Wer die politischen Debatten in Deutschland verfolgt, der muss den Eindruck bekommen, als sei die deutsche Flüchtlingspolitik nach wie vor von der Willkommenskultur des Jahres 2015 geprägt. Doch anders als Parteien wie die AfD behaupten, war die damalige Offenheit eine historische Ausnahme. Davor und danach versuchte Deutschland sich abzuschotten - auf Kosten der Flüchtlinge und der südeuropäischen Länder. Karl-Heinz Meier-Braun erinnert an die lange Geschichte der Ausländerdebatten in der Bundesrepublik und zeigt, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen. Damals wie heute versucht die deutsche Politik mit aller Macht, den Flüchtlingsstrom zu begrenzen. Dabei nimmt sie vieles in Kauf: schmutzige Deals mit fragwürdigen Regimen und brutalen Milizen, immer mehr tote Flüchtlinge im Mittelmeer und in der Sahara, eine Aufrüstung an den Außengrenzen der EU, menschenunwürdige Zustände in den überfüllten Auffanglagern in Italien und Griechenland, Abschiebungen in Krisenländer sowie eine fortschreitende Aushöhlung des Asylrechts in Deutschland. Eine Reise auf die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik, die zeigt, wie sehr diese von Doppelmoral geprägt ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2018Abschrecken,
abschotten
Karl-Heinz Meier-Brauns
Philippika zur Flüchtlingspolitik
Ein Schwarzbuch ist laut Duden eine „Missstände, Verbrechen oder andere negativ zu bewertende Sachverhalte dokumentierende Publikation“. Wer etwa als Beamter eine öffentliche Investition verantwortet und im jährlich erscheinenden „Schwarzbuch“ des Bundes der Steuerzahler auftaucht, sollte sich warm anziehen.
Von einem „Schwarzbuch Migration“ ist also kein Lobgesang auf die deutsche Einwanderungspolitik zu erwarten. Buchautor Karl-Heinz Meier-Braun, Journalist und ehemaliger Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks, geht weit zurück bis in die Gründerjahre der Bundesrepublik, um die Kontinuität der „dunklen Seite unserer Flüchtlingspolitik“ anzuprangern. Seit der Aufnahme „heimatvertriebener“ Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute war Deutschland immer wieder Ziel umfassender Migrationsbewegungen. Dazu gehört die Anwerbung von „Gastarbeitern“ aus Südeuropa, die Aufnahme von Zuwanderern nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990er-Jahren und nicht zuletzt die anhaltende Migration aus Bürgerkriegs- und Armutsregionen. Die im Herbst 2015 proklamierte „Willkommenskultur“ stellt allerdings laut Meier-Braun keineswegs eine grundsätzliche Abkehr von einer Jahrzehnte währenden Politik der Abschottung dar. Die offenen Grenzen von damals stellten eine „absolute Ausnahmesituation“ aus humanitären und kurzfristig taktischen Erwägungen dar. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière erklärte, er habe „uns und der deutschen Öffentlichkeit nicht zugetraut, gegebenenfalls sehr hässliche Bilder von Zurückweisungen von Zehntausenden durchzuhalten und auszuhalten.“
Bereits in den 1970er-Jahren, als die Zahl der Asylbewerber noch unter 100 000 Personen pro Jahr lag, hetzten Politiker gegen „Asylantenflut“, „Asylmissbrauch“ und „Scheinasylanten“. Besonders vor Wahlen überbot sich die Politik in hektischen Maßnahmen: Das Asylrecht wurde ausgehöhlt, ein einjähriges Arbeitsverbot für Asylbewerber eingeführt, Rückführungen – freiwillig oder in Handschellen – angekündigt und exekutiert, Länder zu „sicheren Drittstaaten“ erklärt, in denen angeblich politische Verfolgung nicht existiere. Auch Horst Seehofers „Obergrenze“ für die Aufnahme von Migranten ist eine alte Bekannte. Sie lag in den 1980er-Jahren noch bei 100 000 Zuwanderern. Meier-Braun benennt den Widerspruch mit einem Bild: „Im Schaufenster steht ein großzügiges Asylrecht, aber das Geschäft ist permanent geschlossen.“
Die deutsche Gesellschaft hatte sich mit der Lebenslüge: „Wir sind kein Einwanderungsland!“ eingerichtet. Trotz aller gesetzlichen Verschärfungen: Der Zustrom von Asylbewerbern riss nicht ab. Meier-Braun schildert zutreffend, wie Bundesregierung und Europäische Kommission inzwischen durch Abkommen mit Staaten in Afrika die Grenzen der EU immer weiter hinausschieben, um schon im „Vorfeld“ Einwanderungswillige abzuschrecken. Dazu werden in Transitstaaten Polizei und Militär ausgebildet und mit neuester Technik aufgerüstet. Besonders schlimm ist die Situation in Libyen, wo Milizen Flüchtlinge in Privatgefängnisse sperren, foltern, töten oder Boote am Übersetzen übers Mittelmeer hindern. In Libyen, konstatiert der Autor, habe sich die EU „versündigt“.
Meier-Braun kritisiert, dass Flüchtlingspolitik und Zuwanderungspolitik häufig „in einen Topf geworfen“ werden und unterstützt die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz. Solange es das nicht gebe, bleibe für die Betroffenen als einziger Zugang zum abgeschotteten Arbeitsmarkt nur das Asylverfahren. Und fraglos braucht die Wirtschaft angesichts unbesetzter Stellen qualifizierte Zuwanderung.
Meier-Brauns Philippika liest sich wohltuend, weil ohne Rücksicht auf parteipolitische Empfindlichkeiten geschrieben. Leider fehlen meistens Quellenangaben, und Fragen bleiben offen. Zum Beispiel, wie eine paranoide, womöglich wachsende Ausländer- und Migrantenfeindlichkeit gleichzeitig neben menschlich anständigem Engagement von Bürgern und Verwaltung in der Hochzeit der Willkommenskultur nebeneinander bestehen konnten. Warum Ungarn und Polen keinen einzigen Migranten aufnahmen und damit durchkamen. Und: ob es außer der dunklen auch eine helle Seite deutscher Flüchtlingspolitik gibt.
Karl-Heinz Meier-Braun gehört nicht zu denen, die die Öffnung aller Grenzen für alle fordern. Sein „Schwarzbuch“ stößt allerdings am Schluss mit vagen, oft gehörten Verweisen auf die Machenschaften internationaler Konzerne und die ungerechte Weltordnung ins Wolkige. Letztendlich, schreibt der Autor, gehe es um die „innere Einstellung“, um eine „Frage der Haltung“.
GÜNTER BEYER
Günter Beyer ist freier Journalist in Bremen.
In Libyen, konstatiert der Autor,
habe sich die Europäische Union
„versündigt“
Karl-Heinz Meier-Braun:
Schwarzbuch Migration.
Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik.
C.H.Beck München 2018,
192 Seiten, 14,95 Euro.
E-Book: 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Karl-Heinz Meier-Brauns
Philippika zur Flüchtlingspolitik
Ein Schwarzbuch ist laut Duden eine „Missstände, Verbrechen oder andere negativ zu bewertende Sachverhalte dokumentierende Publikation“. Wer etwa als Beamter eine öffentliche Investition verantwortet und im jährlich erscheinenden „Schwarzbuch“ des Bundes der Steuerzahler auftaucht, sollte sich warm anziehen.
Von einem „Schwarzbuch Migration“ ist also kein Lobgesang auf die deutsche Einwanderungspolitik zu erwarten. Buchautor Karl-Heinz Meier-Braun, Journalist und ehemaliger Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks, geht weit zurück bis in die Gründerjahre der Bundesrepublik, um die Kontinuität der „dunklen Seite unserer Flüchtlingspolitik“ anzuprangern. Seit der Aufnahme „heimatvertriebener“ Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute war Deutschland immer wieder Ziel umfassender Migrationsbewegungen. Dazu gehört die Anwerbung von „Gastarbeitern“ aus Südeuropa, die Aufnahme von Zuwanderern nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990er-Jahren und nicht zuletzt die anhaltende Migration aus Bürgerkriegs- und Armutsregionen. Die im Herbst 2015 proklamierte „Willkommenskultur“ stellt allerdings laut Meier-Braun keineswegs eine grundsätzliche Abkehr von einer Jahrzehnte währenden Politik der Abschottung dar. Die offenen Grenzen von damals stellten eine „absolute Ausnahmesituation“ aus humanitären und kurzfristig taktischen Erwägungen dar. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière erklärte, er habe „uns und der deutschen Öffentlichkeit nicht zugetraut, gegebenenfalls sehr hässliche Bilder von Zurückweisungen von Zehntausenden durchzuhalten und auszuhalten.“
Bereits in den 1970er-Jahren, als die Zahl der Asylbewerber noch unter 100 000 Personen pro Jahr lag, hetzten Politiker gegen „Asylantenflut“, „Asylmissbrauch“ und „Scheinasylanten“. Besonders vor Wahlen überbot sich die Politik in hektischen Maßnahmen: Das Asylrecht wurde ausgehöhlt, ein einjähriges Arbeitsverbot für Asylbewerber eingeführt, Rückführungen – freiwillig oder in Handschellen – angekündigt und exekutiert, Länder zu „sicheren Drittstaaten“ erklärt, in denen angeblich politische Verfolgung nicht existiere. Auch Horst Seehofers „Obergrenze“ für die Aufnahme von Migranten ist eine alte Bekannte. Sie lag in den 1980er-Jahren noch bei 100 000 Zuwanderern. Meier-Braun benennt den Widerspruch mit einem Bild: „Im Schaufenster steht ein großzügiges Asylrecht, aber das Geschäft ist permanent geschlossen.“
Die deutsche Gesellschaft hatte sich mit der Lebenslüge: „Wir sind kein Einwanderungsland!“ eingerichtet. Trotz aller gesetzlichen Verschärfungen: Der Zustrom von Asylbewerbern riss nicht ab. Meier-Braun schildert zutreffend, wie Bundesregierung und Europäische Kommission inzwischen durch Abkommen mit Staaten in Afrika die Grenzen der EU immer weiter hinausschieben, um schon im „Vorfeld“ Einwanderungswillige abzuschrecken. Dazu werden in Transitstaaten Polizei und Militär ausgebildet und mit neuester Technik aufgerüstet. Besonders schlimm ist die Situation in Libyen, wo Milizen Flüchtlinge in Privatgefängnisse sperren, foltern, töten oder Boote am Übersetzen übers Mittelmeer hindern. In Libyen, konstatiert der Autor, habe sich die EU „versündigt“.
Meier-Braun kritisiert, dass Flüchtlingspolitik und Zuwanderungspolitik häufig „in einen Topf geworfen“ werden und unterstützt die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz. Solange es das nicht gebe, bleibe für die Betroffenen als einziger Zugang zum abgeschotteten Arbeitsmarkt nur das Asylverfahren. Und fraglos braucht die Wirtschaft angesichts unbesetzter Stellen qualifizierte Zuwanderung.
Meier-Brauns Philippika liest sich wohltuend, weil ohne Rücksicht auf parteipolitische Empfindlichkeiten geschrieben. Leider fehlen meistens Quellenangaben, und Fragen bleiben offen. Zum Beispiel, wie eine paranoide, womöglich wachsende Ausländer- und Migrantenfeindlichkeit gleichzeitig neben menschlich anständigem Engagement von Bürgern und Verwaltung in der Hochzeit der Willkommenskultur nebeneinander bestehen konnten. Warum Ungarn und Polen keinen einzigen Migranten aufnahmen und damit durchkamen. Und: ob es außer der dunklen auch eine helle Seite deutscher Flüchtlingspolitik gibt.
Karl-Heinz Meier-Braun gehört nicht zu denen, die die Öffnung aller Grenzen für alle fordern. Sein „Schwarzbuch“ stößt allerdings am Schluss mit vagen, oft gehörten Verweisen auf die Machenschaften internationaler Konzerne und die ungerechte Weltordnung ins Wolkige. Letztendlich, schreibt der Autor, gehe es um die „innere Einstellung“, um eine „Frage der Haltung“.
GÜNTER BEYER
Günter Beyer ist freier Journalist in Bremen.
In Libyen, konstatiert der Autor,
habe sich die Europäische Union
„versündigt“
Karl-Heinz Meier-Braun:
Schwarzbuch Migration.
Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik.
C.H.Beck München 2018,
192 Seiten, 14,95 Euro.
E-Book: 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Meier-Braun legt in einem kurzweilig geschriebenen Buch den Finger in eine große Wunde (...) Meier-Brauns sachliches Plädoyer ist in der sonst zum Teil hitzigen Debatte sehr wohltuend."
Stuttgarter Zeitung, Sophie Rink
"Eine Bilanz, die schlucken lässt. Aber auch eine, die wachrüttelt."
Falter, Salma Imara
"Beeindruckend dichtes Plädoyer dafür, die ohnehin düstere Geschichte der deutschen Migrationspolitik in ihrem nächsten Kapitel nicht noch weiter zu verfinstern."
Christian Jakob, Kulturaustausch, 2/2018
"Gut, dass nun jemand den Mut hatte, die andere Seite der Medaille zu schildern (...) Der Autor und Journalist kennt die Debatten über Migranten und Flüchtlinge wie kaum ein anderer in Deutschland."
Alfredo Märker, Badische Zeitung, 3. Mai 2018
"Der langjährige kritische Begleiter der Flüchtlingspolitik füllt mit seinem Buch eine Lücke und gibt Politik, Medien und Gesellschaft wichtige Denkanstöße."
Cem Özdemir, MdB, Bündnis 90/Die Grünen
"Der Autor ist ein Kenner, er war viele Jahre lang Leiter der Fachredaktion SWR International beim Südwestrundfunk in Stuttgart. Er schildert die Flüchtlingsabwehrpolitik, er legt dar, wie sich Deutschland Flüchtlinge vom Leib zu halten versucht - und dabei schmutzige Deals mit fragwürdigen Regimen und brutalen Milizen in Kauf nimmt."
Prof. Dr. Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung
"Meier-Brauns Philippika liest sich wohltuend, weil ohne Rücksicht auf parteipolitische Empfindlichkeiten geschrieben."
Günter Beyer, Süddeutsche Zeitung, 23. April 2018
Stuttgarter Zeitung, Sophie Rink
"Eine Bilanz, die schlucken lässt. Aber auch eine, die wachrüttelt."
Falter, Salma Imara
"Beeindruckend dichtes Plädoyer dafür, die ohnehin düstere Geschichte der deutschen Migrationspolitik in ihrem nächsten Kapitel nicht noch weiter zu verfinstern."
Christian Jakob, Kulturaustausch, 2/2018
"Gut, dass nun jemand den Mut hatte, die andere Seite der Medaille zu schildern (...) Der Autor und Journalist kennt die Debatten über Migranten und Flüchtlinge wie kaum ein anderer in Deutschland."
Alfredo Märker, Badische Zeitung, 3. Mai 2018
"Der langjährige kritische Begleiter der Flüchtlingspolitik füllt mit seinem Buch eine Lücke und gibt Politik, Medien und Gesellschaft wichtige Denkanstöße."
Cem Özdemir, MdB, Bündnis 90/Die Grünen
"Der Autor ist ein Kenner, er war viele Jahre lang Leiter der Fachredaktion SWR International beim Südwestrundfunk in Stuttgart. Er schildert die Flüchtlingsabwehrpolitik, er legt dar, wie sich Deutschland Flüchtlinge vom Leib zu halten versucht - und dabei schmutzige Deals mit fragwürdigen Regimen und brutalen Milizen in Kauf nimmt."
Prof. Dr. Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung
"Meier-Brauns Philippika liest sich wohltuend, weil ohne Rücksicht auf parteipolitische Empfindlichkeiten geschrieben."
Günter Beyer, Süddeutsche Zeitung, 23. April 2018