»Der dicke Mann besaß weder einen Meistertitel, der ihm von der Schachvereinigung verliehen worden war, noch nahm er an internationalen Turnieren teil. Er spielte einfach nur gerne Schach. Aber er hatte intuitiv die Bedeutung des Spiels erfasst. Für ihn ging es nie darum, den König des Gegners in
die Enge zu treiben, sondern die Schönheit des Spiels zu genießen. Denn die Gabe, in einzelnen…mehr»Der dicke Mann besaß weder einen Meistertitel, der ihm von der Schachvereinigung verliehen worden war, noch nahm er an internationalen Turnieren teil. Er spielte einfach nur gerne Schach. Aber er hatte intuitiv die Bedeutung des Spiels erfasst. Für ihn ging es nie darum, den König des Gegners in die Enge zu treiben, sondern die Schönheit des Spiels zu genießen. Denn die Gabe, in einzelnen Schachzügen die Klangfarbe einer Violine zu erkennen oder das Spektrum des Regenbogens oder eine Philosophie, die kein noch so genialer Kopf mit Worten beschreiben kann, ist etwas anderes, als bloß eine Partie zu gewinnen.«
Diese sehr poetische Geschichte schildert das Leben eines zu Beginn der Handlung 7 Jahre alten Jungen, der in armen Verhältnissen bei den Großeltern aufwächst. Der Junge ist ein einsames Kind, ein Außenseiter, der sich - hochsensibel und mit einer großen Phantasie ausgestattet - regelmäßig in eine Traumwelt zurückzieht, zu der auch eine imaginäre Freundin (»Niemand konnte so gut erklären wie sie.«) und ein zeitlebens gefangener Elefant gehören. In einem alten Eisenbahnwaggon lehrt ihn ein "dicker Mann" das Schachspielen und damit verbunden eine ganz besondere Lebensphilosophie - beides wird von nun an im Zentrum seines Lebens stehen und ihm den Namen "Der kleine Aljechin" (nach dem Schachweltmeister) einbringen.
Puh, was für ein trauriges Buch! Leise und unaufgeregt erzählt die Autorin eine Geschichte, die mir manches Mal die Kehle zuschnürte. Was ich bewundert habe, war die wunderbare Sprache und die Art, das Leben als großes Schachspiel darzustellen und alle möglichen Geschehnisse wie Schachzüge zu beschreiben. Wie ein Schachspiel zur Lebensphilosophie werden kann, konnte ich mir zuvor nicht vorstellen, sollte man am besten selber lesen. Ich glaube aber, dass es für das Leseverständnis gut ist, wenn man zumindest die Grundbegriffe des Spiels kennt - es könnte doch an der ein oder anderen Stelle sonst vielleicht ein wenig zu abstrakt werden.
Ohnehin ist es nicht einfach (jedenfalls empfand ich es so), sich in das geduldige Ertragen seines Schicksals, wie es der Junge lebt, einzufühlen. Ich hätte ihn gerne manches Mal geschüttelt und gerufen: "Steh auf! Du bist so ein intelligentes Kerlchen! Versuch doch, aus deinem Leben etwas zu machen!" Aber seine Psyche ist eine recht komplizierte. In den Grenzen, die ihm das Leben gesetzt hat, fühlt er sich gefangen. Andererseits gibt ihm dieses Gefangensein ein Gefühl der Sicherheit, da ihm in Ermangelung von Alternativen nichts anderes übrig bleibt, als sich in das hineinzufinden, was das Schicksal scheinbar für ihn vorgesehen hat. Und so traurig mir die Geschichte auch vorkommt, der Junge selbst (ja, er bleibt bis zum Ende namenlos) ist zufrieden, wenn er in den Ozean des Schachs eintauchen kann und bleibt sich und seinen Werten treu. Am Ende behält man ihn als guten Menschen in Erinnerung, während bei diversen Personen, die seinen Weg im Laufe seines Lebens kreuzten, ganz deutlich wird, wie sie seine Duldsamkeit ausnutzen und sich durch ihn bereichern.
Fazit: Ganz klar ein besonderes Buch. Interessante Thematik, sehr poetisch aber auch tieftraurig.
»Aber der Mann führte den Jungen auf den Ozean des Schachs hinaus, wo er ihn lehrte, nur sich selbst zu vertrauen und eigene Spuren zu hinterlassen, ohne dabei vor Abgründen und gefährlichen Strömungen zurückzuweichen.«