Dieses Debut zeigt eine weitere Facette des anerkannten Autors, Übersetzers und Kritikers Heinrich Detering.Seit einigen Jahren schon sind Gedichte von Heinrich Detering in Zeitschriften und Anthologien erschienen, unter anderem in der »Neuen Rundschau« und im »Jahrbuch der Lyrik«. In diesem Band sind zum ersten Mal ältere und neue Texte gesammelt. Sie bilden einen Zyklus musikalisch leichtfüßiger Poesie über Alltag und Epiphanie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2004Aus dem Staube in den Staub
Abwechslung der unerwarteten Art: Heinrich Deterings Gedichte
Ein Debüt, behauptet der Verlag. Er irrt. Denn schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert veröffentlichte Heinrich Detering, damals gerade neunzehn Jahre alt, den Gedichtband "Zeichensprache", der allerdings kaum größere Beachtung fand. Inzwischen ist aus dem jugendlichen Adepten ein Meister seines Fachs geworden, ein Kritiker und Übersetzer, ein Literaturprofessor und Juror, der Preise vergibt und Preise erhält, wie etwa im letzten Herbst den "Preis der Kritik" vom Hoffmann und Campe Verlag. Daß dieser Fachmann, der seinen Studenten von Berufs wegen Gedichte erklären muß, der es gewohnt ist, poetische Texte freimütig zu bewerten, und der die Leser dieser Zeitung regelmäßig frischweg über literarische Neuerscheinungen informiert, sich nun selbst auf die lyrischen Finger schauen läßt, verdient Respekt.
Natürlich beherrscht er das Handwerk und dessen gegenwärtige Handhabung: Es gibt originell gereimte, aber auch reimlose Verse, sehr kurze und weit ausgreifende Zeilen, gelehrte Anspielungen und schnoddriges Alltagsparlando, Gedichte in eigener Person und Rollengedichte, monologische und dialogische Gedichte, muntere Sprachspiele und stille Reflexionen - für Abwechslung ist also gesorgt. Und auch für eine scheinbar strenge Komposition des Ganzen: Viermal zwölf Gedichte enthält der Band und zusätzlich ein vorangestelltes ("über dem Eis") und ein abschließendes ("über dem Waldmeer") Gedicht; es geht in diesen beiden umrahmenden, wunderschön gereimten Gedichten, die formal und thematisch korrespondieren, um nichts Geringeres als um die Empfindung der Sprachlosigkeit, Heimatlosigkeit, Gestaltlosigkeit, Endlosigkeit angesichts der Elemente Wasser, Wind, Land und Licht, mit anderen Worten um die Aporie der Moderne: das Schreckliche wird schön, und das Schöne wird schrecklich durch Kunst.
Das ist freilich recht hoch gegriffen. Es fehlt diesen (und einigen anderen) Texten des Bandes die Bodenhaftung, das Konkrete. Goethe sprach in solchen Fällen vom "Nebeln und Schwebeln", das Gedichten nicht gut bekomme. Solche "Schwebstoffe", die in dem sie umgebenden Element nicht oder kaum zu Boden absinken, haben es dem Lyriker Detering offensichtlich angetan. Er findet sie - "welch herrliche Katastrophe"! - in den Schneekugeln Salzburgs ebenso wie "zwischen See und Sand": "Schwebstoffe die wir sind / machen wir uns aus dem Staube / leichthin auf in den Staub". Und: "über das Wasser geht / eine Stimme, lautlos".
Doch sollte man die Simplizität und Verständlichkeit dieser Verse nicht unterschätzen. Hinter ihrer Sensationslosigkeit verbergen sich nicht selten die Raffinesse und Artistik einer Kunst, die komplizierte Beziehungsverhältnisse auf einfache und sinnfällige Weise zu formulieren weiß. Das Gedicht "Leib", das die Ununterscheidbarkeit von mein und dein in einer Liebesbeziehung demonstriert, ist ein Musterbeispiel dafür, und mehrfach werden Perspektivenwechsel und unendliche Vervielfältigungen spiegelbildlicher Relationen auch formal abgebildet durch die Wiederholung von Versen in veränderter Reihenfolge. Gern experimentieren die Texte mit Redewendungen ("übers Jahr ins Blaue / aufs Neue ins Bockshorn / durch Dick und Dünn / ums Verrecken zum Totlachen") oder mit poetischen Zitaten, von denen einige in Anmerkungen nachgewiesen werden.
Ganz autobiographisch dagegen gibt sich das Gedicht "Phantom, Schmerz", in dem der Verfasser als inzwischen älter gewordener Bob-Dylan-Fan spricht, der sich an Konzerte des Rockmusikers in deutschen Städten seit den siebziger Jahren erinnert. Er spürt die Brandwunden, die er sich, "als ich noch sehr jung war", beim Zuhören des Songs "Saving Grace" zugezogen hat, immer noch ganz handgreiflich als nostalgischen Phantomschmerz. Man merkt diesem Gedicht an, wie prägend Bob Dylan für eine ganze Generation gewesen ist, die inständig das "Forever Young" gebetet hat. Inzwischen hat der Germanist Detering dem Rock-Klassiker und Poeten Dylan sogar eine literaturwissenschaftliche Studie gewidmet, und er empfiehlt, wie seine im Internet verbreitete Leseliste der Weltliteratur zeigt, auch seinen Studenten, sie sollten jedenfalls Dylans "Writings and Drawings" kennen. Das muß man ihnen sicherlich nicht zweimal sagen. Bis auch die "Schwebstoffe" so weit kommen, dürfte noch einige Zeit vergehen.
WULF SEGEBRECHT
Heinrich Detering: "Schwebstoffe". Gedichte. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 72 S., geb. 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abwechslung der unerwarteten Art: Heinrich Deterings Gedichte
Ein Debüt, behauptet der Verlag. Er irrt. Denn schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert veröffentlichte Heinrich Detering, damals gerade neunzehn Jahre alt, den Gedichtband "Zeichensprache", der allerdings kaum größere Beachtung fand. Inzwischen ist aus dem jugendlichen Adepten ein Meister seines Fachs geworden, ein Kritiker und Übersetzer, ein Literaturprofessor und Juror, der Preise vergibt und Preise erhält, wie etwa im letzten Herbst den "Preis der Kritik" vom Hoffmann und Campe Verlag. Daß dieser Fachmann, der seinen Studenten von Berufs wegen Gedichte erklären muß, der es gewohnt ist, poetische Texte freimütig zu bewerten, und der die Leser dieser Zeitung regelmäßig frischweg über literarische Neuerscheinungen informiert, sich nun selbst auf die lyrischen Finger schauen läßt, verdient Respekt.
Natürlich beherrscht er das Handwerk und dessen gegenwärtige Handhabung: Es gibt originell gereimte, aber auch reimlose Verse, sehr kurze und weit ausgreifende Zeilen, gelehrte Anspielungen und schnoddriges Alltagsparlando, Gedichte in eigener Person und Rollengedichte, monologische und dialogische Gedichte, muntere Sprachspiele und stille Reflexionen - für Abwechslung ist also gesorgt. Und auch für eine scheinbar strenge Komposition des Ganzen: Viermal zwölf Gedichte enthält der Band und zusätzlich ein vorangestelltes ("über dem Eis") und ein abschließendes ("über dem Waldmeer") Gedicht; es geht in diesen beiden umrahmenden, wunderschön gereimten Gedichten, die formal und thematisch korrespondieren, um nichts Geringeres als um die Empfindung der Sprachlosigkeit, Heimatlosigkeit, Gestaltlosigkeit, Endlosigkeit angesichts der Elemente Wasser, Wind, Land und Licht, mit anderen Worten um die Aporie der Moderne: das Schreckliche wird schön, und das Schöne wird schrecklich durch Kunst.
Das ist freilich recht hoch gegriffen. Es fehlt diesen (und einigen anderen) Texten des Bandes die Bodenhaftung, das Konkrete. Goethe sprach in solchen Fällen vom "Nebeln und Schwebeln", das Gedichten nicht gut bekomme. Solche "Schwebstoffe", die in dem sie umgebenden Element nicht oder kaum zu Boden absinken, haben es dem Lyriker Detering offensichtlich angetan. Er findet sie - "welch herrliche Katastrophe"! - in den Schneekugeln Salzburgs ebenso wie "zwischen See und Sand": "Schwebstoffe die wir sind / machen wir uns aus dem Staube / leichthin auf in den Staub". Und: "über das Wasser geht / eine Stimme, lautlos".
Doch sollte man die Simplizität und Verständlichkeit dieser Verse nicht unterschätzen. Hinter ihrer Sensationslosigkeit verbergen sich nicht selten die Raffinesse und Artistik einer Kunst, die komplizierte Beziehungsverhältnisse auf einfache und sinnfällige Weise zu formulieren weiß. Das Gedicht "Leib", das die Ununterscheidbarkeit von mein und dein in einer Liebesbeziehung demonstriert, ist ein Musterbeispiel dafür, und mehrfach werden Perspektivenwechsel und unendliche Vervielfältigungen spiegelbildlicher Relationen auch formal abgebildet durch die Wiederholung von Versen in veränderter Reihenfolge. Gern experimentieren die Texte mit Redewendungen ("übers Jahr ins Blaue / aufs Neue ins Bockshorn / durch Dick und Dünn / ums Verrecken zum Totlachen") oder mit poetischen Zitaten, von denen einige in Anmerkungen nachgewiesen werden.
Ganz autobiographisch dagegen gibt sich das Gedicht "Phantom, Schmerz", in dem der Verfasser als inzwischen älter gewordener Bob-Dylan-Fan spricht, der sich an Konzerte des Rockmusikers in deutschen Städten seit den siebziger Jahren erinnert. Er spürt die Brandwunden, die er sich, "als ich noch sehr jung war", beim Zuhören des Songs "Saving Grace" zugezogen hat, immer noch ganz handgreiflich als nostalgischen Phantomschmerz. Man merkt diesem Gedicht an, wie prägend Bob Dylan für eine ganze Generation gewesen ist, die inständig das "Forever Young" gebetet hat. Inzwischen hat der Germanist Detering dem Rock-Klassiker und Poeten Dylan sogar eine literaturwissenschaftliche Studie gewidmet, und er empfiehlt, wie seine im Internet verbreitete Leseliste der Weltliteratur zeigt, auch seinen Studenten, sie sollten jedenfalls Dylans "Writings and Drawings" kennen. Das muß man ihnen sicherlich nicht zweimal sagen. Bis auch die "Schwebstoffe" so weit kommen, dürfte noch einige Zeit vergehen.
WULF SEGEBRECHT
Heinrich Detering: "Schwebstoffe". Gedichte. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 72 S., geb. 17,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Balance stimmt! Jan Wagner ist hocherfreut über die Gedichte von Heinrich Detering, die zwar nicht immer ganz perfekt klingen, die aber dennoch, wie die Stoffe des Titels, die Schwebe halten: zwischen Alltäglichem und Metaphysischem, "zwischen so unscheinbaren Themen wie 'Schneekugeln' und historischen Schwergewichten wie Dürer und Nietzsche, dem man im zärtlichen Zwiegespräch mit den Wellen des Mittelmeers begegnet", zwischen der Formbewusstheit des Literaturwissenschaftlers und der lyrischen Intuition. Garant dafür ist des Autors "Vertrauen in die Sinne", "ganz zu schweigen von Deterings humoristischer Seite". Und so, lobt der Rezensent, werden etwas schwächere, wenn auch nie wirklich störende Gedichte von den vorzüglichen jederzeit aufgewogen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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