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Mit dem Roman Schweigen betritt der weltbekannte israelische Dramatiker, dessen Stück Ghetto von deutschen Kritikern 1985 zum besten ausländischen Theaterstück der Saison gekürt wurde, nach langer Schaffenspause die literarische Szene. Weise, humorvoll und kritisch porträtiert er das 20. Jahrhundert in Israel. Der namenlose Erzähler dieses Romans ist achtzig, als er sein Leben an sich vorbeiziehen läßt, und in all den Jahren hat er kein einziges Wort gesprochen. Vielleicht hat es ihm am Tag seiner Beschneidung die Sprache verschlagen, vielleicht ist er wirklich stumm, wir wissen es nicht. Die…mehr

Produktbeschreibung
Mit dem Roman Schweigen betritt der weltbekannte israelische Dramatiker, dessen Stück Ghetto von deutschen Kritikern 1985 zum besten ausländischen Theaterstück der Saison gekürt wurde, nach langer Schaffenspause die literarische Szene. Weise, humorvoll und kritisch porträtiert er das 20. Jahrhundert in Israel. Der namenlose Erzähler dieses Romans ist achtzig, als er sein Leben an sich vorbeiziehen läßt, und in all den Jahren hat er kein einziges Wort gesprochen. Vielleicht hat es ihm am Tag seiner Beschneidung die Sprache verschlagen, vielleicht ist er wirklich stumm, wir wissen es nicht. Die Ärzte, zu denen ihn seine Eltern schleppten, konnten jedenfalls keine körperliche Ursache feststellen. Klar ist, daß es ein besonderer Tag war, nicht nur wegen des als brutal empfundenen Rituals, sondern weil am selben Tag der Zweite Weltkrieg ausbrach. In der Erinnerung des Erzählers erscheint die Zeit von seiner Kindheit in einem kleinen Dorf in Erez Israel bis zur immer noch nicht befriedeten Gegenwart als große menschliche Komödie, in der sich Leidenschaft und unterdrückte Sexualität, sadistische Impulse und Todeswünsche mit den Porträts grotesker Familien, draufgängerischer Kinderbanden und ungewöhnlicher Tiere vermischen. Alles versucht der Erzähler festzuhalten, den Holocaust und die kriegerischen Auseinandersetzungen ebenso wie die ineinander verwobenen Geschichten der Dorfbewohner, doch eine bohrende Frage wird er dabei nie los: Ist nicht alles schon einmal dagewesen, ist Sprechen und Schreiben nicht ganz und gar unnötig? Mit diesem grandiosen Roman beweist Joshua Sobol das Gegenteil: Er ist eine Geschichte Israels, ein beredtes Monument gegen die Vergeßlichkeit.
Autorenporträt
Joshua Sobol, geb. 1939 in Tel Mond, lebte in einem Kibbuz und studierte in Paris Philosophie. Als einer der führenden israelischen Dramatiker lehrt er u.a. an der Universität in Tel Aviv. Weltweit bekannt wurde er mit den Theaterstücken 'Weiningers Nacht' (1982) und 'Ghetto' (1984).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Die tödliche Teilung der Barthaare
Exerzitium des Erzählens: Joshua Sobols großer Roman betreibt radikale Ursachenforschung / Von Eva Menasse

Als Dramatiker ist Joshua Sobol ein großer Provokateur, einer, der seinen Landsleuten Skandalstücke zugemutet hat, die sie oft nicht ertragen konnten. "Ghetto" - ein Stück über die Kollaboration von Juden mit den Nazis. "Das Jerusalem Syndrom"- ein Stück über den jüdischen Fundamentalismus, den Sobol für eine mögliche Katastrophe im Nahen Osten verantwortlich machte. Schließlich "Weiningers Nacht" - ein Stück über den verrückten Otto Weininger und seinen Selbst-, Juden- und Frauenhaß, ein Stück, das in Deutschland erfolgreicher war als in Israel.

Über die dramaturgische Qualität von Sobols Stücken gehen die Meinungen weit auseinander, doch ihre politische Sprengkraft ist unbestritten. Theater sei Provokation, müsse an die Grenzen gehen und Folgen haben wie eine nukleare Explosion, hat der 1939 in Tel Aviv Geborenegern gesagt. Nun hat dieser Sobol seinen ersten Roman veröffentlicht.

Doch während Sobols bisherige Ausdrucksform die provokante Intervention war, heißt sein erstes belletristisches Werk ausgerechnet "Schweigen" und ist ein ganz konzentriert nach innen gewandtes, meditatives Buch. Es beginnt mit den merkwürdigen Sätzen: "Seit dem Tag, an dem ich lesen und schreiben lernte, habe ich nicht ein eigenes Wort geschrieben. Ich habe nur kopiert, was andere geschrieben haben. Als kleiner Junge schrieb ich Passagen aus Büchern ab. Danach fing ich an, das Manuskript des Schriftstellers, der in unserem Dorf wohnte, abzuschreiben, damit er es in Druck geben konnte." "Das verbotene Dorf" hätte jenes andere Buch im Buch heißen sollen, und das könnte beinahe der zweite Titel von Sobols Roman sein. Denn das Personal und die Schauplätze entstammen fast ausschließlich diesem Dorf, in dem der Ich-Erzähler heranwächst. Auf die Welt draußen verweisen nur wenige Details aus dem Erwachsenenleben des Jungen, der später zum experimentellen Dichter wird, reist, Kongresse besucht, das Internet benutzt und zu seiner eigenen Verwunderung sogar ein paar Frauen liebt.

Die Erinnerung dieses Jungen setzt ein am achten Tag nach seiner Geburt, dem Tag seiner Beschneidung. Während dieses traumatischen Vorgangs beschließt der Säugling aus freiem Willen, weder zu weinen noch je zu sprechen, denn er hat plötzlich begriffen, daß keine Intervention seinerseits irgend etwas am Ablauf dieses Rituals oder gar am Lauf der Welt verändern wird. Ein Mensch kapituliert am schieren Beginn seines Lebens und zieht die äußerste Konsequenz. Wie als Bestätigung betritt unmittelbar nach der Beschneidung der Schriftsteller den Raum und verkündet: "Der Krieg ist ausgebrochen."

Natürlich wird es im Lauf seines Lebens dennoch Momente geben, wo dieser Junge versucht sein wird zu sprechen, etwa als er sich in die schöne Noga verliebt. Er möchte ihr seine Liebe gestehen, selbst um den Preis, daß er danach teilnehmen müßte am Geschwätz der Welt. Doch "als ich gerade zu ihr gehen und es ihr sagen wollte, kam Avinoam, einer von den älteren Jungen, verdrehte ihr den Arm, und Noga drückte den Rücken durch und warf den Kopf in den Nacken, so daß ich ihre Augen sehen konnte, die ihn lachend, herausfordernd und einladend anblickten, und da wollte ich ihr schon nichts mehr sagen und war froh, daß ich nicht zu ihr gegangen war und den Mund aufgemacht hatte, um zu sprechen."

Ins Zentrum seines Romans stellt Joshua Sobol also ein stummes Wunderkind, eine höchst metaphorische Figur. Und bereits auf den ersten Seiten umreißt er den ganzen Kosmos dieses Romans. Die Kinderbande des Dorfes wird lapidar vorgestellt wie das Personal eines Theaterstücks, Todesart und -zeitpunkt inklusive. Eine Buchseite und ein paar Jahre später begegnet der Ich-Erzähler etwa Noga wieder: völlig verfallen durch eine unheilbare Krankheit, an der sie schon im nächsten Satz stirbt.

Um eine fortschreitende Erzählbewegung, um Anfang, Ende und ein entsprechendes Dazwischen geht es diesem Text gerade nicht. Sobols Interesse liegt in der Wiederholung, in der fast unmerklich verfälschten Kopie, in sprachlichen und thematischen Kreisbewegungen. Kleine Begebenheiten aus der Jugend des schweigenden Jungen tauchen immer wieder auf. Der Junge, gezwungen, alle Fragen mit sich selbst auszumachen, beschäftigt sich außerdem fanatisch mit der Ursächlichkeit. Zum Beispiel: Einer, der aussieht wie der schwarze Kater im Hof, erzählt einen jüdischen Witz, zu dessen Illustration man den Bart eines Anwesenden teilen muß. Der Junge geht in den Hof, erzählt den Witz dem Kater. Das ist die eine von zwei Gelegenheiten, wo er spricht, das eine Mal zum Tier, das andere Mal zu einem Geistesschwachen, und beide Male wird es tödliche Folgen haben für die, die seine Stimme hörten. Er teilt dem Kater die Schnurrbarthaare, der schlägt ihm die Krallen ins Fleisch, das Kind blutet, der Vater erschießt den Kater. Wer ist nun woran schuld? Hat der Erwachsene, der ursprünglich den Witz erzählte, den Tod des Katers mitverursacht? Im Bett denkt der Junge "über die Verkettung der Ereignisse nach, die ich nicht ausgelöst hatte und vielleicht auch nicht beenden würde, an der ich aber dennoch beteiligt gewesen war" - ein Gleichnis, und nicht nur auf Israel.

Faszinierend ist die flirrende Mischung zwischen dem Ewiggültigen und dem Autobiographischen, Zeitgenössischen. Das Dorf und seine Bewohner sind auf biblische Weise zu dem bißchen Leben zwischen Geburt und Tod verdammt. Einzig dem Schweigsamen, dem Außenseiter von Anbeginn, gelingt es, in die Welt zu entkommen und in ihr, ausgerechnet mit Vogelstimmen-Gedichten, Spuren zu hinterlassen. Es ist ein Buch voller kräftiger Farben und Figuren, voller skurriler Begebenheiten, wie wir sie aus der israelischen Literatur etwa von Meir Shalev kennen. Am Ende wird das ganze störrische Lebenskonzept auf die äußerste Probe gestellt. In einer quälenden Nacht hindert der Junge unter Aufbietung aller körperlichen Kraft seinen depressiven Vater daran, sich umzubringen. Doch als der sich endlich zu beruhigen scheint, rennt er plötzlich los und rammt den Kopf gegen einen Baum - wer sich töten will, findet immer eine Lösung.

Dann liegt er da im Krankenbett. Sein Leben lang wollte er seinem Sohn ein Wort entlocken. Stundenlang ringt der nun mit sich selbst: Soll er endlich sprechen? Als er sich schließlich dazu entschlossen hat, flüstert der sterbende Vater, der die Gedanken des Sohnes seit jeher zu lesen verstand, nur ein einziges Wort: "Schweig."

Joshua Sobol: "Schweigen". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke. Luchterhand Literaturverlag, München 2001. 352 S., geb., 44,- DM.

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