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Produktdetails
  • Verlag: Pendo
  • ISBN-13: 9783858425690
  • ISBN-10: 3858425699
  • Artikelnr.: 21368192
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2004

Jahreswechsel ist am 31. Dezember? Stimmt nicht, sagt Urnäsch
In der Schweiz gibt es Leute, die Silvester noch einmal am 13. Januar feiern: Franziska Schläpfer kümmert sich um diesen Irrtum

Manche Bücher sind homogen wie ein Appenzeller Chäs, andere eine körnige Mischung wie ein Müesli. Das "Schweizer Lexikon der populären Irrtümer" von Franziska Schläpfer ist von der zweiten Art. Vergessen Sie übrigens "Lexikon", und vergessen Sie "Irrtümer". Beides ist nur ein billiger Trick des Verlags, um zusätzliche Käufer anzulocken. Ein "Lexikon der Irrtümer" zieht heute besonders gut, sonst gäbe es nicht so viele davon. Das Buch ist aber trotzdem gelungen.

Die Schweiz wird hier aus der Binnenperspektive geschildert. Man kann natürlich darüber streiten, wer ein Land besser beschreiben kann, der Einheimische oder der Fremde. Bücher von Autoren wie George Mikes oder Bill Bryson leben gerade davon, daß die Verfasser über die merkwürdigen Rituale fremder Stämme berichten. Franziska Schläpfer aber ist selbst Schweizerin. Sie erzählt von den 26 Kantonen wie von innig geliebten, aber leicht mißratenen Kindern.

Was ist die Zielgruppe des Buchs? Jeder, der sich für das scheinbar kuriose Bergvolk der Schweizer interessiert, sei es, weil er sich als Nichtschweizer in eine Schweizerin verliebt hat, sei es, weil er vor dem Fiskus dorthin fliehen will, oder einfach nur so. Ob das Werk auch für Schweizer Leser zu empfehlen ist, mögen die eidgenössischen Rezensenten beurteilen. Wir Nichtschweizer sind jedenfalls fast immer in der Lage, aus dem Zusammenhang zu erschließen, wovon die Rede ist, und können noch zusätzlich den Reiz des Exotischen genießen. Die Inhalte des Buchs sind wenig systematisch, und das ist gut so. Es geht nur um eine aktuelle Momentaufnahme des Landes mit diversen historischen Exkursen. Dabei liegt der Schwerpunkt eher bei der Alltagskultur und Folklore. Der Bernhardiner wird ausführlicher diskutiert als die Pharmaindustrie. Trotz der volkstümelnden Themen ist die Autorin aber nicht einmal ansatzweise reaktionär. Unerschrocken erklärt sie zum Beispiel ihre Sympathie für progressive Alphornmusik jenseits des wohltemperierten Dogmas der Traditionalisten.

Alle Einträge - von "Aargau" bis "Zwingli, Huldrich" - erzählen eine kleine Geschichte. Am Ende der Lektüre ist dann jeder Käse zum Bahnhof gerollt worden, und der Leser ist hoffentlich etwas klüger. Jedes Stichwort wird ex negativo motiviert. Ein Beispiel: "Jahreswechsel ist am 31. Dezember". Stimmt nicht! In Urnäsch, einer kleinen Gemeinde am Fuße des Säntis, hat man sich vom Papst in Rom den Gregorianischen Kalender nicht aufzwingen lassen. Jedenfalls nicht so ganz. Deshalb feiert man dort Silvester sicherheitshalber nochmals am 13. Januar. Manchmal wurde der Rezensent tatsächlich von einem genuinen Irrtum befreit. Maggi-Würze, ein urschweizerisches Produkt, das seit 1947 vom Nestlé-Konzern kommt, enthält keinen Liebstöckel, auch wenn dieser als "Maggikraut" bekannt ist und eine gewisse sensorische Ähnlichkeit mit der kräftigen Brühe aus der viereckigen Flasche aufweist. Insgesamt geht es in dem Buch weniger um Irrtümer als um Legenden, Mißverständnisse, Vorurteile - man kann auch sagen: Meistens geht es um ganz normale solide Information.

Mehr als die Hälfte aller Eidgenossen glaubt immer noch, daß Wilhelm Tell tatsächlich gelebt hat. Tatsache ist, daß sich das Apfelschuß-Motiv bereits in einer dänischen Sage findet, die ein Mönch um 1200 aufgeschrieben hat. Schillers Drama beruht auf alten Chroniken, die zu großen Teilen erfunden waren. Zum Beispiel hat der bekannte Amateurhistoriker Max Frisch darauf hingewiesen, daß der Vogt nicht in Küssnacht residierte und sich deshalb die ganze Angelegenheit nicht auf dem Weg nach Küssnacht, sondern, wenn überhaupt, "in umgekehrter Richtung" abspielte. Man kann aber wohl davon ausgehen, daß Personen, die regelmäßig Bücher wie das vorliegende lesen, von Rezensionen in überregionalen Gazetten ganz zu schweigen, deutlich aufgeklärter sind als der statistische Durchschnitt. Anders gesagt: Hier wird kein Mythos brutal zerstört. Daß der Tell nur eine Erfindung ist, hat sich bereits herumgesprochen. Wer Ohren hat zu hören, der hat es längst gehört. Trotzdem ist es natürlich verdienstvoll, wenn jemand mal die relevanten Fakten auf dreieinhalb Seiten zusammenfaßt. Ähnlich verdienstvoll sind auch viele andere Artikel in dem Buch.

Auf jeden Fall - und das ist doch ein guter Schluß - sind die Schweizer Schoßkinder des Glücks. Zumindest behaupten sie es. Bei einer soziologischen Untersuchung von vierzig Ländern waren sie am glücklichsten (und ausgerechnet die benachbarten Italiener am unglücklichsten). "I cha nöd chlage!" So sagen sie, und das klingt ein wenig wie der Masochist, der bedauert, daß er nicht leiden darf. Am zufriedensten ist man im Kanton Zug, dem reichsten der Kantone. Daß Geld nicht glücklich macht, ist in der Tat ein populärer Irrtum.

ERNST HORST

Franziska Schläpfer: "Schweizer Lexikon der populären Irrtümer". Mißverständnisse und Vorurteile von Alpenklübler bis Zwingli. Pendo Verlag, Zürich 2004. 272 S., 150 Abb., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Den Titel, meint der Rezensent Ernst Horst etwas resigniert, den Titel kann man gleich vergessen: die reine Verkaufsmasche. Was hier vorliegt, sei kein Lexikon, und um Irrtümer gehe es auch eher selten. Das mit der Schweiz treffe den Nagel dagegen auf den Kopf: über die erfahre man in diesem Band viel, und zwar von einer Schweizerin. Nicht nur Neues - dass es etwa Wilhelm Tell in Wirklichkeit gar nicht gegeben hat, das habe man auch vorher schon wissen können. Aber dass im schweizerischen Urnäsch Silvester aus lang anhaltendem Widerstand gegen den Gregorianischen Kalender jedes Jahr am 13. Januar nochmal gefeiert wird, das sei der Welt bisher wohl doch eher unbekannt gewesen. So findet Horst die Mehrzahl der Artikel allemal "verdienstvoll" und beneidet die Schweiz als überaus glückliches - oder jedenfalls selbstzufriedenes - Volk. Keines von neununddreißig anderen Ländern kam den Schweizern in einer Umfrage an Glücksempfinden gleich.

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