Mit dem Roman Schweigen betritt der weltbekannte israelische Dramatiker, dessen Stück Ghetto von deutschen Kritikern 1985 zum besten ausländischen Theaterstück der Saison gekürt wurde, nach langer Schaffenspause die literarische Szene. Weise, humorvoll und kritisch porträtiert er das 20. Jahrhundert in Israel.
Der namenlose Erzähler dieses Romans ist achtzig, als er sein Leben an sich vorbeiziehen läßt, und in all den Jahren hat er kein einziges Wort gesprochen. Vielleicht hat es ihm am Tag seiner Beschneidung die Sprache verschlagen, vielleicht ist er wirklich stumm, wir wissen es nicht. Die Ärzte, zu denen ihn seine Eltern schleppten, konnten jedenfalls keine körperliche Ursache feststellen. Klar ist, daß es ein besonderer Tag war, nicht nur wegen des als brutal empfundenen Rituals, sondern weil am selben Tag der Zweite Weltkrieg ausbrach.
In der Erinnerung des Erzählers erscheint die Zeit von seiner Kindheit in einem kleinen Dorf in Erez Israel bis zur immer noch nicht befriedeten Gegenwart als große menschliche Komödie, in der sich Leidenschaft und unterdrückte Sexualität, sadistische Impulse und Todeswünsche mit den Porträts grotesker Familien, draufgängerischer Kinderbanden und ungewöhnlicher Tiere vermischen. Alles versucht der Erzähler festzuhalten, den Holocaust und die kriegerischen Auseinandersetzungen ebenso wie die ineinander verwobenen Geschichten der Dorfbewohner, doch eine bohrende Frage wird er dabei nie los: Ist nicht alles schon einmal dagewesen, ist Sprechen und Schreiben nicht ganz und gar unnötig?
Mit diesem grandiosen Roman beweist Joshua Sobol das Gegenteil: Er ist eine Geschichte Israels, ein beredtes Monument gegen die Vergeßlichkeit.
Der namenlose Erzähler dieses Romans ist achtzig, als er sein Leben an sich vorbeiziehen läßt, und in all den Jahren hat er kein einziges Wort gesprochen. Vielleicht hat es ihm am Tag seiner Beschneidung die Sprache verschlagen, vielleicht ist er wirklich stumm, wir wissen es nicht. Die Ärzte, zu denen ihn seine Eltern schleppten, konnten jedenfalls keine körperliche Ursache feststellen. Klar ist, daß es ein besonderer Tag war, nicht nur wegen des als brutal empfundenen Rituals, sondern weil am selben Tag der Zweite Weltkrieg ausbrach.
In der Erinnerung des Erzählers erscheint die Zeit von seiner Kindheit in einem kleinen Dorf in Erez Israel bis zur immer noch nicht befriedeten Gegenwart als große menschliche Komödie, in der sich Leidenschaft und unterdrückte Sexualität, sadistische Impulse und Todeswünsche mit den Porträts grotesker Familien, draufgängerischer Kinderbanden und ungewöhnlicher Tiere vermischen. Alles versucht der Erzähler festzuhalten, den Holocaust und die kriegerischen Auseinandersetzungen ebenso wie die ineinander verwobenen Geschichten der Dorfbewohner, doch eine bohrende Frage wird er dabei nie los: Ist nicht alles schon einmal dagewesen, ist Sprechen und Schreiben nicht ganz und gar unnötig?
Mit diesem grandiosen Roman beweist Joshua Sobol das Gegenteil: Er ist eine Geschichte Israels, ein beredtes Monument gegen die Vergeßlichkeit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2002Altes Kind
Aufwachsen in Israel:
Joshua Sobols „Schweigen”
Das Privileg des Schriftstellers ist es, reden zu dürfen, ohne unterbrochen zu werden. Das hat einer gesagt, der es wissen muss. Der israelische Dramatiker Joshua Sobol, dessen eloquentes Erfolgsstück „Ghetto” nun bald zwanzig Jahre auf dem Buckel hat, ist es nicht gewesen. Dass auch er von jenem Berufsbonus ausschweifend Gebrauch macht, fällt deshalb besonders auf, weil sein Romandebüt „Schweigen” heißt. Der Ich-Erzähler, der im Jahre 2019 als achtzigjähriger Autor im Internet surft und folglich mit dem 1939 geborenen Sobol eng verwandt sein dürfte, gibt vor, sich im Säuglingsalter für lebenslange Stummheit entschieden zu haben. Doch übergießt er den Leser mit einem Redestrom, der den Titel ad absurdum führt und rasch offenbart, dass dieses „Schweigen” nur ein Konstrukt ist, eine Metapher ohne ästhetische Konsequenzen.
Acht Tage nach seiner Geburt in einem Dorf in Erez Israel, dem damaligen britischen Mandatsgebiet in Palästina, soll Sobols Held nach altem Brauch beschnitten werden. Als der Schächter das Schrecken erregende Messer ansetzt, betritt „der Schriftsteller”, ein dorfeigenes Original, den Raum und verkündet den Angriff der Deutschen auf Polen. Dieser Augenblick, in dem kreatürliche Angst und globale Katastrophenmeldung zusammentreffen, versetzt den märchenhaft frühreifen Knaben schlagartig in den Zustand klarer Bewusstheit und voll entfalteten Reflexionsvermögens. Angesichts der trost- und hoffnungslosen Lage beschließt er, niemals zu sprechen, doch versteht er von Stund an alles, was um ihn herum gesagt wird.
Obgleich damit Freude und Unbeschwertheit aus seinem Leben verschwinden, wird er die Gabe des Lachens nicht verlieren, wohl aber die des Weinens. Die Eltern, vom Verhalten ihres Sprösslings naturgemäß irritiert, schleppen ihn zu verschiedenen Ärzten und lassen sich dann von der Diagnose des unwissenden, aber weisen Doktor Binjamini so weit beruhigen, dass sie den stummen Jungen unbehelligt aufwachsen lassen. Bald lernt der Kleine lesen und schreiben, sein Intellekt funktioniert bravourös, und wenn der Erzähler einräumt: „Um ehrlich zu sein, ich bin nie Kind gewesen”, kann das kaum noch überraschen.
Jotams erstes Sony
Mit zehn Jahren tritt der Namenlose als Sekretär in die Dienste des Schriftstellers, eines Sex-Maniacs mit Beuysschem Filzhut und kantianischen Spaziergewohnheiten, der an Parkinson erkrankt ist und deshalb seinen Roman „Das verbotene Dorf” nicht selbst zu Ende schreiben kann. So findet der Wunderknabe zu seiner Berufung, und so baut sich Joshua Sobol die Figur, die er braucht, um in einer ruhe- und atemlosen, wie unter Überdruck hervorsprudelnden Erinnerungs-Suada die Geschichte Israels im zwanzigsten Jahrhundert aufzurollen: als Familiensaga, als Dorfchronik, als Anekdotenreigen, in dem Privates und Politisches sich ungebärdig vermischen, in vielfachen Motivvariationen und Repetitionen einander umkreisen. Dass der Autor sich auf schnell skizzierte Szenen besser versteht als auf epischen Atem und Zusammenhalt, kann dabei nicht verborgen bleiben. Auch nicht, dass der Übersetzer Markus Lemke hervorragende Arbeit geleistet hat.
Das Aufgebot an Käuzen, skurrilen Begebenheiten und tragikomischen Verwicklungen ruft Benny Barbaschs Roman „Mein erster Sony” ins Gedächtnis, in dem der zehnjährige Jotam aus Tel Aviv, auch er ein stiller Beobachter, seine Verwandtschaft in Tonbandaufzeichnungen porträtiert. Bei Sobol ist der Schweigende umstellt von einem Stimmengewirr, in dem die Traumata des jüdischen Volkes ebenso gegenwärtig sind wie die Mauer zwischen den Generationen, die den Staat Israel spaltet: Die von „dort” kamen, aus den überwiegend osteuropäischen Herkunftsländern oder aus der Hölle des Holocaust, sprechen eine andere Sprache, denken und fühlen anders als jene, die „hier” geboren wurden, mitten in den Aufbau der Zukunft hinein, die wiederum gefährdet ist durch den israelisch-arabischen Konflikt. Verbindend und lindernd wirken lebendige Traditionen, Witz, philosophischer Scharfsinn und gefühlsbetonte Familienbindungen. Und das, was zu allen Zeiten und an jedem Ort der Welt die treibende Kraft bleibt: die Fleischeslust. Sie lässt sich, wie der Werdegang des freiwillig Verstummten zeigt, auch sprachlos genießen.
Den breitesten Raum in seinem Monolog aber nimmt das Schicksal der Eltern ein, die tödliche Krankheit der Mutter und die Depression des Vaters, den der Sohn in einem langen, ermüdenden Ringkampf am Selbstmord hindert, um ihn am Ende aus der Willkür einer fehlgeleiteten Schulmedizin zu befreien. Das letzte, geflüsterte Wort des Sterbenden, sein Auftrag an den Nachgeborenen lautet: „Schweig.” Ein berückender Schlusseffekt, der freilich den Widerspruch zwischen der Stummheits-Metapher und der überbordenden Beredsamkeit des Erzählers noch einmal hervorhebt. Immerhin hat er uns schon auf den ersten Seiten mitgeteilt, auch das Schreiben sei „nichts anderes als eine Art von Sprechen, das ein Mensch an einen anderen richtet”. Der Verfasser des Romans, soviel steht fest, möchte so vernehmlich schweigen, dass man ihn hört.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
JOSHUA SOBOL: Schweigen. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Luchterhand Verlag, München 2002. 332 Seiten, 22,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Aufwachsen in Israel:
Joshua Sobols „Schweigen”
Das Privileg des Schriftstellers ist es, reden zu dürfen, ohne unterbrochen zu werden. Das hat einer gesagt, der es wissen muss. Der israelische Dramatiker Joshua Sobol, dessen eloquentes Erfolgsstück „Ghetto” nun bald zwanzig Jahre auf dem Buckel hat, ist es nicht gewesen. Dass auch er von jenem Berufsbonus ausschweifend Gebrauch macht, fällt deshalb besonders auf, weil sein Romandebüt „Schweigen” heißt. Der Ich-Erzähler, der im Jahre 2019 als achtzigjähriger Autor im Internet surft und folglich mit dem 1939 geborenen Sobol eng verwandt sein dürfte, gibt vor, sich im Säuglingsalter für lebenslange Stummheit entschieden zu haben. Doch übergießt er den Leser mit einem Redestrom, der den Titel ad absurdum führt und rasch offenbart, dass dieses „Schweigen” nur ein Konstrukt ist, eine Metapher ohne ästhetische Konsequenzen.
Acht Tage nach seiner Geburt in einem Dorf in Erez Israel, dem damaligen britischen Mandatsgebiet in Palästina, soll Sobols Held nach altem Brauch beschnitten werden. Als der Schächter das Schrecken erregende Messer ansetzt, betritt „der Schriftsteller”, ein dorfeigenes Original, den Raum und verkündet den Angriff der Deutschen auf Polen. Dieser Augenblick, in dem kreatürliche Angst und globale Katastrophenmeldung zusammentreffen, versetzt den märchenhaft frühreifen Knaben schlagartig in den Zustand klarer Bewusstheit und voll entfalteten Reflexionsvermögens. Angesichts der trost- und hoffnungslosen Lage beschließt er, niemals zu sprechen, doch versteht er von Stund an alles, was um ihn herum gesagt wird.
Obgleich damit Freude und Unbeschwertheit aus seinem Leben verschwinden, wird er die Gabe des Lachens nicht verlieren, wohl aber die des Weinens. Die Eltern, vom Verhalten ihres Sprösslings naturgemäß irritiert, schleppen ihn zu verschiedenen Ärzten und lassen sich dann von der Diagnose des unwissenden, aber weisen Doktor Binjamini so weit beruhigen, dass sie den stummen Jungen unbehelligt aufwachsen lassen. Bald lernt der Kleine lesen und schreiben, sein Intellekt funktioniert bravourös, und wenn der Erzähler einräumt: „Um ehrlich zu sein, ich bin nie Kind gewesen”, kann das kaum noch überraschen.
Jotams erstes Sony
Mit zehn Jahren tritt der Namenlose als Sekretär in die Dienste des Schriftstellers, eines Sex-Maniacs mit Beuysschem Filzhut und kantianischen Spaziergewohnheiten, der an Parkinson erkrankt ist und deshalb seinen Roman „Das verbotene Dorf” nicht selbst zu Ende schreiben kann. So findet der Wunderknabe zu seiner Berufung, und so baut sich Joshua Sobol die Figur, die er braucht, um in einer ruhe- und atemlosen, wie unter Überdruck hervorsprudelnden Erinnerungs-Suada die Geschichte Israels im zwanzigsten Jahrhundert aufzurollen: als Familiensaga, als Dorfchronik, als Anekdotenreigen, in dem Privates und Politisches sich ungebärdig vermischen, in vielfachen Motivvariationen und Repetitionen einander umkreisen. Dass der Autor sich auf schnell skizzierte Szenen besser versteht als auf epischen Atem und Zusammenhalt, kann dabei nicht verborgen bleiben. Auch nicht, dass der Übersetzer Markus Lemke hervorragende Arbeit geleistet hat.
Das Aufgebot an Käuzen, skurrilen Begebenheiten und tragikomischen Verwicklungen ruft Benny Barbaschs Roman „Mein erster Sony” ins Gedächtnis, in dem der zehnjährige Jotam aus Tel Aviv, auch er ein stiller Beobachter, seine Verwandtschaft in Tonbandaufzeichnungen porträtiert. Bei Sobol ist der Schweigende umstellt von einem Stimmengewirr, in dem die Traumata des jüdischen Volkes ebenso gegenwärtig sind wie die Mauer zwischen den Generationen, die den Staat Israel spaltet: Die von „dort” kamen, aus den überwiegend osteuropäischen Herkunftsländern oder aus der Hölle des Holocaust, sprechen eine andere Sprache, denken und fühlen anders als jene, die „hier” geboren wurden, mitten in den Aufbau der Zukunft hinein, die wiederum gefährdet ist durch den israelisch-arabischen Konflikt. Verbindend und lindernd wirken lebendige Traditionen, Witz, philosophischer Scharfsinn und gefühlsbetonte Familienbindungen. Und das, was zu allen Zeiten und an jedem Ort der Welt die treibende Kraft bleibt: die Fleischeslust. Sie lässt sich, wie der Werdegang des freiwillig Verstummten zeigt, auch sprachlos genießen.
Den breitesten Raum in seinem Monolog aber nimmt das Schicksal der Eltern ein, die tödliche Krankheit der Mutter und die Depression des Vaters, den der Sohn in einem langen, ermüdenden Ringkampf am Selbstmord hindert, um ihn am Ende aus der Willkür einer fehlgeleiteten Schulmedizin zu befreien. Das letzte, geflüsterte Wort des Sterbenden, sein Auftrag an den Nachgeborenen lautet: „Schweig.” Ein berückender Schlusseffekt, der freilich den Widerspruch zwischen der Stummheits-Metapher und der überbordenden Beredsamkeit des Erzählers noch einmal hervorhebt. Immerhin hat er uns schon auf den ersten Seiten mitgeteilt, auch das Schreiben sei „nichts anderes als eine Art von Sprechen, das ein Mensch an einen anderen richtet”. Der Verfasser des Romans, soviel steht fest, möchte so vernehmlich schweigen, dass man ihn hört.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
JOSHUA SOBOL: Schweigen. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Luchterhand Verlag, München 2002. 332 Seiten, 22,50 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Die tödliche Teilung der Barthaare
Exerzitium des Erzählens: Joshua Sobols großer Roman betreibt radikale Ursachenforschung / Von Eva Menasse
Als Dramatiker ist Joshua Sobol ein großer Provokateur, einer, der seinen Landsleuten Skandalstücke zugemutet hat, die sie oft nicht ertragen konnten. "Ghetto" - ein Stück über die Kollaboration von Juden mit den Nazis. "Das Jerusalem Syndrom"- ein Stück über den jüdischen Fundamentalismus, den Sobol für eine mögliche Katastrophe im Nahen Osten verantwortlich machte. Schließlich "Weiningers Nacht" - ein Stück über den verrückten Otto Weininger und seinen Selbst-, Juden- und Frauenhaß, ein Stück, das in Deutschland erfolgreicher war als in Israel.
Über die dramaturgische Qualität von Sobols Stücken gehen die Meinungen weit auseinander, doch ihre politische Sprengkraft ist unbestritten. Theater sei Provokation, müsse an die Grenzen gehen und Folgen haben wie eine nukleare Explosion, hat der 1939 in Tel Aviv Geborenegern gesagt. Nun hat dieser Sobol seinen ersten Roman veröffentlicht.
Doch während Sobols bisherige Ausdrucksform die provokante Intervention war, heißt sein erstes belletristisches Werk ausgerechnet "Schweigen" und ist ein ganz konzentriert nach innen gewandtes, meditatives Buch. Es beginnt mit den merkwürdigen Sätzen: "Seit dem Tag, an dem ich lesen und schreiben lernte, habe ich nicht ein eigenes Wort geschrieben. Ich habe nur kopiert, was andere geschrieben haben. Als kleiner Junge schrieb ich Passagen aus Büchern ab. Danach fing ich an, das Manuskript des Schriftstellers, der in unserem Dorf wohnte, abzuschreiben, damit er es in Druck geben konnte." "Das verbotene Dorf" hätte jenes andere Buch im Buch heißen sollen, und das könnte beinahe der zweite Titel von Sobols Roman sein. Denn das Personal und die Schauplätze entstammen fast ausschließlich diesem Dorf, in dem der Ich-Erzähler heranwächst. Auf die Welt draußen verweisen nur wenige Details aus dem Erwachsenenleben des Jungen, der später zum experimentellen Dichter wird, reist, Kongresse besucht, das Internet benutzt und zu seiner eigenen Verwunderung sogar ein paar Frauen liebt.
Die Erinnerung dieses Jungen setzt ein am achten Tag nach seiner Geburt, dem Tag seiner Beschneidung. Während dieses traumatischen Vorgangs beschließt der Säugling aus freiem Willen, weder zu weinen noch je zu sprechen, denn er hat plötzlich begriffen, daß keine Intervention seinerseits irgend etwas am Ablauf dieses Rituals oder gar am Lauf der Welt verändern wird. Ein Mensch kapituliert am schieren Beginn seines Lebens und zieht die äußerste Konsequenz. Wie als Bestätigung betritt unmittelbar nach der Beschneidung der Schriftsteller den Raum und verkündet: "Der Krieg ist ausgebrochen."
Natürlich wird es im Lauf seines Lebens dennoch Momente geben, wo dieser Junge versucht sein wird zu sprechen, etwa als er sich in die schöne Noga verliebt. Er möchte ihr seine Liebe gestehen, selbst um den Preis, daß er danach teilnehmen müßte am Geschwätz der Welt. Doch "als ich gerade zu ihr gehen und es ihr sagen wollte, kam Avinoam, einer von den älteren Jungen, verdrehte ihr den Arm, und Noga drückte den Rücken durch und warf den Kopf in den Nacken, so daß ich ihre Augen sehen konnte, die ihn lachend, herausfordernd und einladend anblickten, und da wollte ich ihr schon nichts mehr sagen und war froh, daß ich nicht zu ihr gegangen war und den Mund aufgemacht hatte, um zu sprechen."
Ins Zentrum seines Romans stellt Joshua Sobol also ein stummes Wunderkind, eine höchst metaphorische Figur. Und bereits auf den ersten Seiten umreißt er den ganzen Kosmos dieses Romans. Die Kinderbande des Dorfes wird lapidar vorgestellt wie das Personal eines Theaterstücks, Todesart und -zeitpunkt inklusive. Eine Buchseite und ein paar Jahre später begegnet der Ich-Erzähler etwa Noga wieder: völlig verfallen durch eine unheilbare Krankheit, an der sie schon im nächsten Satz stirbt.
Um eine fortschreitende Erzählbewegung, um Anfang, Ende und ein entsprechendes Dazwischen geht es diesem Text gerade nicht. Sobols Interesse liegt in der Wiederholung, in der fast unmerklich verfälschten Kopie, in sprachlichen und thematischen Kreisbewegungen. Kleine Begebenheiten aus der Jugend des schweigenden Jungen tauchen immer wieder auf. Der Junge, gezwungen, alle Fragen mit sich selbst auszumachen, beschäftigt sich außerdem fanatisch mit der Ursächlichkeit. Zum Beispiel: Einer, der aussieht wie der schwarze Kater im Hof, erzählt einen jüdischen Witz, zu dessen Illustration man den Bart eines Anwesenden teilen muß. Der Junge geht in den Hof, erzählt den Witz dem Kater. Das ist die eine von zwei Gelegenheiten, wo er spricht, das eine Mal zum Tier, das andere Mal zu einem Geistesschwachen, und beide Male wird es tödliche Folgen haben für die, die seine Stimme hörten. Er teilt dem Kater die Schnurrbarthaare, der schlägt ihm die Krallen ins Fleisch, das Kind blutet, der Vater erschießt den Kater. Wer ist nun woran schuld? Hat der Erwachsene, der ursprünglich den Witz erzählte, den Tod des Katers mitverursacht? Im Bett denkt der Junge "über die Verkettung der Ereignisse nach, die ich nicht ausgelöst hatte und vielleicht auch nicht beenden würde, an der ich aber dennoch beteiligt gewesen war" - ein Gleichnis, und nicht nur auf Israel.
Faszinierend ist die flirrende Mischung zwischen dem Ewiggültigen und dem Autobiographischen, Zeitgenössischen. Das Dorf und seine Bewohner sind auf biblische Weise zu dem bißchen Leben zwischen Geburt und Tod verdammt. Einzig dem Schweigsamen, dem Außenseiter von Anbeginn, gelingt es, in die Welt zu entkommen und in ihr, ausgerechnet mit Vogelstimmen-Gedichten, Spuren zu hinterlassen. Es ist ein Buch voller kräftiger Farben und Figuren, voller skurriler Begebenheiten, wie wir sie aus der israelischen Literatur etwa von Meir Shalev kennen. Am Ende wird das ganze störrische Lebenskonzept auf die äußerste Probe gestellt. In einer quälenden Nacht hindert der Junge unter Aufbietung aller körperlichen Kraft seinen depressiven Vater daran, sich umzubringen. Doch als der sich endlich zu beruhigen scheint, rennt er plötzlich los und rammt den Kopf gegen einen Baum - wer sich töten will, findet immer eine Lösung.
Dann liegt er da im Krankenbett. Sein Leben lang wollte er seinem Sohn ein Wort entlocken. Stundenlang ringt der nun mit sich selbst: Soll er endlich sprechen? Als er sich schließlich dazu entschlossen hat, flüstert der sterbende Vater, der die Gedanken des Sohnes seit jeher zu lesen verstand, nur ein einziges Wort: "Schweig."
Joshua Sobol: "Schweigen". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke. Luchterhand Literaturverlag, München 2001. 352 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Exerzitium des Erzählens: Joshua Sobols großer Roman betreibt radikale Ursachenforschung / Von Eva Menasse
Als Dramatiker ist Joshua Sobol ein großer Provokateur, einer, der seinen Landsleuten Skandalstücke zugemutet hat, die sie oft nicht ertragen konnten. "Ghetto" - ein Stück über die Kollaboration von Juden mit den Nazis. "Das Jerusalem Syndrom"- ein Stück über den jüdischen Fundamentalismus, den Sobol für eine mögliche Katastrophe im Nahen Osten verantwortlich machte. Schließlich "Weiningers Nacht" - ein Stück über den verrückten Otto Weininger und seinen Selbst-, Juden- und Frauenhaß, ein Stück, das in Deutschland erfolgreicher war als in Israel.
Über die dramaturgische Qualität von Sobols Stücken gehen die Meinungen weit auseinander, doch ihre politische Sprengkraft ist unbestritten. Theater sei Provokation, müsse an die Grenzen gehen und Folgen haben wie eine nukleare Explosion, hat der 1939 in Tel Aviv Geborenegern gesagt. Nun hat dieser Sobol seinen ersten Roman veröffentlicht.
Doch während Sobols bisherige Ausdrucksform die provokante Intervention war, heißt sein erstes belletristisches Werk ausgerechnet "Schweigen" und ist ein ganz konzentriert nach innen gewandtes, meditatives Buch. Es beginnt mit den merkwürdigen Sätzen: "Seit dem Tag, an dem ich lesen und schreiben lernte, habe ich nicht ein eigenes Wort geschrieben. Ich habe nur kopiert, was andere geschrieben haben. Als kleiner Junge schrieb ich Passagen aus Büchern ab. Danach fing ich an, das Manuskript des Schriftstellers, der in unserem Dorf wohnte, abzuschreiben, damit er es in Druck geben konnte." "Das verbotene Dorf" hätte jenes andere Buch im Buch heißen sollen, und das könnte beinahe der zweite Titel von Sobols Roman sein. Denn das Personal und die Schauplätze entstammen fast ausschließlich diesem Dorf, in dem der Ich-Erzähler heranwächst. Auf die Welt draußen verweisen nur wenige Details aus dem Erwachsenenleben des Jungen, der später zum experimentellen Dichter wird, reist, Kongresse besucht, das Internet benutzt und zu seiner eigenen Verwunderung sogar ein paar Frauen liebt.
Die Erinnerung dieses Jungen setzt ein am achten Tag nach seiner Geburt, dem Tag seiner Beschneidung. Während dieses traumatischen Vorgangs beschließt der Säugling aus freiem Willen, weder zu weinen noch je zu sprechen, denn er hat plötzlich begriffen, daß keine Intervention seinerseits irgend etwas am Ablauf dieses Rituals oder gar am Lauf der Welt verändern wird. Ein Mensch kapituliert am schieren Beginn seines Lebens und zieht die äußerste Konsequenz. Wie als Bestätigung betritt unmittelbar nach der Beschneidung der Schriftsteller den Raum und verkündet: "Der Krieg ist ausgebrochen."
Natürlich wird es im Lauf seines Lebens dennoch Momente geben, wo dieser Junge versucht sein wird zu sprechen, etwa als er sich in die schöne Noga verliebt. Er möchte ihr seine Liebe gestehen, selbst um den Preis, daß er danach teilnehmen müßte am Geschwätz der Welt. Doch "als ich gerade zu ihr gehen und es ihr sagen wollte, kam Avinoam, einer von den älteren Jungen, verdrehte ihr den Arm, und Noga drückte den Rücken durch und warf den Kopf in den Nacken, so daß ich ihre Augen sehen konnte, die ihn lachend, herausfordernd und einladend anblickten, und da wollte ich ihr schon nichts mehr sagen und war froh, daß ich nicht zu ihr gegangen war und den Mund aufgemacht hatte, um zu sprechen."
Ins Zentrum seines Romans stellt Joshua Sobol also ein stummes Wunderkind, eine höchst metaphorische Figur. Und bereits auf den ersten Seiten umreißt er den ganzen Kosmos dieses Romans. Die Kinderbande des Dorfes wird lapidar vorgestellt wie das Personal eines Theaterstücks, Todesart und -zeitpunkt inklusive. Eine Buchseite und ein paar Jahre später begegnet der Ich-Erzähler etwa Noga wieder: völlig verfallen durch eine unheilbare Krankheit, an der sie schon im nächsten Satz stirbt.
Um eine fortschreitende Erzählbewegung, um Anfang, Ende und ein entsprechendes Dazwischen geht es diesem Text gerade nicht. Sobols Interesse liegt in der Wiederholung, in der fast unmerklich verfälschten Kopie, in sprachlichen und thematischen Kreisbewegungen. Kleine Begebenheiten aus der Jugend des schweigenden Jungen tauchen immer wieder auf. Der Junge, gezwungen, alle Fragen mit sich selbst auszumachen, beschäftigt sich außerdem fanatisch mit der Ursächlichkeit. Zum Beispiel: Einer, der aussieht wie der schwarze Kater im Hof, erzählt einen jüdischen Witz, zu dessen Illustration man den Bart eines Anwesenden teilen muß. Der Junge geht in den Hof, erzählt den Witz dem Kater. Das ist die eine von zwei Gelegenheiten, wo er spricht, das eine Mal zum Tier, das andere Mal zu einem Geistesschwachen, und beide Male wird es tödliche Folgen haben für die, die seine Stimme hörten. Er teilt dem Kater die Schnurrbarthaare, der schlägt ihm die Krallen ins Fleisch, das Kind blutet, der Vater erschießt den Kater. Wer ist nun woran schuld? Hat der Erwachsene, der ursprünglich den Witz erzählte, den Tod des Katers mitverursacht? Im Bett denkt der Junge "über die Verkettung der Ereignisse nach, die ich nicht ausgelöst hatte und vielleicht auch nicht beenden würde, an der ich aber dennoch beteiligt gewesen war" - ein Gleichnis, und nicht nur auf Israel.
Faszinierend ist die flirrende Mischung zwischen dem Ewiggültigen und dem Autobiographischen, Zeitgenössischen. Das Dorf und seine Bewohner sind auf biblische Weise zu dem bißchen Leben zwischen Geburt und Tod verdammt. Einzig dem Schweigsamen, dem Außenseiter von Anbeginn, gelingt es, in die Welt zu entkommen und in ihr, ausgerechnet mit Vogelstimmen-Gedichten, Spuren zu hinterlassen. Es ist ein Buch voller kräftiger Farben und Figuren, voller skurriler Begebenheiten, wie wir sie aus der israelischen Literatur etwa von Meir Shalev kennen. Am Ende wird das ganze störrische Lebenskonzept auf die äußerste Probe gestellt. In einer quälenden Nacht hindert der Junge unter Aufbietung aller körperlichen Kraft seinen depressiven Vater daran, sich umzubringen. Doch als der sich endlich zu beruhigen scheint, rennt er plötzlich los und rammt den Kopf gegen einen Baum - wer sich töten will, findet immer eine Lösung.
Dann liegt er da im Krankenbett. Sein Leben lang wollte er seinem Sohn ein Wort entlocken. Stundenlang ringt der nun mit sich selbst: Soll er endlich sprechen? Als er sich schließlich dazu entschlossen hat, flüstert der sterbende Vater, der die Gedanken des Sohnes seit jeher zu lesen verstand, nur ein einziges Wort: "Schweig."
Joshua Sobol: "Schweigen". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke. Luchterhand Literaturverlag, München 2001. 352 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
62 Jahre ist der israelische Autor Joshua Sobol und als Dramatiker berühmt, wenngleich man ihm in Israel Nestbeschmutzung vorwerfe, denn in seinen Stücken weise er immer wieder auf die Unterdrückung der Palästinenser hin, berichtet Jürgen Berger. Nun hat er seinen ersten Roman vorgelegt, eigentlich ein "Melodram in drei Akten", so der Rezensent, in dem ein Erzähler, der sich selbst zum Stummsein verdammt hat, die Geschichte seines Dorfes festhält. Die ist "leise und fein gestrickt", in "rasanten Zeitsprüngen" berichtet und hat sich Berger in ihrer Eindringlichkeit ins Gedächtnis gegraben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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