Produktdetails
- Verlag: Rowohlt Taschenbuch
- ISBN-13: 9783499400148
- ISBN-10: 3499400146
- Artikelnr.: 24080065
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Schneefall als letztes Gnadenzeichen
Die Narayama-Lieder von Shichiro Fukazawa sind ein Geniestreich der modernen japanischen Literatur. Jetzt erscheinen sie in einer vorzüglichen deutschen Ausgabe, erstmals übersetzt aus der Originalsprache.
Von Kerstin Holm
Es ist eine Legende, so stark und existenziell, dass man sofort glaubt, sie stamme aus dem alten Japan, zumal sie durch zwei Verfilmungen bekannter geworden ist als ihr Autor. Dabei greift die Geschichte von den isolierten armen Bergdörflern, bei denen Menschen mit siebzig eine Reise ohne Wiederkehr antreten müssen, zwar auf mythische Überlieferungen zurück - und sie findet auch im Ethos mancher älterer Japaner ihr Echo -, doch es handelt sich um die literarische Fantasie eines Solitärs im japanischen Schrifttum, Shichiro Fukazawa (1914 bis 1987), der zur Zeit der Niederschrift im Jahr 1955 als Gitarrist in einem Tokioter Show- und Striptheater angestellt war. Der selbst in einem Bergdorf aufgewachsene Fukazawa erdichtete mit den "Narayama-Liedern" mit ethnographischer Akribie eine Gegenwelt, die er sogar mit selbst verfassten Volksweisen ausstattete. Dem Unionsverlag ist es zu verdanken, dass dieses Juwel jetzt, von Thomas Eggenberg exquisit und erstmals direkt aus dem Japanischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen sowie mit einem gehaltvollen Nachwort von Eduard Klopfenstein in einer gebührend schön gestalteten Ausgabe vorliegt.
Die Erzählung spielt in einer rauen, von aller Welt abgeschnittenen Region, wo die permanente Nahrungsknappheit alle Sitten und Gebräuche bestimmt. Diebstahl von Lebensmitteln wird hart geahndet; um die Zahl der Esser zu drücken, gilt das Gebot, spät zu heiraten; man tötet überzählige Neugeborene. Vor allem aber haben Menschen mit Erreichen des siebzigsten Lebensjahres die Pflicht, den heiligen Berg Narayama zu erklimmen, um dort zu sterben. In der Mangelökonomie wird der Verzicht auf Lebenszeit zum Akt der Solidarität - weshalb man Fukuzawas Text heute auch als Parabel auf Verteilungsgerechtigkeit unter Bedingungen von Überbevölkerung bei schrumpfenden Ressourcen lesen kann.
Die Heldin, die 69 Jahre alte Orin, nimmt den Gang zum Narayama, den vor ihr schon ihre Mutter und die Schwiegermutter beschritten haben, als gesetzmäßiges Finale des ihr zugemessenen Daseins, das in Würde zu absolvieren ist, weshalb sie sich gewissenhaft darauf vorbereitet. Sie richtet den traditionellen Abschiedsschmaus zu, findet für den verwitweten Sohn eine neue Frau; sie schlägt sich sogar, um altersgemäß fragil auszusehen, in frommer Autoaggression die vermeintlich allzu gesunden Zähne aus. Doch da menschliche Vitalität sich wohl vorzugsweise in Schadenfreude äußert, macht sie sich dadurch im Dorf nur zum Gespött.
Auch die Lieder, die im Anhang mit Noten zum Mitsingen und Mitspielen angeführt sind, formulieren das Ethos der Dörfler durch vorwurfsvoll verklausulierten Spott, etwa über eine unmäßig lebenshungrige Frau, die noch ihre Urenkel erlebt, oder über die sechs Wurzeln - ein Echo auf die buddhistische Lehre von den Sinnen -, die den Menschen an die Außenwelt ketten und die von dieser "reinzuwaschen" seien. Umso ungenierter fordern die Jungen ihr Recht: der frühreife Enkel, der Orin zur frühzeitigen Narayama-Besteigung drängt und sich mit sechzehn eine Frau nimmt, deren Appetit die Vorratshaltung der Familie bedroht; oder der Sohn des siebzig Jahre alten Nachbarn, der seinen sich gegen die letzte Reise sträubenden Vater fesseln muss, um ihn fortzubringen.
In dieser rigiden Sozialstruktur bleibt nur ein geringer Freiraum für individuelles Verhalten, das Fukazawa umso feiner herausarbeitet. So bedrängt Orins Sohn die Mutter, den Gang zum Narayama doch aufzuschieben, und vergießt, als diese das zurückweist, heimliche Tränen. Später wird er gegen das Blick- und Redeverbot, das ihm als Begleitperson auferlegt ist, wiederholt verstoßen. Orin aber tadelt den verzweifelten Nachbarn, der in Todesangst zu ihrer Hütte flieht, und redet ihm ins Gewissen, er solle nicht alle Bande zu Gott und der Gesellschaft zerreißen.
Der Aufstieg zum Narayama, der zu einer Art physisch vollzogenen Himmelfahrt wird, folgt den Stationen beim Besuch einer shintoistischen Kultstätte. Nach dem Verlassen der bewohnten Welt erreichen Orin und ihr Sohn einen kleinen See, was der Wasserstelle zur rituellen Reinigung vor einem Schreinbesuch entspricht. Danach führt ihr Weg sie über drei Steinstufen an Bergen und einer tiefen Schlucht vorbei zum heiligen Gipfel. Hier beginnt der Bezirk der Toten, der mit der gleichen lapidaren Drastik geschildert wird wie zuvor die Kleindramen der Dörfler. Doch während es den Sohn insbesondere vor den allgegenwärtigen Krähen schaudert, strebt Orin nur zu einem noch "freien" Platz. Als es plötzlich zu schneien beginnt und die Krähen verschwinden, begreift er den Sinn des alten Liedes, das Schneefall am Gipfel als besonderen Glücksfall für Narayama-Reisende preist. Und als er auf dem Rückweg Zeuge wird, wie der alte Nachbar von seinem Sohn in die Schlucht gestürzt wird, erscheint der freiwillige Abgang von Orin in geradezu strahlendem Licht.
Fukazawa verarbeitete in der Erzählung auch sein Erlebnis mit der eigenen kranken Mutter, mit der er zusammengewohnt hatte und die er kurz vor ihrem Tod auf dem Rücken über die Felder trug, weil sie den Wunsch hatte, die aufkeimende Saat zu sehen. Die Last habe wie Feuer auf seinem Rücken gebrannt, bezeugte der Autor, und als er umkehren wollte, habe sie nur stumm die Hand ausgestreckt und ihn so aufgefordert, immer weiterzugehen.
Fukazawa, der das geruhsame Alter, das ihm selbst trotz seiner schwachen Gesundheit zuteilwurde, als "Herumtrödeln auf dem Weg zur Unterwelt" bezeichnete, scheint selbst keine Angst vor dem Tod gehabt und sich früh auf seinen eigenen Narayama-Aufstieg vorbereitet zu haben. Er habe, bekannte er schon 1970 in einem Interview, auf einem Berggipfel nahe Tokio ein Grab für sich gekauft und sich auch schon bei seinen künftigen Nachbarn mit kleinen Geschenken empfohlen.
Shichiro Fukazawa: "Die Narayama-Lieder". Roman.
Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Nachworte von Thomas Eggenberg und Eduard Klopfenstein. Unionsverlag, Berlin 2021. 123 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Narayama-Lieder von Shichiro Fukazawa sind ein Geniestreich der modernen japanischen Literatur. Jetzt erscheinen sie in einer vorzüglichen deutschen Ausgabe, erstmals übersetzt aus der Originalsprache.
Von Kerstin Holm
Es ist eine Legende, so stark und existenziell, dass man sofort glaubt, sie stamme aus dem alten Japan, zumal sie durch zwei Verfilmungen bekannter geworden ist als ihr Autor. Dabei greift die Geschichte von den isolierten armen Bergdörflern, bei denen Menschen mit siebzig eine Reise ohne Wiederkehr antreten müssen, zwar auf mythische Überlieferungen zurück - und sie findet auch im Ethos mancher älterer Japaner ihr Echo -, doch es handelt sich um die literarische Fantasie eines Solitärs im japanischen Schrifttum, Shichiro Fukazawa (1914 bis 1987), der zur Zeit der Niederschrift im Jahr 1955 als Gitarrist in einem Tokioter Show- und Striptheater angestellt war. Der selbst in einem Bergdorf aufgewachsene Fukazawa erdichtete mit den "Narayama-Liedern" mit ethnographischer Akribie eine Gegenwelt, die er sogar mit selbst verfassten Volksweisen ausstattete. Dem Unionsverlag ist es zu verdanken, dass dieses Juwel jetzt, von Thomas Eggenberg exquisit und erstmals direkt aus dem Japanischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen sowie mit einem gehaltvollen Nachwort von Eduard Klopfenstein in einer gebührend schön gestalteten Ausgabe vorliegt.
Die Erzählung spielt in einer rauen, von aller Welt abgeschnittenen Region, wo die permanente Nahrungsknappheit alle Sitten und Gebräuche bestimmt. Diebstahl von Lebensmitteln wird hart geahndet; um die Zahl der Esser zu drücken, gilt das Gebot, spät zu heiraten; man tötet überzählige Neugeborene. Vor allem aber haben Menschen mit Erreichen des siebzigsten Lebensjahres die Pflicht, den heiligen Berg Narayama zu erklimmen, um dort zu sterben. In der Mangelökonomie wird der Verzicht auf Lebenszeit zum Akt der Solidarität - weshalb man Fukuzawas Text heute auch als Parabel auf Verteilungsgerechtigkeit unter Bedingungen von Überbevölkerung bei schrumpfenden Ressourcen lesen kann.
Die Heldin, die 69 Jahre alte Orin, nimmt den Gang zum Narayama, den vor ihr schon ihre Mutter und die Schwiegermutter beschritten haben, als gesetzmäßiges Finale des ihr zugemessenen Daseins, das in Würde zu absolvieren ist, weshalb sie sich gewissenhaft darauf vorbereitet. Sie richtet den traditionellen Abschiedsschmaus zu, findet für den verwitweten Sohn eine neue Frau; sie schlägt sich sogar, um altersgemäß fragil auszusehen, in frommer Autoaggression die vermeintlich allzu gesunden Zähne aus. Doch da menschliche Vitalität sich wohl vorzugsweise in Schadenfreude äußert, macht sie sich dadurch im Dorf nur zum Gespött.
Auch die Lieder, die im Anhang mit Noten zum Mitsingen und Mitspielen angeführt sind, formulieren das Ethos der Dörfler durch vorwurfsvoll verklausulierten Spott, etwa über eine unmäßig lebenshungrige Frau, die noch ihre Urenkel erlebt, oder über die sechs Wurzeln - ein Echo auf die buddhistische Lehre von den Sinnen -, die den Menschen an die Außenwelt ketten und die von dieser "reinzuwaschen" seien. Umso ungenierter fordern die Jungen ihr Recht: der frühreife Enkel, der Orin zur frühzeitigen Narayama-Besteigung drängt und sich mit sechzehn eine Frau nimmt, deren Appetit die Vorratshaltung der Familie bedroht; oder der Sohn des siebzig Jahre alten Nachbarn, der seinen sich gegen die letzte Reise sträubenden Vater fesseln muss, um ihn fortzubringen.
In dieser rigiden Sozialstruktur bleibt nur ein geringer Freiraum für individuelles Verhalten, das Fukazawa umso feiner herausarbeitet. So bedrängt Orins Sohn die Mutter, den Gang zum Narayama doch aufzuschieben, und vergießt, als diese das zurückweist, heimliche Tränen. Später wird er gegen das Blick- und Redeverbot, das ihm als Begleitperson auferlegt ist, wiederholt verstoßen. Orin aber tadelt den verzweifelten Nachbarn, der in Todesangst zu ihrer Hütte flieht, und redet ihm ins Gewissen, er solle nicht alle Bande zu Gott und der Gesellschaft zerreißen.
Der Aufstieg zum Narayama, der zu einer Art physisch vollzogenen Himmelfahrt wird, folgt den Stationen beim Besuch einer shintoistischen Kultstätte. Nach dem Verlassen der bewohnten Welt erreichen Orin und ihr Sohn einen kleinen See, was der Wasserstelle zur rituellen Reinigung vor einem Schreinbesuch entspricht. Danach führt ihr Weg sie über drei Steinstufen an Bergen und einer tiefen Schlucht vorbei zum heiligen Gipfel. Hier beginnt der Bezirk der Toten, der mit der gleichen lapidaren Drastik geschildert wird wie zuvor die Kleindramen der Dörfler. Doch während es den Sohn insbesondere vor den allgegenwärtigen Krähen schaudert, strebt Orin nur zu einem noch "freien" Platz. Als es plötzlich zu schneien beginnt und die Krähen verschwinden, begreift er den Sinn des alten Liedes, das Schneefall am Gipfel als besonderen Glücksfall für Narayama-Reisende preist. Und als er auf dem Rückweg Zeuge wird, wie der alte Nachbar von seinem Sohn in die Schlucht gestürzt wird, erscheint der freiwillige Abgang von Orin in geradezu strahlendem Licht.
Fukazawa verarbeitete in der Erzählung auch sein Erlebnis mit der eigenen kranken Mutter, mit der er zusammengewohnt hatte und die er kurz vor ihrem Tod auf dem Rücken über die Felder trug, weil sie den Wunsch hatte, die aufkeimende Saat zu sehen. Die Last habe wie Feuer auf seinem Rücken gebrannt, bezeugte der Autor, und als er umkehren wollte, habe sie nur stumm die Hand ausgestreckt und ihn so aufgefordert, immer weiterzugehen.
Fukazawa, der das geruhsame Alter, das ihm selbst trotz seiner schwachen Gesundheit zuteilwurde, als "Herumtrödeln auf dem Weg zur Unterwelt" bezeichnete, scheint selbst keine Angst vor dem Tod gehabt und sich früh auf seinen eigenen Narayama-Aufstieg vorbereitet zu haben. Er habe, bekannte er schon 1970 in einem Interview, auf einem Berggipfel nahe Tokio ein Grab für sich gekauft und sich auch schon bei seinen künftigen Nachbarn mit kleinen Geschenken empfohlen.
Shichiro Fukazawa: "Die Narayama-Lieder". Roman.
Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Nachworte von Thomas Eggenberg und Eduard Klopfenstein. Unionsverlag, Berlin 2021. 123 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main