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Die Schwester ist blond und hellhäutig, sie ist immer kränklich und beansprucht die Aufmerksamkeit der Mutter fast vollständig. Sie ist der erste und engste Spielkamerad, Miterfinderin und Mitbewohnerin wunderbarer Fantasiewelten. Sie ist eine hasserfüllte Gegnerin und begehrtes Objekt schwesterlicher Liebe, sie ist Verbündete und Rivalin. Die Krankheit treibt sie schließlich in eine immer größere Verletzbarkeit und Schwäche, die der Schwester gegenüber in Ablehnung, Kälte, Grausamkeit umschlägt. Die Entfremdung ist unüberwindbar. Als sie an einem Asthmaanfall stirbt, hinterlässt sie die Erzählerin in einem Zustand der Lähmung.…mehr

Produktbeschreibung
Die Schwester ist blond und hellhäutig, sie ist immer kränklich und beansprucht die Aufmerksamkeit der Mutter fast vollständig. Sie ist der erste und engste Spielkamerad, Miterfinderin und Mitbewohnerin wunderbarer Fantasiewelten. Sie ist eine hasserfüllte Gegnerin und begehrtes Objekt schwesterlicher Liebe, sie ist Verbündete und Rivalin. Die Krankheit treibt sie schließlich in eine immer größere Verletzbarkeit und Schwäche, die der Schwester gegenüber in Ablehnung, Kälte, Grausamkeit umschlägt. Die Entfremdung ist unüberwindbar. Als sie an einem Asthmaanfall stirbt, hinterlässt sie die Erzählerin in einem Zustand der Lähmung.
Autorenporträt
Keto von Waberer, geboren in Augsburg, verbrachte ihre frühe Kindheit in Alpbach, Tirol, studierte Architektur in München und Mexiko. Seit 1998 hat sie einen Lehrauftrag für Creative Writing an der Hochschule für Film und Fernsehen, München. Ihre Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2011 erhielt sie den Münchner Literaturpreis. Keto von Waberer lebt heute als freie Schriftstellerin in München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2002

Sünder ohne Sünde
Beklommenheit statt Rührung: Keto von Waberer entwirft die idyllische, schaurige Schwesternliebe

Keto von Waberers Geschichte einer Schwesternliebe endet mit einem Traum, in dem die jüngere Schwester die ältere auf einer Bank sitzen sieht, übermütig und Tränen lachend. Die Erzählung aber beginnt damit, daß die jüngere Schwester in Tränen ertrinkend durch den Supermarkt irrt: "Die Tränen kommen, wann sie wollen, ohne Grund, so wie die Ängste in meinen Nächten. - Ich brauche sehr lange, um herauszufinden, daß ich um meine Schwester weine. Sie ist vor zwei Jahren gestorben." Lachen und Weinen bestimmen den Rhythmus dieser Suche nach der Verstorbenen. Der Albtraum der überlebenden Schwester, die verweinten Nächte ihres Erwachsenenlebens öffnen die Pforten, die ins Traumglück der Kindheit führen. Jeder Spaziergang aber in diesen schönen Garten läßt die Keime sehen, aus denen damals schon, zwischen dem Glück, das Unglück sproß.

Unauflöslich verbunden tauchen aus dem Gedächtnis nicht nur die zwei Schwestern auf, die ältere, immer kranke, die alle Mutterliebe auf sich zieht, und die um fünf Jahre jüngere, bubenhafte, ein Mignon in Hosen, gesund, flink, hilfsbereit, praktisch, ein Kumpel des Vaters, der das Bündnis gern mit einem herablassenden Seitenblick auf "die Weiber" quittiert. Ineinander verschränkt sind vor allem Liebe und Haß, Scherz und Aggression, Übermut und Todesangst. Aus der Tränenflut des Anfangs steigt zunächst eine goldene Kindheit auf, angesiedelt auf der Alm, wohin die Familie wegen des Asthmas der älteren Tochter gezogen war. Diesen hochgelegenen Paradiesgarten bevölkern die Kinder mit ihren Geschöpfen, mit den beiden Hasen "Blumenfein" und "Zottelohr", und mit einer Pilgergemeinde aus gebastelten Pferdchen, Bären, Affen, die, Kirchenlieder singend, im Gras eine Prozession veranstalten. Der Leser sieht sich in alte Zeiten versetzt, wo die Phantasie beglückendere Dinge ausstellte als der Supermarkt.

Mit einer traurigen Szene im Supermarkt allerdings bekommt dieses Idyll im Gebirge von Anfang an einen trauerumflorten Hintergrund. Die Erzählung hat zwar mit dem Tod der älteren Schwester ein Ende, eigentlich aber doch keine Handlung. Der feste Bestand der Tatsachen löst sich in der Erinnerung der jüngeren Schwester an die ältere in seine Teile, in Gesten, Winke, Blicke auf. Doch das in die Tiefe hinabtauchende Gedächtnis bringt einen Bodensatz aus unverdaulichen Brocken empor, die die Tränenflut von den scheinbar festen Ingredienzien der Schwestern- und Elternliebe abtaut. Von der genauen, reizvollen Beschreibung kindlicher Spiele und Neigungen schreitet der Text fort zu einer kühlen Katalogisierung von Familienglück und -leid. Die rosige Vergangenheit wird durch banale Ereignisse eingetrübt, die wenig zu bedeuten scheinen und erst nach dem Tod zu Symptomen werden: durch unentwegte Anrufe etwa von Vater, Mutter, Schwester, die sich von einer Bedrückung befreien wollen und nur die ihnen entgegengebrachte Abneigung steigern; die Hilfsbereitschaft der Großeltern, die sich als Machtergreifung erweist; die aufdringliche Hilflosigkeit der Kranken, die Sorge bei der Mutter, Eifersucht bei der Schwester bewirkt. Dieses Aufschäumen von Lebensschmutz verändert die Sprache der Erzählung: Die Sätze werden kurzatmig - so asthmatisch fast wie der Atem der Schwester - und treiben die Erinnerung um wie einen Mahlstrom. Erst bewegen sich Glück und Leid nebeneinander her, dann vermischen sie sich und lösen sich schließlich ganz ineinander auf.

Die Kindheit ist ein Lieblingsthema des deutschen Romans, das sich, von den Brüdern Grimm bis zu Freud, jeweils aus verschiedenen Quellen speist. In den letzten Jahrzehnten gab die Psychoanalyse das Erzählmodell ab, und in der Literatur von Frauen scheint es seine letzte Position zu verteidigen. Keto von Waberer umkreist die Kindheit; analytisch wird ihr Buch nie. Die Erinnerung fördert Bilder zutage, traurige, erschreckende sogar, doch will der Kopf von ihrer Entstehung nichts wissen. Die unscheinbaren Vorfälle gewinnen gerade dadurch ihren Reiz, daß sie immer Bild bleiben und niemals zur Ursache einer bestimmten Lebensäußerung degradiert werden. Sofern, wie gerade zu Anfang der Erzählung, die Erfahrungen glücklich sind, entsteht ein Idyll, das an die Romane des neunzehnten Jahrhunderts und noch an die Kindheitserzählungen eines Hermann Lenz erinnert. Doch die Vernunft, die die zurückgebliebene Schwester zu wahren sucht, wird immer mehr von Depressionen aufgesogen. Nie aber fragt die Überlebende nach den Ursachen ihrer Trauer. Statt in der Psychoanalyse sucht sie Trost in spiritistischen Veranstaltungen, statt der Sitzung mit dem Analytiker wählt sie die Séance. Die Autorin umgeht den psychologischen Roman, ironisiert ihn geradezu durch die Anspielung auf Motive der Schauernovelle. Keto von Waberers Geschichte ist eine Gewissenserforschung, die der christlichen Beichte nähersteht als der modernen Psychologie: "Sie war das arme Ding", so stellt die kleine Schwester von der großen fest, "sie machte Sachen falsch, und ich zeigte ihr, wie man sie richtig machte. Sie war hilflos, und ich war dynamisch. Mein ganzes Leben hat sie mir mit ihrem Elend dazu verholfen, Superman sein zu dürfen." Das Sündenbekenntnis führt aber nicht zum Gefühl der Sündhaftigkeit. Die Qualität dieser Erzählung liegt nicht in der Erfüllung eines Denkmodells, sei es moralisch oder analytisch, sondern in der Eindringlichkeit, mit der Keto von Waberers Figur die Gewissenserforschung vornimmt, und in der Hartnäckigkeit, mit der die Autorin das Glück in die Enge treibt. Die Rührung über die Schwesterliebe mündet in Beklommenheit.

Keto von Waberer: "Schwester". Berlin Verlag, Berlin 2002. 168 S., geb., 16,90 [Euro].

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