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Jedes Zeitalter hat seine Krankheit. Und keine Krankheit prägte das 19. und frühe 20. Jahrhundert so sehr wie die Tuberkulose, damals bekannt als Schwindsucht. Ulrike Moser wirft anhand des zeitgenössischen politischen, medizinischen und kulturellen Umgangs mit dem Lungenleiden, das Tausende dahinraffte, einen neuen Blick auf die deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dabei rekonstruiert sie anschaulich, wie die Schwindsucht zunächst als schicksalhafte Krankheit der Genies, der Künstler und der Bohème verklärt wurde, deren Individualismus man damals wertzuschätzen begann. Sie lässt die dazu…mehr

Produktbeschreibung
Jedes Zeitalter hat seine Krankheit. Und keine Krankheit prägte das 19. und frühe 20. Jahrhundert so sehr wie die Tuberkulose, damals bekannt als Schwindsucht. Ulrike Moser wirft anhand des zeitgenössischen politischen, medizinischen und kulturellen Umgangs mit dem Lungenleiden, das Tausende dahinraffte, einen neuen Blick auf die deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dabei rekonstruiert sie anschaulich, wie die Schwindsucht zunächst als schicksalhafte Krankheit der Genies, der Künstler und der Bohème verklärt wurde, deren Individualismus man damals wertzuschätzen begann. Sie lässt die dazu erschaffene Welt der Sanatorien wieder auferstehen und schildert ihren Niedergang, der mit der Massengesellschaft eintritt. So wird die Schwindsucht während der Industrialisierung zur Krankheit der zu Sauberkeit zu erziehenden "schmutzigen Proletarier" abgewertet. Angesichts der am Horizont stehenden Radikalisierung dieses Kampfes um den gesunden Volkskörper, der später im Nationalsozialismus zu Internierungslagern und Tötungen führte, kann Thomas Manns Schwindsucht-Roman "Der Zauberberg" als letzter Auftritt der morbiden Romantik des Einzelgängers und der Schwindsucht gelten.
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Autorenporträt
Moser, UlrikeUlrike Moser, 1970 geboren, ist Historikerin und lebt in Berlin. Sie war Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeitung Die Woche. Heute schreibt sie vor allem für GEO Epoche.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.07.2018

Wie eiskalt ist dies Händchen

Immer noch sterben weltweit eine Million Menschen an ihr: Ulrike Moser schreibt eine Geschichte der Tuberkulose, die einmal als Modekrankheit in Künstlerkreisen galt.

Frédéric Chopin reiste im Herbst 1838 in der Hoffnung auf milderes Klima mit George Sand und deren Kindern nach Mallorca. Doch die nasskalte Unterkunft dort verschlimmerte seine Leiden, drei Ärzte diagnostizierten Schwindsucht, also Tuberkulose, und stellten fest: er "würde krepieren", sei bereits im Begriff dazu oder "schon krepiert".

"Ich war krank wie ein Hund", heißt es in dem makabren Brief weiter. Da die Krankheit in Spanien und Italien anders als in Frankreich als hochansteckend galt und deshalb anzeigepflichtig war, isolierte man Chopin mit seiner Begleitung in einem verlassenen Kartäuserkloster, stellte die gründliche Ausräucherung der ersten Bleibe in Rechnung, verbrannte schließlich sogar den primitiven Karren zum Hafen und brachte die kleine Gesellschaft auf einem Schweinefrachter zurück nach Barcelona. Als Chopin zehn Jahre später dem andauernden Leiden erlag, traten sich im Pariser Sterbezimmer die Abschied nehmenden Honoratioren ungeachtet der Gefahr gegenseitig auf die Füße.

Erst dreiunddreißig Jahre später entdeckte Robert Koch das Mycobacterium tuberculosis. Damit war die Krankheit aber noch längst nicht besiegt. Vor allem blieb rätselhaft, warum sie nur bei wenigen Infizierten tatsächlich ausbricht. Rudolf Virchows Zellularpathologie schuf seit 1858 zwar die Grundlagen für die neue Bakteriologie, von wirksamen Antibiotika oder gar Schutzimpfungen war man indes noch weit entfernt. Kochs eigenes "Tuberkulin", gewonnen aus Bakterienkulturen, führte 1890 ins Desaster.

Um 1900 zählte die Tuberkulose noch zu den häufigsten Todesursachen überhaupt, und sogar heute noch stirbt jährlich weltweit ein Million Menschen an dieser Krankheit. Selbst in Deutschland steigt die Zahl der Fälle seit 2012 wieder leicht an. Die Journalistin Ulrike Moser legt jetzt eine faszinierende Gesellschaftsgeschichte dieser Krankheit vor, in der es nur zu Beginn um die älteren humoralpathologischen oder miasmatischen Erklärungsversuche geht.

Zunächst zeichnet Moser vor allem die nobilitierende Modekrankheit in Künstlerkreisen seit der Romantik nach. Karl Kraus' Aperçu, "daß jede Epoche die Epidemie hat, die sie verdient", bietet dabei keinen schlechten Leitfaden. Die langsam sich entwickelnde Schwindsucht des neunzehnten Jahrhunderts ist nicht länger eine rasch vollstreckte Sündenstrafe wie im Falle der entstellenden und stigmatisierenden Lepra oder Pest des Mittelalters und der Syphilis des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Die Auszehrung der Tuberkulose wird vielmehr mit asketischer Geistigkeit und fiebriger Schöpfungskraft assoziiert, zur Symptomatologie gehören durchaus Züge sinnlicher Steigerung, aufflackernder Euphorie und Beflügelung.

Literarische Beispiele wie Lewin in "Anna Karenina", Violetta in "La Traviata", Anna in Gorkis "Nachtasyl", Fontanes Effi Briest oder Gabriele Klöterjahn in Thomas Manns "Tristan" tragen zur romantischen Verklärung der Krankheit des Novalis bei. Selbst Kafka vertraut seinem Tagebuch an, seine "Lungenwunde" sei bloß Sinnbild für jene emotionale "Entzündung F.[elice]". Schon beim bloßen Verdacht vernarbter Tuberkel und psychischer Verletzungen begibt sich die bessere europäische Gesellschaft am liebsten ins Sanatorium, einer Mischung aus exklusivem Hotel, Kloster, Wartesaal und Fluchtraum. Zur Frischluftkur in Davos hält es dabei keiner so lange aus wie die Romanfigur Hans Castorp - nicht zuletzt gefesselt durch die ebenfalls eher von Krankheitsideen heimgesuchte Madame Chauchat.

Zu den Vorzügen von Mosers Geschichte gehört im zweiten Schritt die Gegenerzählung zum verklärenden Mythos von der Schwindsucht. Die auf dem Zauberberg wie allen anderen Sanatorien nur ungern geduldeten schweren Fälle endeten nämlich ganz und gar nicht so vornehm. Außerdem suchte der Tod sich nicht einfach Künstler und Geistesaristokraten aus, sondern wütete vor allem im Industrieproletariat von Großstädten wie Berlin oder Wien. In heillos überfüllten, schlecht beheizten Wohnungen, mit zusätzlichen "Schlafgängern" im Schichtbetrieb, nistete sich die Schwindsucht neben Typhus und Cholera überall ein. Armeleutemaler wie Heinrich Zille oder Käthe Kollwitz hielten das ebenso fest wie Literaten, etwa Victor Hugo in "Die Elenden" oder Arthur Schnitzler in "Sterben".

Zum beklemmenden Tiefpunkt gelangt Mosers vorzüglich recherchierte und geschmeidig erzählte Krankheitskulturgeschichte im letzten Teil zur menschenverachtenden Gesundheitspolitik der Nationalsozialisten. Tuberkulöse wurden als asozial stigmatisiert, interniert, zum Arbeitsdienst gezwungen und für Impfexperimente missbraucht. Die am weitesten verbreitete Volkskrankheit geriet so plötzlich ins Fadenkreuz von Rassenhygiene, Volksgesundheit und Euthanasie. Schon 1923 setzt Hitler "Rassentuberkulose" und Judentum gleich.

Kurt Heißmeyer, der eine besondere Anfälligkeit für Schwindsucht bei "rassisch minderwertigen" Menschen behauptete, ließ noch im November 1944 infizierte Kinder aus Auschwitz ins Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg verlegen. Ihnen wurden Tuberkulosebakterien gespritzt oder qualvoll durch einen Schlauch in die Lunge eingeführt, sodann Lymphdrüsen für Antikörperbestimmungen entfernt. Als die Alliierten nahten, verwischte man die Spuren. Der SS-Rottenführer Frahm berichtete, man habe die Kinder im Keller einer Hamburger Schule "wie Bilder an der Wand aufgehängt".

Der Absturz vom nobilitierten Künstlerleiden der Romantiker zu Menschenexperimenten in der Zeit des Nationalsozialismus könnte schockierender nicht sein.

ALEXANDER KOSENINA

Ulrike Moser:

"Schwindsucht".

Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte.

Matthes & Seitz Verlag,

Berlin 2018.

264 S., geb., 26,- [Euro].

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