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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.1997

Alligator im stillen Winkel
Pete Dexters Roman über die Versuchungen des Journalismus

Wer ermordete Thurmond Call, den Sheriff eines Nestes im Norden Floridas? War die Tat wirklich ein Racheakt, für den ein übler Bursche namens Hillary auf seine Hinrichtung wartet? Tut Charlotte Bless wirklich gut daran, wieder einmal ihr Herz an einen sexuell bedürftigen Gefangenen zu verlieren und kartonweise Entlastungsmaterial herbeizuschleppen, mit dem der Prozeß wiederaufgerollt werden könnte? Solche Fragen führen den Leser auf eine falsche Fährte. Denn nur vordergründig schildert Pete Dexter die Enthüllung eines kleinstädtischen Justizskandals. Nach und nach schiebt sich das den Autor eigentlich faszinierende Thema in den Vordergrund: die prozedurale und charakterologische Problematik des "investigativen" Sensationsjournalismus.

Viel Sorgfalt widmet der Autor deshalb weniger dem Milieu des angeblichen Verbrechers als den Lebensumständen derer, die das Urteil der öffentlichen Meinung produzieren. Da ist zunächst der alte James, der im Moat County ein Winkelblättchen herausgibt, seine liberalen Überzeugungen hegt, von großen Vorbildern träumt und schließlich seinem ehelosen Dasein in den Armen einer smarten Karrierefrau ein Ende macht. Sein Sohn Ward arbeitet bei der "Miami Times". Zusammen mit einem agilen Reporterkollegen wird er auf den Fall angesetzt und versucht, das Dunkel ländlicher Dumpfheit und Korruption aufzuklären. Yardley Acheman, Wards journalistischer Helfer, fungiert als Kontrastfigur. Er liebt weder das Aktenstudium noch die Erfolglosigkeit. Zur Not fingiert er die Aussage eines unauffindbaren Zeugen, der so dem scheinbar zu Unrecht Verurteilten ein Alibi verschafft. Die Sensation ist da, der große Artikel erscheint, während Ward infolge eines mysteriösen Überfalls im Krankenhaus liegt und seine Skrupel nicht zu Papier bringen kann.

Auf die tüchtigen Reporter wartet der Pulitzerpreis und das, was dann den Gipfel des Karriereglücks markiert: die Aufmerksamkeit der New Yorker Verleger und das Schulterklopfen der Zeitungshaie in einschlägigen Bars von Manhattan. Alles liefe auf eine Erfolgsstory hinaus, käme die Wahrheit nicht ans Licht durch die vom Zufall gesteuerte Hartnäckigkeit, mit der sich die Kolumnistin eines winzigen Konkurrenzblattes der Fraglichkeiten jener nun gültigen Version des alten Verbrechens annimmt. Die Verleihung des Pulitzerpreises basiert auf Vertuschungen, entpuppt sich vielleicht sogar als Ergebnis eines Intrigenspektakels. Ward, dem die wahren Zusammenhänge aufgehen, zieht sich in den Suff, schließlich weitab nach Kalifornien zurück. Die Nachricht von seinem Tod setzt der Erzählung ebenso ein Schlußzeichen wie die zerstörerische Gewalt eines Hurrikans, mit dessen Schilderung Dexter altepische Wettersymbolik bemüht.

Der Leser beobachtet das Geschehen mit den Augen und in der Erinnerung von Wards kleinem Bruder. Die Figur dieses Ich-Erzählers demontiert auktoriale All-wissenheit und verknüpft die Detektivgeschichte mit einem familiären Psychogramm. Als abgebrochener Student muß sich Jack bei seinem Vater als Fahrer verdingen und darf dem Bruder zur Hand gehen. Seine Naivität rückt den journalistischen Aktivismus in die Distanz einer verfremdenden Neugier und sorgt dafür, daß das öffentliche Ereignis der Zeitungswelt als Reflex komplizierter Charaktere und privater Verwicklungen dargestellt werden kann. Am Ende weiß der Leser, daß der entlassene Gefangene wahrscheinlich ein neues Opfer auf dem Gewissen hat, nämlich jene Frau, die sich so angestrengt um seine Rettung bemühte.

Das klingt kolportagehaft. Denn Dexter erzählt routiniert, hält sich an die bewährten Regeln detailverliebter Figurenexposition und linearer Ereignisfolge. Was diesen Roman auszeichnet, sind seine Überraschungen und Verrätselungen, ist vor allem die - auch in der Übersetzung konservierte - Suggestionskraft, mit der sich die fragwürdige Suche nach einer fragwürdigen Wahrheit im Zeitalter gewinnträchtiger Publicity atmosphärisch verdichtet. Pete Dexter, Jahrgang 1943, lebt in der Nähe von Seattle auf einer kleinen Insel. Vom äußersten Nordwesten der Vereinigten Staaten verlegte er seine Geschichte in den äußersten Südosten. Daß sich dort Sümpfe ausbreiten, in denen es von Alligatoren wimmelt, gehört demnach zum regionalen Kolorit des Romans. Doch zugleich scheint der Autor den Handlungsraum seiner Figuren als großes gesellschaftliches Symbol zu verstehen. In Sümpfen fühlen sich erfolgsgeile Reporter wohl, die nur sehen, was sie sehen wollen, und den Rest ihrer Story erfinden. WILHELM KÜHLMANN

Pete Dexter: "Schwarz auf weiß". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Robben. Goldmann Verlag, München 1996. 351 S., geb., 42,80 DM.

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