Im Nachruf auf Harry Mulisch schrieb Cees Nooteboom, er ziehe dessen Roman Schwarzes Licht seinen berühmteren Texten vor. In anderen Ländern bestens bekannt, ist dieses Frühwerk in Deutschland seit Jahrzehnten vergessen und selbst in Bibliotheken kaum aufzutreiben. Um diesem wichtigen Roman des weltweit verehrten Autors gerecht zu werden, in dem alle zentralen Themen und Motive seiner späteren Bestseller schon auftauchen, wird er von dem preisgekrönten Mulisch-Übersetzer Gregor Seferens neu ins Deutsche übertragen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2016Atomarer Rummsknaller
Harry Mulischs „Schwarzes Licht“ neu übersetzt
Es ist der 20. August 1953 und Maurits Akelei hat Geburtstag. Vielleicht aber wird dieser Geburtstag auch sein allerletzter Tag sein, denn nicht nur seine Zimmerwirtin ist der Überzeugung, dass an diesem 20. August die Welt untergehen wird. Der Vorhersage der „Großen Pyramide“ schenken auch die Leute Glauben, die auf dem Koningsplein stehen und entsprechende Schilder vor sich her tragen. Maurits Akelei allerdings beachtet sie nicht – zu beschäftigt ist er mit sich selbst, mit seinem 46. Geburtstag und damit, durch die Stadt zu laufen und den Arzt, den Pastor und seinen alten Freund Ketelaar zur Geburtstagsfeier in seiner rumpeligen Dachkammer einzuladen.
Es ist der 20. August 1953, und das Amsterdam in Harry Mulischs drittem Roman „Schwarzes Licht“, den der Wagenbach Verlag dankenswerterweise neu hat übersetzen lassen, wirkt sehr kleinstädtisch. Hier und da zeigen sich noch Spuren des letzten Kriegs, ob es Besatzungssoldaten sind, die die Kirche, in der Maurits Akelei als Glockenspieler angestellt ist, besichtigen, oder ob es ein Bild seines Freundes Ketelaar im KZ Neuengamme ist, das im Kopf der Hauptfigur aufblitzt. Dabei ist der Kalte Krieg längst schon voll im Gange, und Fabrikbesitzer Ketelaar produziert fleißig Waffen für die Verbündeten: „Zwar nette Burschen, die Amerikaner, aber auch ein wenig dumme Burschen! Westliche Kultur und so. Unter ihrem Arm die Blaupausen für ein Panzerabwehrgeschütz – atomare Rummsknaller, aber hallo! Ich will jetzt nur noch eins: sehr schnell betrunken werden und dann ganz laut brüllen!“
Es ist der 20. August 1953 und genau dreiundzwanzig Jahre her, Hälfte des Lebens, dass Marjolein ertrank, das Mädchen, mit dem Maurits Akelei zusammen war, und es ist, als wäre für den Glockenspieler die Zeit seither stehen geblieben, als habe er nur still und ohne lautes Gebrüll in seiner Kammer vor sich hin gelebt, ein Trauerkontinuum, dass an diesem 20. August 1953 ein Ende finden wird. Zur zwölften Stunde bricht es aus ihm heraus: Die ganze Stadt schaut hinauf zum Turm, als nicht er, wie es heißt, sondern sein Körper, „ein einsamer Solist“, etwas Unerhörtes, eine nie da gewesene Musik hervorbringt. Seine Zimmerwirtin wird darauf in Liebe zu ihm entbrennen und der Pastor entsetzt fragen: „Wozu hast du in Gottes Namen die Kirche benutzt?“
Die Welt geht an diesem 20. August 1953 natürlich nicht unter, aber sie verwandelt sich. Das Glockenspiel ist nur der Auftakt zu einer wahren Umwälzungsorgie: Nicht der Arzt, aber seine Frau, nicht nur der Pastor, sondern auch seine Tochter werden zur Geburtstagsfeier erscheinen, Ketelaar zudem mit einem Arm voller Schnapsflaschen. Schon bevor die erstegeöffnet ist, schlüpft die Zunge der Arztfrau „wie der Kopf eines Aals“ in den Mund Maurits Akeleis, dessen Namen auf die Gleichzeitigkeit von irdischer und himmlischer Liebe hinweist. Im Rausch dieser Nacht werden die beiden Sphären sich verkehren. Und so steht am Ende dieses grandiosen kleinen Romans das „Schwarze Licht“: „Der Himmel hell und die Erde dunkel und voller sich bewegender Menschen, während das Afrika der Apokalypse über ihren Köpfen stattfindet.“
TOBIAS LEHMKUHL
Harry Mulisch: Schwarzes Licht. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Wagenbach Verlag, Berlin 2016. 144 Seiten, 9,90 Euro. E-Book 7,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Harry Mulischs „Schwarzes Licht“ neu übersetzt
Es ist der 20. August 1953 und Maurits Akelei hat Geburtstag. Vielleicht aber wird dieser Geburtstag auch sein allerletzter Tag sein, denn nicht nur seine Zimmerwirtin ist der Überzeugung, dass an diesem 20. August die Welt untergehen wird. Der Vorhersage der „Großen Pyramide“ schenken auch die Leute Glauben, die auf dem Koningsplein stehen und entsprechende Schilder vor sich her tragen. Maurits Akelei allerdings beachtet sie nicht – zu beschäftigt ist er mit sich selbst, mit seinem 46. Geburtstag und damit, durch die Stadt zu laufen und den Arzt, den Pastor und seinen alten Freund Ketelaar zur Geburtstagsfeier in seiner rumpeligen Dachkammer einzuladen.
Es ist der 20. August 1953, und das Amsterdam in Harry Mulischs drittem Roman „Schwarzes Licht“, den der Wagenbach Verlag dankenswerterweise neu hat übersetzen lassen, wirkt sehr kleinstädtisch. Hier und da zeigen sich noch Spuren des letzten Kriegs, ob es Besatzungssoldaten sind, die die Kirche, in der Maurits Akelei als Glockenspieler angestellt ist, besichtigen, oder ob es ein Bild seines Freundes Ketelaar im KZ Neuengamme ist, das im Kopf der Hauptfigur aufblitzt. Dabei ist der Kalte Krieg längst schon voll im Gange, und Fabrikbesitzer Ketelaar produziert fleißig Waffen für die Verbündeten: „Zwar nette Burschen, die Amerikaner, aber auch ein wenig dumme Burschen! Westliche Kultur und so. Unter ihrem Arm die Blaupausen für ein Panzerabwehrgeschütz – atomare Rummsknaller, aber hallo! Ich will jetzt nur noch eins: sehr schnell betrunken werden und dann ganz laut brüllen!“
Es ist der 20. August 1953 und genau dreiundzwanzig Jahre her, Hälfte des Lebens, dass Marjolein ertrank, das Mädchen, mit dem Maurits Akelei zusammen war, und es ist, als wäre für den Glockenspieler die Zeit seither stehen geblieben, als habe er nur still und ohne lautes Gebrüll in seiner Kammer vor sich hin gelebt, ein Trauerkontinuum, dass an diesem 20. August 1953 ein Ende finden wird. Zur zwölften Stunde bricht es aus ihm heraus: Die ganze Stadt schaut hinauf zum Turm, als nicht er, wie es heißt, sondern sein Körper, „ein einsamer Solist“, etwas Unerhörtes, eine nie da gewesene Musik hervorbringt. Seine Zimmerwirtin wird darauf in Liebe zu ihm entbrennen und der Pastor entsetzt fragen: „Wozu hast du in Gottes Namen die Kirche benutzt?“
Die Welt geht an diesem 20. August 1953 natürlich nicht unter, aber sie verwandelt sich. Das Glockenspiel ist nur der Auftakt zu einer wahren Umwälzungsorgie: Nicht der Arzt, aber seine Frau, nicht nur der Pastor, sondern auch seine Tochter werden zur Geburtstagsfeier erscheinen, Ketelaar zudem mit einem Arm voller Schnapsflaschen. Schon bevor die erstegeöffnet ist, schlüpft die Zunge der Arztfrau „wie der Kopf eines Aals“ in den Mund Maurits Akeleis, dessen Namen auf die Gleichzeitigkeit von irdischer und himmlischer Liebe hinweist. Im Rausch dieser Nacht werden die beiden Sphären sich verkehren. Und so steht am Ende dieses grandiosen kleinen Romans das „Schwarze Licht“: „Der Himmel hell und die Erde dunkel und voller sich bewegender Menschen, während das Afrika der Apokalypse über ihren Köpfen stattfindet.“
TOBIAS LEHMKUHL
Harry Mulisch: Schwarzes Licht. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Wagenbach Verlag, Berlin 2016. 144 Seiten, 9,90 Euro. E-Book 7,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In esoterisch-numerologischen Schriften galt der 20. August 1953 als Tag des Weltuntergangs, zugleich fiel auf diesen Tag der 46. Geburtstag des Musikers Maurits Akelei, den Harry Mulisch mit dem jetzt in neuer Übersetzung vorliegenden Roman ein literarisches Denkmal gesetzt hat, informiert uns Rezensent Philipp Theisohn. Der hatte offensichtlich viel Freude bei der Lektüre dieser Schilderung eines Abends, der als Geburtstagsrunde beginnt und in entgrenzten Sexualexzess mündet. In diesem inhaltlich zwar überschaubaren, aber "gewaltigen Roman" gelinge dem Autor die Kunst, "Metaphysik und privates Drama, Archaik und Bourgeoisie" ohne ausgreifende Gesten miteinander zu bündeln, schwärmt der Kritiker, der den theoretischen und abstrakten Verästelungen des Stoffs im folgenden recht feinsinnig folgt: In Sichtnähe zum "magischen Realismus" schaffe Mulischs dezente Symbolik hier einen Bedeutungsraum, der gleichermaßen das Intime und das Kosmische umfasst und mit einer Grundstimmung des Apokalyptischen auflädt, die sich wiederum in den Verbindungen der Körper entlädt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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