanz-App installiert, wie Schallbruch detailreich rekonstruiert, durchschreitet eine Vielzahl sich überlagernder Gesetzesordnungen und begibt sich oft auf den Boden ausländischen Rechts, wo der Staat seine Handlungsmacht einbüßt. Die verliert er aber längst auch auf eigenem Boden, wenn er sein Justizmonopol an Unternehmen wie Google (beim Recht auf Vergessen) und Facebook (beim Durchsetzungsgesetz) abgibt und eine feudale Plattformgerichtsbarkeit akzeptiert.
Der große Bremsklotz ist für Schallbruch das deutsche Datenschutzrecht, das auf dem Verbot bei Erlaubnisvorbehalt beruht. Danach unterliegt jede Form der Datenverarbeitung dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Jede Ausnahme ist zu erfragen, tausendfach, millionenfach. Das trifft für Schallbruch auch auf die Europäische Datenschutzgrundverordnung zu, die für die großen amerikanischen Plattformen viel einfacher als für den deutschen Mittelstand zu erfüllen sei.
Das Datenrecht müsse entschlackt und auf Prinzipien reduziert werden, fordert Schallbruch, womit er sich auch an die Adresse des Bundesverfassungsgerichts wendet, das in seinen Urteilen sehr detailgenaue Vorgaben machte. Die entsprechenden Gegenvorschläge hätte man sich allerdings konkreter gewünscht, immerhin steht hier das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf dem Spiel. So ist nicht auszuschließen, dass die vom Autor favorisierte Lösung auf eine erhebliche Schwächung des Datenschutzes hinausläuft.
Digitalisierung ist aus staatlicher Perspektive ein Sisyphus-Werk. Alle Grundzüge der staatlichen Verwaltung - verteilte Verantwortung und abgestimmte Entscheidung, Ressortdenken und Risikoaversion - stehen quer zur Digitalisierung, die Risikofreude und eine gewisse Sorglosigkeit belohnt. Jede noch so sorgfältig geschriebene Software hat Lücken, an der Hacker ansetzen können. Jeder Minister und Beamte hat dagegen ein Sicherheitsinteresse in seinem Verantwortungsbereich. Die digitale Kleinstaaterei zwischen Bund, Ländern und Kommunen führt zu einander überlagernden Strukturen und Verantwortlichkeiten. Wer etwas bewegen will, braucht ungeheuer viel Geduld und macht trotzdem oft die Erfahrung des Scheiterns. Der Bund, der Innenminister und die IT mögen von einer Idee überzeugt sein, der Landesminister und der Datenschutz sind es deshalb noch nicht.
Dass beim Transfer vom Bund auf die Länder und die Kommunen so viel versickert, liegt nicht zuletzt am mangelnden Überblick, denn der Staat hat seine digitale Infrastruktur kaum kartiert. Viele Prozesse und Datenbanken laufen - teils mit guten rechtlichen Gründen, oft aber ohne jede Notwendigkeit - aneinander vorbei, wie sich bei der Terrorfahndung zeigt. Hard- und Software werden doppelt und dreifach angeschafft, an passende Schnittstellen denkt man später. Weil jeder sein eigenes Süppchen kocht, hat der Staat keine Verhandlungsmacht gegenüber Firmen, wenn es um den speziellen Zuschnitt der Technik geht. Und wenn etwas gelingt, wie beim elektronischen Personalausweis, wird es vom Verbraucher nicht unbedingt belohnt.
Schallbruch ist ein großartiger Kenner der verschiedensten Materien. Seine Vorschläge richten sich zielgenau an die verantwortlichen Akteure. Sein oberstes Ziel ist eine einheitliche Strategie in der Digitalpolitik und eine Zusammenfassung der vielen rechtlichen Sonderregeln in einem neuen Digitalrecht. Voraussetzungen dafür sind die Neuordnung des Föderalismus und die Bündelung der Kompetenzen. Es müsse in jedem digitalen Aufgabenfeld einen klar ausgewiesenen und kompetenten Ansprechpartner geben, der mit Überblick agiert und mit Spitzenkräften ausgestattet ist, die dem Staat heute angesichts der attraktiveren Gehälter in der IT-Wirtschaft fehlen.
Diese Überlegungen münden in eine Gesamtarchitektur, in der sich der Staat auf seine wesentlichen Funktionen der Daseinsvorsorge beschränkt. Dazu gehören für Schallbruch Zahlungsverkehr, Identifizierung, Infrastruktur, die digitale Bereitstellung des kulturellen Erbes und die Wiederherstellung des Rechtsmonopols. Das schließt die Vergabe von Aufgaben an private Akteure nicht aus, der Staat darf sich dabei aber nicht die Kontrolle entreißen lassen, beispielsweise beim Social Scoring durch selbstlernende Maschinen. Auch hier muss der Staat die zentrale Schnittstelle für die Nachvollziehbarkeit technischer Personenbewertung bieten, die kein einzelner Mensch durchschauen kann.
Schallbruch denkt weiträumig und entschieden. Abgesehen von seinem leichtfertigem Umgang mit dem Datenschutz, ist sein Buch eine exzellente Handreichung für die Politik.
THOMAS THIEL
Martin Schallbruch:
"Schwacher Staat im Netz". Wie die Digitalisierung den Staat in Frage stellt.
Springer Verlag,
Heidelberg 2018.
271 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Schallbruch führt vor, wie sich der überforderte Staat erfolgreich in der Digitalisierung behaupten kann
Netz und Staat sind wie Hase und Igel. Wann immer der Staat Missbrauch wittert oder eigene Projekte auf die Beine stellt, ist das Netz schon fort, auf einem anderen Server oder beim nächsten Geschäftsmodell. Darüber kann man lächeln. Doch der demokratische Staat, der auch seinen Spöttern Rechte und Freiheiten garantiert, ist um seine Aufgabe nicht zu beneiden. Wer auf die Herrschaft des Rechts und demokratische Willensbildung Wert legt, muss die langsam mahlenden Mühlen des parlamentarischen Prozesses akzeptieren. Passen Digitalisierung und liberale Demokratie also strukturell nicht zusammen, wie es derzeit den Anschein hat, oder liegt es an konkreten Versäumnissen, dass digitale Player immer weiter in staatliche Domänen vordringen?
Martin Schallbruch war fast zwanzig Jahre lang im Bundesinnenministerium für Informationstechnik, Cybersicherheit und viele weitere Aspekte der Digitalisierung verantwortlich und lehrt heute an einer Berliner Business School. Er hat all die großen Schlachten geschlagen, um Netzsperren, Hackerangriffe und Digitale Agenda, er kennt die Irrwege und vergeblichen Mühen und streut deshalb keine Blumen aus. Die Digitalisierung, schreibt er mit klaren Worten, fordert den Staat aktuell nicht nur heraus, sondern sie überfordert ihn, und es wird große Anstrengungen kosten, die Souveränität zurückzuerlangen. Gelingen kann das nur, wenn der Staat sich auf die wichtigsten Aufgaben konzentriert und nicht, wie bisher, kleingärtnerisch eine Vielzahl sich überschneidender Projekte vorantreibt. Die große Strategie muss erst noch gefunden werden. Bis heute redet man nur von ihr.
Die Schwäche des Staates im Netz hat vornehmlich mit zwei Dingen zu tun: Zu der relativen Langsamkeit des Staats kommt ein Vollzugsproblem, hervorgerufen durch Intransparenz, technische Komplexität und das Ausweichen in fremde Rechtsordnungen. Das juristische Handlungsdefizit hat nach Schallbruch mit konkreten Deformationen zu tun. Das Datenrecht sei ungeheuer kompliziert und kleinteilig. Wer eine Finanz-App installiert, wie Schallbruch detailreich rekonstruiert, durchschreitet eine Vielzahl sich überlagernder Gesetzesordnungen und begibt sich oft auf den Boden ausländischen Rechts, wo der Staat seine Handlungsmacht einbüßt. Die verliert er aber längst auch auf eigenem Boden, wenn er sein Justizmonopol an Unternehmen wie Google (beim Recht auf Vergessen) und Facebook (beim Durchsetzungsgesetz) abgibt und eine feudale Plattformgerichtsbarkeit akzeptiert.
Der große Bremsklotz ist für Schallbruch das deutsche Datenschutzrecht, das auf dem Verbot bei Erlaubnisvorbehalt beruht. Danach unterliegt jede Form der Datenverarbeitung dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Jede Ausnahme ist zu erfragen, tausendfach, millionenfach. Das trifft für Schallbruch auch auf die Europäische Datenschutzgrundverordnung zu, die für die großen amerikanischen Plattformen viel einfacher als für den deutschen Mittelstand zu erfüllen sei.
Das Datenrecht müsse entschlackt und auf Prinzipien reduziert werden, fordert Schallbruch, womit er sich auch an die Adresse des Bundesverfassungsgerichts wendet, das in seinen Urteilen sehr detailgenaue Vorgaben machte. Die entsprechenden Gegenvorschläge hätte man sich allerdings konkreter gewünscht, immerhin steht hier das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf dem Spiel. So ist nicht auszuschließen, dass die vom Autor favorisierte Lösung auf eine erhebliche Schwächung des Datenschutzes hinausläuft.
Digitalisierung ist aus staatlicher Perspektive ein Sisyphus-Werk. Alle Grundzüge der staatlichen Verwaltung - verteilte Verantwortung und abgestimmte Entscheidung, Ressortdenken und Risikoaversion - stehen quer zur Digitalisierung, die Risikofreude und eine gewisse Sorglosigkeit belohnt. Jede noch so sorgfältig geschriebene Software hat Lücken, an der Hacker ansetzen können. Jeder Minister und Beamte hat dagegen ein Sicherheitsinteresse in seinem Verantwortungsbereich. Die digitale Kleinstaaterei zwischen Bund, Ländern und Kommunen führt zu einander überlagernden Strukturen und Verantwortlichkeiten. Wer etwas bewegen will, braucht ungeheuer viel Geduld und macht trotzdem oft die Erfahrung des Scheiterns. Der Bund, der Innenminister und die IT mögen von einer Idee überzeugt sein, der Landesminister und der Datenschutz sind es deshalb noch nicht.
Dass beim Transfer vom Bund auf die Länder und die Kommunen so viel versickert, liegt nicht zuletzt am mangelnden Überblick, denn der Staat hat seine digitale Infrastruktur kaum kartiert. Viele Prozesse und Datenbanken laufen - teils mit guten rechtlichen Gründen, oft aber ohne jede Notwendigkeit - aneinander vorbei, wie sich bei der Terrorfahndung zeigt. Hard- und Software werden doppelt und dreifach angeschafft, an passende Schnittstellen denkt man später. Weil jeder sein eigenes Süppchen kocht, hat der Staat keine Verhandlungsmacht gegenüber Firmen, wenn es um den speziellen Zuschnitt der Technik geht. Und wenn etwas gelingt, wie beim elektronischen Personalausweis, wird es vom Verbraucher nicht unbedingt belohnt.
Schallbruch ist ein großartiger Kenner der verschiedensten Materien. Seine Vorschläge richten sich zielgenau an die verantwortlichen Akteure. Sein oberstes Ziel ist eine einheitliche Strategie in der Digitalpolitik und eine Zusammenfassung der vielen rechtlichen Sonderregeln in einem neuen Digitalrecht. Voraussetzungen dafür sind die Neuordnung des Föderalismus und die Bündelung der Kompetenzen. Es müsse in jedem digitalen Aufgabenfeld einen klar ausgewiesenen und kompetenten Ansprechpartner geben, der mit Überblick agiert und mit Spitzenkräften ausgestattet ist, die dem Staat heute angesichts der attraktiveren Gehälter in der IT-Wirtschaft fehlen.
Diese Überlegungen münden in eine Gesamtarchitektur, in der sich der Staat auf seine wesentlichen Funktionen der Daseinsvorsorge beschränkt. Dazu gehören für Schallbruch Zahlungsverkehr, Identifizierung, Infrastruktur, die digitale Bereitstellung des kulturellen Erbes und die Wiederherstellung des Rechtsmonopols. Das schließt die Vergabe von Aufgaben an private Akteure nicht aus, der Staat darf sich dabei aber nicht die Kontrolle entreißen lassen, beispielsweise beim Social Scoring durch selbstlernende Maschinen. Auch hier muss der Staat die zentrale Schnittstelle für die Nachvollziehbarkeit technischer Personenbewertung bieten, die kein einzelner Mensch durchschauen kann.
Schallbruch denkt weiträumig und entschieden. Abgesehen von seinem leichtfertigem Umgang mit dem Datenschutz, ist sein Buch eine exzellente Handreichung für die Politik.
THOMAS THIEL
Martin Schallbruch:
"Schwacher Staat im Netz". Wie die Digitalisierung den Staat in Frage stellt.
Springer Verlag,
Heidelberg 2018.
271 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"... Mit diesem Buch hat Martin Schallbruch nicht nur eine exzellente Analyse der Schwächen und Versäumnisse staatlicher Digitalpolitik der letzten 20 Jahre vorgelegt, sondern zugleich Perspektiven für eine komplette Neuorientierung aufgezeigt. ... Inspirierend, kreativ, selbstkritisch und darüber hinaus auch gut zu lesen." (Willi Kaczorowski, in: DEMO, demo-online.de, 9. April 2019)