Großartiger Roman: Befreiung aus der dörflichen und patriarchalischen Enge
In „Schwimmen im Glas“ erzählt Eva Lugbauer die Geschichte von Lore, die mit ihren beiden Brüdern in den 90er Jahren behütet in einem Dorf aufwächst. Ihr Vater ist Bürgermeister, ihre Mutter Teilzeit-Sekretärin im
Pfarramt. Lore hat ein sehr enges Verhältnis zu ihren Großeltern. Da herrschen aber auch strenge Regeln,…mehrGroßartiger Roman: Befreiung aus der dörflichen und patriarchalischen Enge
In „Schwimmen im Glas“ erzählt Eva Lugbauer die Geschichte von Lore, die mit ihren beiden Brüdern in den 90er Jahren behütet in einem Dorf aufwächst. Ihr Vater ist Bürgermeister, ihre Mutter Teilzeit-Sekretärin im Pfarramt. Lore hat ein sehr enges Verhältnis zu ihren Großeltern. Da herrschen aber auch strenge Regeln, vor allem dem Großvater „ist vieles nicht recht“ und die Großmutter ist gefangen in den damaligen sozialen Strukturen und festgeschriebenen Geschlechterrollen. Auch Lore ist ständig damit konfrontiert, was sie als Mädchen darf und nicht darf, was Jungen können und Mädchen nicht, wie Mädchen sein sollen und wie nicht.
Und dann gibt es da noch Tante Ursula, die ohne Mann „als Emanze“ in der Stadt lebt, als Lehrerin und Künstlerin arbeitet. Wenn sie mal zu Besuch aufs Land kommt, sorgt das jedes Mal für Diskussionen im Familienkreis, da sie mit ihren aufgeklärten Ansichten regelmäßig aneckt. Doch Lore ist fasziniert von Ursula; sie besucht sie regelmäßig in der Stadt und lernt dort eine ganz neue Welt kennen.
Eva Lugbauer spricht aus der Perspektive der heranwachsenden Lore, aus Sicht der 10- bis 12jährigen, dazwischen gibt es Einschübe mit einem Blick aufs Leben der erwachsenen Lore. Diese Erzählweise fand ich sehr schön gemacht und meisterhaft gelungen.
Der Schreibstil von Eva Lugbauer ist etwas ganz Besonderes, ihr Erzählweise gefällt mir ausgesprochen gut. Man konnte die Stimmung in Lores Kindheit sehr gut nachfühlen, alles war sehr authentisch und greifbar dargestellt: Die bedrückende Enge des Dorfes und die patriarchalen Strukturen, die Allmacht des Großvaters und die Oberhand der Männer im Allgemeinen. Stellenweise war ich direkt in meine eigene Kindheit im Dorf zurückversetzt, in die typischen ländlichen Denkweisen und Regeln, weshalb mich das Buch vielleicht ganz besonders berührt und bewegt hat.
Ich bin restlos begeistert von diesem berührenden und eindrücklichen Roman.
Das ist schon jetzt eines meiner Jahres-Highlights!
"Lore sucht. Und sie wartet. Worauf? Dass der Großvater nach ihr ruft, wie er nach Samuel gerufen hat? Komm, hilf mir, Lore. Schlag einen Nagel ein. Schmirgle die Späne ab. Bring mir den Leim. Bauen wir das Kreuz. Wir. Und ich erzähle Dir, was vor neunundvierzig Jahren gewesen ist. Aber niemand ruft. Lore ist, als hätte sich eine Glaswand quer über die Wiese geschoben. Zwischen ihr und dem Großvater, ihr und dem Bruder, ihr und den Männern ist diese unsichtbare Wand und Lore kommt nicht durch, kann nur zusehen aus der Ferne, kann nur stehen und betrachten, kann nur warten."
"Fest steht, die Jungfrau Maria ist besonders für die Frauen da. Das sagt die Großmutter. Wenn eine Frau bete, dann müsse sie nicht sofort zum Chef, sprich Herrgott rennen. Außer es sei wirklich wichtig. Wenn es nur mittelwichtig sei, könne sie es fürs erste bei der Frau, der Himmelmutter versuchen. Die würde dann mit dem Mann, dem Himmelvater reden. Der Herrgott habe schließlich genug zu tun und wohl meistens Wichtiges."
"Lore schließt die Augen, wünscht sich, von der Musik verschluckt zu werden. Von einer Wand verschluckt zu werden. Von der Welt verschluckt zu werden oder vom All. Er kommt immer wieder, dieser Wunsch: Verschwinden. Du willst nichts werden. Du willst sein. Sein, wie du bist. Aber wie bist du? Du bist in dir gefangen. Du willst aus dir hinaus. Aber wo ist der Ausgang?"
"Lore bleibt einen Augenblick stehen, betrachtet das Großelternhaus von außen. Es steht hier, denkt sie, als wäre es schon immer hier gestanden, als würde es nicht zerfallen, als wäre die Mauer unzerstörbar. Aber ist es nicht viel mehr als eine Mauer, dieses Haus? Eine Mauer mit Fenstern, Balkon und einem Dach? Das Haus ist Vergangenheit, Erinnerung und Speicher, Hirn. Es ist: Alle Gedanken, die darin geschwebt sind, alle Sätze, die darin gesprochen wurden, gemurmelt, geflüstert oder verschwiegen, vergessen, nicht gesagt. Alle Berührungen, die darin stattgefunden oder nicht stattgefunden haben, alle Fingerzeige und Zärtlichkeiten. Gestik. Mimik. All das hat dich gemacht, denkt Lore. Aber wie genau geht es, dieses Gemachtwerden? Welche Sätze, Gedanken, Gesten, Fingerzeige und Zärtlichkeiten sind es gewesen, die sie geformt haben?"
„Du wirst dreißig, vierzig, fünfundvierzig und die Sehnsucht nach dem Meer bleibt. Die Sehnsucht nach dem Blau. Die Sehnsucht nach der Freiheit auch. Auch wenn du längst weißt, dass Freiheit eine Illusion ist, unmöglich, ohne in der Einsamkeit zu versinken. Und selbst wenn du dich für die Freiheit der Einsamkeit entscheiden würdest, hättest du deinen Körper, hättest du die Erde, die Wolken und den Himmel, von denen du abhängst. An die du gebunden bis, mit denen du verbunden bist. Auch wenn du längst weißt, das Blau gibt es nicht ohne das Schwarz.“
"Weil nichts ist, und alles wird. Weil alles ein ständiges Werden ist."