»Zweifellos einer der herausragendsten spanischen Autoren der Gegenwart.« Die Zeit
In Lissabon, einer der schönsten Städte der Welt, kreuzen sich zwei Lebenswege: James Earl Ray, der als Attentäter von Martin Luther King Schlagzeilen machte, ist auf der Flucht vor der Polizei. Und der passionierte Spaziergänger Antonio Muñoz Molina, der dreißig Jahre später dort an einem seiner wichtigsten Romane arbeitet, auf der Suche nach sich selbst und seinem Schreiben. Die Stadt am Atlantik wird zum Umschlagplatz von Leben, Geschichte und Literatur.
Durchzogen von der vibrierenden Atmosphäre Lissabons und klugen Reflexionen über das Schreiben, klingt »Schwindende Schatten« wie ein guter Jazzsong, wie eine Mischung aus absoluter Kontrolle und Improvisation, aus Leichtigkeit und Tiefe.
In Lissabon, einer der schönsten Städte der Welt, kreuzen sich zwei Lebenswege: James Earl Ray, der als Attentäter von Martin Luther King Schlagzeilen machte, ist auf der Flucht vor der Polizei. Und der passionierte Spaziergänger Antonio Muñoz Molina, der dreißig Jahre später dort an einem seiner wichtigsten Romane arbeitet, auf der Suche nach sich selbst und seinem Schreiben. Die Stadt am Atlantik wird zum Umschlagplatz von Leben, Geschichte und Literatur.
Durchzogen von der vibrierenden Atmosphäre Lissabons und klugen Reflexionen über das Schreiben, klingt »Schwindende Schatten« wie ein guter Jazzsong, wie eine Mischung aus absoluter Kontrolle und Improvisation, aus Leichtigkeit und Tiefe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2019Der Hochstapler schoss vom Badewannenrand
Mit seinem Roman "Schwindende Schatten" spürt Antonio Muñoz Molina den Mörder von Martin Luther King auf
Es war einer der spektakulärsten, bis heute von Verschwörungstheorien umsponnenen Mordfälle der sechziger Jahre. Er führte zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen, mit Tausenden Verletzten und 39 Toten; über 20 000 Menschen wurden verhaftet. Am 4. April 1968 wurde der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King auf dem Balkon des Lorraine Motel in Memphis erschossen. Der Attentäter James Earl Ray ist die obsessiv umkreiste Hauptfigur im neuen Roman von Antonio Muñoz Molina. Mit dem Buch war der dreiundsechzigjährige spanische Schriftsteller im vergangenen Jahr für den Man Booker International Prize nominiert.
Wie in Zeitlupe beschreibt Molina die Minuten vor und nach dem Schuss aus dem Badezimmerfenster einer gegenüber dem Motel liegenden Absteige. Er schildert die anfangs unbehelligte, wenn auch panische Flucht des Mörders und später die weltweite Fahndung. Und er rekonstruiert das Leben Rays, der als neuntes Kind eines kleinkriminellen Säuferpaars ein geborener Verlierer war. Früh beging er Betrügereien und bewaffnete Raubüberfälle, bis er 1960 wegen notorischer Rückfälligkeit zu zwanzig Jahren Haft im Bundesgefängnis von Missouri verurteilt wurde. 1967 gelang ihm die Flucht. Fortan wechselte er die falschen Namen so oft wie seine Aufenthaltsorte, nannte sich Eric Starvo Galt, Harvey Lowmeyer oder Ramon Sneyd, lebte mal in Kanada, mal am Golf von Mexiko, übte Gelegenheitsjobs aus, besuchte eine Barkeeper-Schule, nahm Tanzstunden, verbrachte Zeit mit Prostituierten und Geliebten und plante eine Karriere als Pornoregisseur. Keineswegs uneitel, unterzog er sich einer Schönheitsoperation, trug einen Maßanzug und Krokodillederschuhe. Neben Kriminalromanen las er bevorzugt Bücher über Parapsychologie und Hypnosetechniken. Er gab sich als Schiffsbauingenieur oder Schriftsteller aus; von manchen wurde der Eigenbrötler für einen Professor gehalten. Andere fanden ihn so unscheinbar, dass er "förmlich mit der Tapete verschmolzen" sei.
Molina sammelt viele Aussagen von Menschen, die Ray vor und nach der Tat begegneten, als Teile eines riesigen Puzzles, aus dem sich aber kein einheitliches Bild ergibt. Es sind Zeugnisse eines chamäleonhaften Wesens, eines Phantoms, das überall auf der Welt von übereifrigen Zeugen gesehen worden sein will. Ray selbst stellte sich gern vor, er sei eine Figur aus einem James-Bond-Roman oder aus einem Lied von Johnny Cash. Sein unbefriedigter Ehrgeiz richtete sich schließlich darauf, einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt zu sein. Der Rassen-Konflikt wurde zur Bühne seines Geltungsdrangs. Gierig durchforschte er die Zeitungen nach Meldungen über sich selbst.
Dass diese schimärische Existenz auf einen Schriftsteller große Faszination ausübt, liegt auf der Hand. Ray verkörpert das, was Autoren als Kunst betreiben: Er erfindet und erprobt ständig neue Identitäten, lebt im Modus des Fiktiven. Kaum erstaunlich also, dass sich Molinas akribische Verfolgung der Lebensspuren des Attentäters so liest, als wäre er von dessen Verwandlungen und Verstellungspraktiken kollegial in den Bann gezogen. Es ergibt sich so eine irritierende Nähe, die literarisch einen positiven Effekt hat. Sie verhindert, dass die Darstellung zum politisierenden Lehrstück aus allzu sicherer Distanz wird, mit Ray als Musterbeispiel des White Trash: ein abgehängter, perspektivloser Mann, der seine Frustration transformiert in tödlichen Rassenhass. Ray entspricht dem Gespenst, das derzeit in fortschrittlichen Kreisen umgeht: der provinzielle Kerl, an dem jede zivilgesellschaftliche Ambition und jede universalistische Pädagogik verloren ist.
All dies sind Aspekte, durch die der detailversessen erzählte Roman eine beklemmende Aktualität gewinnt. Ungewöhnlich ist seine Konstruktion. Molina beschreibt, wie er vor einigen Jahren nach Lissabon reiste, um die zehn Tage zu rekonstruieren, die Ray dort verbrachte, bevor er in London verhaftet wurde. Seine Wanderungen durch die Stadt förderten aber auch Erinnerungen an seinen eigenen ersten Aufenthalt dort herauf, als er Mitte der achtziger Jahre seinen zweiten Roman "Der Winter in Lissabon" schrieb und die Stadt, die er bis dahin noch nicht kannte, auf der Suche nach Schauplätzen und atmosphärischen Details durchstreifte.
Die autobiographische Selbstvergewisserung läuft als zweiter Handlungsstrang nebenher und dient Molina dazu, gründlich über die Literatur und das Schreiben zu reflektieren. Die beiden Handlungsstränge haben, abgesehen vom Schauplatz Lissabon, zwar auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun; dennoch ergeben sich motivische Querverbindungen, etwa wenn Molina schildert, wie er selbst damals zwischen den "Identitäten" wechselte: der Beamte, der die Büroarbeit als Last empfand; der junge Vater, der seine Frau oft mit den Familienaufgaben allein ließ; der trinkfreudige Nachtschwärmer auf seinen Streifzügen durch Literaten-Bars und Jazzclubs; der Schriftsteller, der an den ersten Werken laborierte.
Molina erzählt nicht chronologisch, sondern kreisend; zentrale Szenen kehren in Variationen und neuen Kontexten wieder. Das erzeugt eine Wirkung des Monomanischen. Immer wieder befinden wir uns in jenem schaurig-schäbigen Badezimmer, aus dem Ray, in einer Badewanne stehend, auf Martin Luther King schoss. Immer wieder durchleben wir die ritualisierten Alltage des Mannes, der von Tausenden FBI-Beamten und ebenso vielen Zwangsideen verfolgt wird. In jeder Stadt führt ihn sein Instinkt in die Hafenviertel, zu den Kaschemmen und Bordellen. Sehr atmosphärisch vermittelt Molina die anrüchigen Gegenden mit ihren "Versprechen von Spaß und Zerstreuung". Fabelhaft sind seine Beschreibungen Lissabons.
Es ist staunenswert, wie er es schafft, mit seinem entspannten, in eleganten Satzperioden ausschwingenden Parlando-Stil diese Intensität der Wahrnehmung und des Gefühls zu erzeugen. Molina liebt den Jazz; die Musik gibt ihm sein künstlerisches Ideal vor mit "ihrer Mischung aus Disziplin und Hingabe, aus virtuosem technischem Können und Improvisation, Leichtigkeit und Tiefe, Tempo und Verzögerung. So sollte das klingen, was ich schrieb, manchmal gradlinig und andere Male auf Umwegen, auf denen ich mich zu verlaufen drohte." Genau so liest sich dieser Roman. An der Hingabe und dem Können besteht kein Zweifel, aber auch nicht an der Gefahr, sich zu verlaufen. Zwischenzeitlich wird weniger ergiebig herumgedudelt, und manche Motive werden zu oft wiederholt.
Nach dem etwas verplapperten Mittelteil packt Molina die Leser aber wieder mit seiner Erzählkunst. Endlich kommt die überfällige Gegenperspektive ins Spiel. In einem Bewusstseinsstrom erleben wir die letzten Minuten des nicht nur mit den gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch mit der Resignation kämpfenden Martin Luther King, bevor die Kugel sein Kinn und Rückgrat durchschlägt. Auch wenn immer wieder Kriminalfälle die Handlung von Molinas Romanen bestimmen - Spannung entsteht in ihnen nicht aus Gewaltausbrüchen und ungeklärten Täterfragen, sondern aus der außerordentlichen Fähigkeit dieses Schriftstellers, seinen Figuren unter die Haut zu kriechen. Die fünfzig Seiten über den Bürgerrechtler sind ein Musterbeispiel dafür. Man könnte einwenden, dass ein solches Lebensresümee in den letzten Lebensaugenblicken sehr belletristisch anmute; Kritiker auf der Höhe des Rassismusdiskurses könnten diese Introspektion zudem als anmaßend oder als inneres "Blackfacing" empfinden.
Aber solche Einwände zerfallen angesichts der Meisterschaft, mit der uns der Schriftsteller in die geplagte Seele eines Menschen führt, der in seiner Erschöpfung bereits Todesgedanken hegt. Gute Literatur kann das; Antonio Muñoz Molina kann das.
WOLFGANG SCHNEIDER
Antonio Muñoz Molina: "Schwindende Schatten". Roman.
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Penguin, München 2019. 512 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit seinem Roman "Schwindende Schatten" spürt Antonio Muñoz Molina den Mörder von Martin Luther King auf
Es war einer der spektakulärsten, bis heute von Verschwörungstheorien umsponnenen Mordfälle der sechziger Jahre. Er führte zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen, mit Tausenden Verletzten und 39 Toten; über 20 000 Menschen wurden verhaftet. Am 4. April 1968 wurde der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King auf dem Balkon des Lorraine Motel in Memphis erschossen. Der Attentäter James Earl Ray ist die obsessiv umkreiste Hauptfigur im neuen Roman von Antonio Muñoz Molina. Mit dem Buch war der dreiundsechzigjährige spanische Schriftsteller im vergangenen Jahr für den Man Booker International Prize nominiert.
Wie in Zeitlupe beschreibt Molina die Minuten vor und nach dem Schuss aus dem Badezimmerfenster einer gegenüber dem Motel liegenden Absteige. Er schildert die anfangs unbehelligte, wenn auch panische Flucht des Mörders und später die weltweite Fahndung. Und er rekonstruiert das Leben Rays, der als neuntes Kind eines kleinkriminellen Säuferpaars ein geborener Verlierer war. Früh beging er Betrügereien und bewaffnete Raubüberfälle, bis er 1960 wegen notorischer Rückfälligkeit zu zwanzig Jahren Haft im Bundesgefängnis von Missouri verurteilt wurde. 1967 gelang ihm die Flucht. Fortan wechselte er die falschen Namen so oft wie seine Aufenthaltsorte, nannte sich Eric Starvo Galt, Harvey Lowmeyer oder Ramon Sneyd, lebte mal in Kanada, mal am Golf von Mexiko, übte Gelegenheitsjobs aus, besuchte eine Barkeeper-Schule, nahm Tanzstunden, verbrachte Zeit mit Prostituierten und Geliebten und plante eine Karriere als Pornoregisseur. Keineswegs uneitel, unterzog er sich einer Schönheitsoperation, trug einen Maßanzug und Krokodillederschuhe. Neben Kriminalromanen las er bevorzugt Bücher über Parapsychologie und Hypnosetechniken. Er gab sich als Schiffsbauingenieur oder Schriftsteller aus; von manchen wurde der Eigenbrötler für einen Professor gehalten. Andere fanden ihn so unscheinbar, dass er "förmlich mit der Tapete verschmolzen" sei.
Molina sammelt viele Aussagen von Menschen, die Ray vor und nach der Tat begegneten, als Teile eines riesigen Puzzles, aus dem sich aber kein einheitliches Bild ergibt. Es sind Zeugnisse eines chamäleonhaften Wesens, eines Phantoms, das überall auf der Welt von übereifrigen Zeugen gesehen worden sein will. Ray selbst stellte sich gern vor, er sei eine Figur aus einem James-Bond-Roman oder aus einem Lied von Johnny Cash. Sein unbefriedigter Ehrgeiz richtete sich schließlich darauf, einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt zu sein. Der Rassen-Konflikt wurde zur Bühne seines Geltungsdrangs. Gierig durchforschte er die Zeitungen nach Meldungen über sich selbst.
Dass diese schimärische Existenz auf einen Schriftsteller große Faszination ausübt, liegt auf der Hand. Ray verkörpert das, was Autoren als Kunst betreiben: Er erfindet und erprobt ständig neue Identitäten, lebt im Modus des Fiktiven. Kaum erstaunlich also, dass sich Molinas akribische Verfolgung der Lebensspuren des Attentäters so liest, als wäre er von dessen Verwandlungen und Verstellungspraktiken kollegial in den Bann gezogen. Es ergibt sich so eine irritierende Nähe, die literarisch einen positiven Effekt hat. Sie verhindert, dass die Darstellung zum politisierenden Lehrstück aus allzu sicherer Distanz wird, mit Ray als Musterbeispiel des White Trash: ein abgehängter, perspektivloser Mann, der seine Frustration transformiert in tödlichen Rassenhass. Ray entspricht dem Gespenst, das derzeit in fortschrittlichen Kreisen umgeht: der provinzielle Kerl, an dem jede zivilgesellschaftliche Ambition und jede universalistische Pädagogik verloren ist.
All dies sind Aspekte, durch die der detailversessen erzählte Roman eine beklemmende Aktualität gewinnt. Ungewöhnlich ist seine Konstruktion. Molina beschreibt, wie er vor einigen Jahren nach Lissabon reiste, um die zehn Tage zu rekonstruieren, die Ray dort verbrachte, bevor er in London verhaftet wurde. Seine Wanderungen durch die Stadt förderten aber auch Erinnerungen an seinen eigenen ersten Aufenthalt dort herauf, als er Mitte der achtziger Jahre seinen zweiten Roman "Der Winter in Lissabon" schrieb und die Stadt, die er bis dahin noch nicht kannte, auf der Suche nach Schauplätzen und atmosphärischen Details durchstreifte.
Die autobiographische Selbstvergewisserung läuft als zweiter Handlungsstrang nebenher und dient Molina dazu, gründlich über die Literatur und das Schreiben zu reflektieren. Die beiden Handlungsstränge haben, abgesehen vom Schauplatz Lissabon, zwar auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun; dennoch ergeben sich motivische Querverbindungen, etwa wenn Molina schildert, wie er selbst damals zwischen den "Identitäten" wechselte: der Beamte, der die Büroarbeit als Last empfand; der junge Vater, der seine Frau oft mit den Familienaufgaben allein ließ; der trinkfreudige Nachtschwärmer auf seinen Streifzügen durch Literaten-Bars und Jazzclubs; der Schriftsteller, der an den ersten Werken laborierte.
Molina erzählt nicht chronologisch, sondern kreisend; zentrale Szenen kehren in Variationen und neuen Kontexten wieder. Das erzeugt eine Wirkung des Monomanischen. Immer wieder befinden wir uns in jenem schaurig-schäbigen Badezimmer, aus dem Ray, in einer Badewanne stehend, auf Martin Luther King schoss. Immer wieder durchleben wir die ritualisierten Alltage des Mannes, der von Tausenden FBI-Beamten und ebenso vielen Zwangsideen verfolgt wird. In jeder Stadt führt ihn sein Instinkt in die Hafenviertel, zu den Kaschemmen und Bordellen. Sehr atmosphärisch vermittelt Molina die anrüchigen Gegenden mit ihren "Versprechen von Spaß und Zerstreuung". Fabelhaft sind seine Beschreibungen Lissabons.
Es ist staunenswert, wie er es schafft, mit seinem entspannten, in eleganten Satzperioden ausschwingenden Parlando-Stil diese Intensität der Wahrnehmung und des Gefühls zu erzeugen. Molina liebt den Jazz; die Musik gibt ihm sein künstlerisches Ideal vor mit "ihrer Mischung aus Disziplin und Hingabe, aus virtuosem technischem Können und Improvisation, Leichtigkeit und Tiefe, Tempo und Verzögerung. So sollte das klingen, was ich schrieb, manchmal gradlinig und andere Male auf Umwegen, auf denen ich mich zu verlaufen drohte." Genau so liest sich dieser Roman. An der Hingabe und dem Können besteht kein Zweifel, aber auch nicht an der Gefahr, sich zu verlaufen. Zwischenzeitlich wird weniger ergiebig herumgedudelt, und manche Motive werden zu oft wiederholt.
Nach dem etwas verplapperten Mittelteil packt Molina die Leser aber wieder mit seiner Erzählkunst. Endlich kommt die überfällige Gegenperspektive ins Spiel. In einem Bewusstseinsstrom erleben wir die letzten Minuten des nicht nur mit den gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch mit der Resignation kämpfenden Martin Luther King, bevor die Kugel sein Kinn und Rückgrat durchschlägt. Auch wenn immer wieder Kriminalfälle die Handlung von Molinas Romanen bestimmen - Spannung entsteht in ihnen nicht aus Gewaltausbrüchen und ungeklärten Täterfragen, sondern aus der außerordentlichen Fähigkeit dieses Schriftstellers, seinen Figuren unter die Haut zu kriechen. Die fünfzig Seiten über den Bürgerrechtler sind ein Musterbeispiel dafür. Man könnte einwenden, dass ein solches Lebensresümee in den letzten Lebensaugenblicken sehr belletristisch anmute; Kritiker auf der Höhe des Rassismusdiskurses könnten diese Introspektion zudem als anmaßend oder als inneres "Blackfacing" empfinden.
Aber solche Einwände zerfallen angesichts der Meisterschaft, mit der uns der Schriftsteller in die geplagte Seele eines Menschen führt, der in seiner Erschöpfung bereits Todesgedanken hegt. Gute Literatur kann das; Antonio Muñoz Molina kann das.
WOLFGANG SCHNEIDER
Antonio Muñoz Molina: "Schwindende Schatten". Roman.
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Penguin, München 2019. 512 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Genuss!« SPIEGEL ONLNE, Peter Henning