Ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis - Ein tiefgründiger, dabei humorvoller Roman über die Kraft der Kunst in dunklen Zeiten
Wie fängt man eine Zukunft an, die eigentlich schon aufgehört hat? Mit einem Streifen Meer zwischen sich und seiner Heimat, seiner Sprache, sich selbst? Kurt Schwitters ist 49, als ihn die Nationalsozialisten zur Flucht aus Hannover zwingen. Sein Erfolg, Werk, Besitz, die Eltern und seine Frau Helma bleiben zurück. Die Kunst weicht der Kunst des Überlebens. In Norwegen, London und endlich dem Lake District beginnt Schwitters' zweites Leben in fremder Sprache. Wantee, die neue Frau an seiner Seite, hält ihn auf Kurs und seinen Kopf über Wasser, selbst als der Wortkünstler verstummt. Im Merzbau hat Schwitters einen anderen Weg gefunden, um Himmel und Heiterkeit, das Funkeln der Wiesen und die Durchsichtigkeit der Luft einzufangen. Mit irrwitziger Disziplin, bis zur Erschöpfung. Wer ihn dabei beobachtet, begreift: Kunst bildet die Welt nicht nach. Sie übersetzt sie in Formen, die uns berühren.
In ihrem Roman folgt Ulrike Draesner dem Schriftsteller und bildenden Künstler Kurt Schwitters ins Exil. Es sprechen Kurt, seine Frau, sein Sohn, seine Geliebte. In einer virtuosen Mischung aus Fakten und Fiktion entsteht das Panorama einer Zeit, in der angesichts einer brennenden Welt neu um Freiheit und Kultur gerungen wird. Ein tiefgründiger, dabei humorvoller Roman über die Kraft der Kunst, darüber, wie sie entsteht und was sie vermag.
Ausstattung: Mit farbigem Poster im Umschlag
Wie fängt man eine Zukunft an, die eigentlich schon aufgehört hat? Mit einem Streifen Meer zwischen sich und seiner Heimat, seiner Sprache, sich selbst? Kurt Schwitters ist 49, als ihn die Nationalsozialisten zur Flucht aus Hannover zwingen. Sein Erfolg, Werk, Besitz, die Eltern und seine Frau Helma bleiben zurück. Die Kunst weicht der Kunst des Überlebens. In Norwegen, London und endlich dem Lake District beginnt Schwitters' zweites Leben in fremder Sprache. Wantee, die neue Frau an seiner Seite, hält ihn auf Kurs und seinen Kopf über Wasser, selbst als der Wortkünstler verstummt. Im Merzbau hat Schwitters einen anderen Weg gefunden, um Himmel und Heiterkeit, das Funkeln der Wiesen und die Durchsichtigkeit der Luft einzufangen. Mit irrwitziger Disziplin, bis zur Erschöpfung. Wer ihn dabei beobachtet, begreift: Kunst bildet die Welt nicht nach. Sie übersetzt sie in Formen, die uns berühren.
In ihrem Roman folgt Ulrike Draesner dem Schriftsteller und bildenden Künstler Kurt Schwitters ins Exil. Es sprechen Kurt, seine Frau, sein Sohn, seine Geliebte. In einer virtuosen Mischung aus Fakten und Fiktion entsteht das Panorama einer Zeit, in der angesichts einer brennenden Welt neu um Freiheit und Kultur gerungen wird. Ein tiefgründiger, dabei humorvoller Roman über die Kraft der Kunst, darüber, wie sie entsteht und was sie vermag.
Ausstattung: Mit farbigem Poster im Umschlag
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Stefan Trinks unternimmt Ulrike Draesner nicht weniger, als dem im Exil verstummten Sprachkünstler Kurt Schwitters seine Sprache zurückzugeben. Dabei findet Trinks Draesners Roman sprachlich gar nicht durchweg schön. Doch darum kann es nicht gehen, findet er, wenn es um Schwitters geht. Draesner macht das ganz gut, so Trinks, Schwitters' Kunst und Denken und Sprache in den Text hineinzunehmen. Und Autofiktion ist hier sowieso angebracht, weil die Quellen schwach sind, erklärt Trinks. Für den Rezensenten ein fesselndes, das tragische "Seelendrama" im Exil glaubwürdig und nachfühlbar wiedergebendes Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Der Mann mit zwei Gräbern
Ulrike Draesners neuer Roman erzählt von Flucht und Exil des Jahrhundertkünstlers Kurt Schwitters.
Von Stefan Trinks
Wie kommt man gratis ins Kino? Diesen Aphorismus von Kurt Schwitters stellt Ulrike Draesner ihrem autofiktionalen Roman über den Künstler voran. Da seine Antwort "Durch den Ausgang" lautete, ist das Motto des Buches gesetzt. Schwitters, seit 72 Jahren tot, war der große Vertikulierer der Welt und ihrer Kunst. ANNA war ihm immer lieber von hinten als von vorn. Mit seiner Ursonate stellte er - obwohl von den Dadaisten offiziell abgelehnt - die Musik auf den Kopf und erfand nebenbei die Klangskulptur der Moderne. Mit seinen im Atelier der elterlichen Villa in Hannover durch drei Stockwerke wuchernden MERZbau (eine Neuwortfindung, gewonnen aus dem hinteren Ende von "Kommerz- und Privatbank") nahm er die Idee der Rauminstallationen und "Environments" der Jetztzeit vorweg. Dass die Pop-Art nicht in Warhol, vielmehr in des Briten Richard Hamiltons Collage "What is it that makes today's homes so different, so appealing?" 1956 ihre Initialzündung hatte, wissen die Engländer; sie wissen aber ebenso, dass sich Hamiltons auch sprachkünstlerisches Werk den Collagen von Schwitters verdankte, die auf der Insel jedes Kind kennt.
Nicht zuletzt verkörperte der Künstler im norwegischen Exil und insbesondere in England auch "den anderen Deutschen", die exakte Kehrseite eines stolzbesoffenen Nationalsozialisten. All diese Schwitter'schen Innovationen der Kunst sowie die von ihm entworfenen Gegenbilder sind kunstvoll eingewoben in Ulrike Draesners Blick in den Kopf des Universalkünstlers und der Versprachlichung von dessen mutmaßlichen Gedanken, die unser aller Überlegungen sein könnten.
Vielleicht kann man sich einem solchen Künstler wirklich nur über die Form der Autofiktion nähern, denn obschon ein Gerüst von festen biographischen Fakten existiert, sind seit Schwitters' Exil von 1937 an belastbare schriftliche Quellen karg - es ist beispielsweise nicht einmal klar, ob sein Körper in dem Grab in England oder in jenem in Hannover ruht. Das Exil bildet den Ausgangspunkt für Draesners fesselnden Roman, und wie der innerlich zerrissene, heimatverbundene Schwitters angesichts der nebenan vonstatten gehenden Ausräumung einer jüdischen Villa die ersten fünfzig Seiten lang mit sich ringt, ob Exil oder nicht und wenn ja, mit wie vielen, ist großes, jederzeit nachfühlbares Seelendrama: Der Sohn Ernst, Kommunist, muss mit nach Norwegen, die - anders als er - treue Ehefrau Helma, geschützt durch ihre Partei-Mutter, soll Schwitters' vier ererbte Mietshäuser als Einkommensquelle verwalten, nachdem er als Gestalter bei Pelikan entlassen wurde.
Nicht alle Leser werden solche stakkatohaften Satzkettenglieder schön finden: "Ein grauer Lastwagen. Scheint etwas zu suchen, so langsam wie er fährt. Kein Firmenname, keine Aufschrift. Jeder macht Werbung, manche nicht." Das klingt, als wäre die Autorin mit dem Exilanten zusammen auf der Flucht. Oft stellt sich der Eindruck ein, die gehetzt rohen Passagen dienten lediglich als Behelfsbrücken, um das sprachliche Gold an ihrem Ende umso faszinierender schimmern zu lassen, was dem im Kern tragischen Stoff - Schwitters muss neunundvierzigjährig sein gesamtes Werk zurücklassen und verstummt mindestens als Sprachkünstler völlig in der fremden Zunge - stilistisch durchaus angemessen wäre. Das beste aber an diesen Perlen ist: "Nigel-nagel-maschsee-Hitlerneu" (ein von 1934 an ausgehobener künstlicher See im Herzen Hannovers, der an weiteren drei Stellen wie Vineta aus dem Text auftaucht), "Zootiere, die ihm die Farbe Braun retteten", oder ein mephistophelischer Fiktivdialog auf dem Polizeipräsidium zwischen dem Künstler und einem Kunstblockwart über die angebliche Ähnlichkeit von MERZbau und faschistischem "Ausmerzen" - all das könnte von Schwitters selbst stammen, womit der Roman enorm an Glaubwürdigkeit gewinnt, zumal die Sprachjuwelen wieder an dessen reale Werke erinnern. So gibt Draesner einem der wichtigsten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts die Stimme zurück, die ihm durch das Exil genommen wurde.
Ulrike Draesner: "Schwitters". Roman.
Penguin Verlag, München 2020. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrike Draesners neuer Roman erzählt von Flucht und Exil des Jahrhundertkünstlers Kurt Schwitters.
Von Stefan Trinks
Wie kommt man gratis ins Kino? Diesen Aphorismus von Kurt Schwitters stellt Ulrike Draesner ihrem autofiktionalen Roman über den Künstler voran. Da seine Antwort "Durch den Ausgang" lautete, ist das Motto des Buches gesetzt. Schwitters, seit 72 Jahren tot, war der große Vertikulierer der Welt und ihrer Kunst. ANNA war ihm immer lieber von hinten als von vorn. Mit seiner Ursonate stellte er - obwohl von den Dadaisten offiziell abgelehnt - die Musik auf den Kopf und erfand nebenbei die Klangskulptur der Moderne. Mit seinen im Atelier der elterlichen Villa in Hannover durch drei Stockwerke wuchernden MERZbau (eine Neuwortfindung, gewonnen aus dem hinteren Ende von "Kommerz- und Privatbank") nahm er die Idee der Rauminstallationen und "Environments" der Jetztzeit vorweg. Dass die Pop-Art nicht in Warhol, vielmehr in des Briten Richard Hamiltons Collage "What is it that makes today's homes so different, so appealing?" 1956 ihre Initialzündung hatte, wissen die Engländer; sie wissen aber ebenso, dass sich Hamiltons auch sprachkünstlerisches Werk den Collagen von Schwitters verdankte, die auf der Insel jedes Kind kennt.
Nicht zuletzt verkörperte der Künstler im norwegischen Exil und insbesondere in England auch "den anderen Deutschen", die exakte Kehrseite eines stolzbesoffenen Nationalsozialisten. All diese Schwitter'schen Innovationen der Kunst sowie die von ihm entworfenen Gegenbilder sind kunstvoll eingewoben in Ulrike Draesners Blick in den Kopf des Universalkünstlers und der Versprachlichung von dessen mutmaßlichen Gedanken, die unser aller Überlegungen sein könnten.
Vielleicht kann man sich einem solchen Künstler wirklich nur über die Form der Autofiktion nähern, denn obschon ein Gerüst von festen biographischen Fakten existiert, sind seit Schwitters' Exil von 1937 an belastbare schriftliche Quellen karg - es ist beispielsweise nicht einmal klar, ob sein Körper in dem Grab in England oder in jenem in Hannover ruht. Das Exil bildet den Ausgangspunkt für Draesners fesselnden Roman, und wie der innerlich zerrissene, heimatverbundene Schwitters angesichts der nebenan vonstatten gehenden Ausräumung einer jüdischen Villa die ersten fünfzig Seiten lang mit sich ringt, ob Exil oder nicht und wenn ja, mit wie vielen, ist großes, jederzeit nachfühlbares Seelendrama: Der Sohn Ernst, Kommunist, muss mit nach Norwegen, die - anders als er - treue Ehefrau Helma, geschützt durch ihre Partei-Mutter, soll Schwitters' vier ererbte Mietshäuser als Einkommensquelle verwalten, nachdem er als Gestalter bei Pelikan entlassen wurde.
Nicht alle Leser werden solche stakkatohaften Satzkettenglieder schön finden: "Ein grauer Lastwagen. Scheint etwas zu suchen, so langsam wie er fährt. Kein Firmenname, keine Aufschrift. Jeder macht Werbung, manche nicht." Das klingt, als wäre die Autorin mit dem Exilanten zusammen auf der Flucht. Oft stellt sich der Eindruck ein, die gehetzt rohen Passagen dienten lediglich als Behelfsbrücken, um das sprachliche Gold an ihrem Ende umso faszinierender schimmern zu lassen, was dem im Kern tragischen Stoff - Schwitters muss neunundvierzigjährig sein gesamtes Werk zurücklassen und verstummt mindestens als Sprachkünstler völlig in der fremden Zunge - stilistisch durchaus angemessen wäre. Das beste aber an diesen Perlen ist: "Nigel-nagel-maschsee-Hitlerneu" (ein von 1934 an ausgehobener künstlicher See im Herzen Hannovers, der an weiteren drei Stellen wie Vineta aus dem Text auftaucht), "Zootiere, die ihm die Farbe Braun retteten", oder ein mephistophelischer Fiktivdialog auf dem Polizeipräsidium zwischen dem Künstler und einem Kunstblockwart über die angebliche Ähnlichkeit von MERZbau und faschistischem "Ausmerzen" - all das könnte von Schwitters selbst stammen, womit der Roman enorm an Glaubwürdigkeit gewinnt, zumal die Sprachjuwelen wieder an dessen reale Werke erinnern. So gibt Draesner einem der wichtigsten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts die Stimme zurück, die ihm durch das Exil genommen wurde.
Ulrike Draesner: "Schwitters". Roman.
Penguin Verlag, München 2020. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2020Verschobenes Ich
Dada-Künstler, Exilant, Gesamtkunstwerk:
Ulrike Draesners überbordender Künstlerroman über Kurt Schwitters
VON HELMUT BÖTTIGER
Kurt Schwitters ist eine geheimnisvoll schräge und skurrile Figur der Kunstgeschichte. Er lädt keineswegs dazu ein, sich mit ihm zu identifizieren und ein „Künstlerschicksal“ emphatisch nachzuerleben. Ulrike Draesner geht also ein großes Risiko ein, ausgerechnet diesem sperrigen, unzugänglichen Helden einen Roman zu widmen.
Vergleichbare Operationen, die in letzter Zeit unternommen worden sind, setzten auf beglaubigte Suggestivkraft, etwa bei Rilke oder Kafka – da fiel es ganz leicht, das Tragische und Große der Literatur in vergangenen Epochen aufzusuchen und damit Effekt im Lesesessel auszulösen. Bei Schwitters geht das nicht. Und die Autorin führt auch etwas Anderes im Schilde.
Schwitters wird in erster Linie mit dem Dadaismus in Verbindung gebracht, und man kann ihn mit damals systemsprengenden Lautgedichten wie „Anna Blume“ oder der sogenannten „Ursonate“ als Erfinder moderner Sprachinstallationen begreifen. Daneben betrieb er eine höchst eigenwillige Collagepraxis und klebte Zeitungsausschnitte, Müllreste und diverse Alltagsmaterialien zusammen. Ungefähr zwanzig Jahre lang arbeitete er in seinem Wohnhaus in Hannover an seinem „MERZbau“, einem Artefakt, das vom Keller bis in die oberen Geschosse Architektur und Konzeptkunst verschmolz und ein work in progress war. Britische Bomber machten diesem Gesamtkunstwerk 1943 ein Ende.
Ulrike Draesner geht es vor allem um das Kunstverständnis von Schwitters, und ihr Roman versucht, dem mit allem nachzuspüren, was ihr zur Verfügung steht: in der Form wie im Inhalt. Wer eine chronologisch nachvollziehbare, an die aktuelle Konjunktur einer „historischen Reportage“ anschließende Handlung erwartet, wird hier von vornherein ausgeschlossen.
Dabei schreibt die Autorin durchaus an der Biografie von Schwitters entlang: die immer bedrängender werden Zustände während des Nationalsozialismus Mitte der dreißiger Jahre, die Flucht nach Norwegen, die abermalige Flucht von Norwegen nach England und die mühsamen, erfolglosen, immer an der Armutsgrenze entlanghangelnden Jahre im Lake District bis zu Schwitters‘ Tod Anfang 1948. Ulrike Draesner greift einige Schlüsselmomente heraus, vergrößert sie und vergegenwärtigt sie mit zwar historisch recherchierten, aber fiktiv stark aufgeladenen Szenen. Die Autorin nähert sich ihrem Objekt wie Schwitters selbst seiner Kunst: collagierend, klebend, sie betrachtet ihn von außen wie eine Kunstfigur. Er hantiert bei ihr manisch mit Drähten, macht kleine Geflechte daraus, Spiralen oder Männchen wie Weibchen, oder er bastelt, wie in der Eingangsszene, ein „Kastanientier“ für ein Nachbarskind am Gartenzaun.
Was wirklich geschieht und was er bloß imaginiert, ist in der Erzählhaltung Ulrike Draesners so ineinander verwoben, dass eine solche Trennung völlig unerheblich wird. Und was sie anhand der vergleichsweise spärlichen Lebenszeugnisse von Schwitters aufspürt und was sie dazu erfindet, geht in derselben Weise organisch ineinander über.
Schwitters hat per se den Künstlerblick, er lebt in seiner unmittelbaren Wahrnehmung, und dass etwa im kalten und dunklen norwegischen Winterfenster sich ein Kobold ans Brett lehnt, ist ein alltäglicher Vorgang, der sofort in die „MERZkunst“ integriert wird – „MERZ“, großgeschrieben, ist Schwitters’ Wort für das, was er macht, ein Kunstwort zwischen Anagramm und Frühling.
In diesem Sinn ist Draesners Romantext auch weniger erzählerisch angelegt als sprachschöpferisch und spielerisch. So wie Schwitters am liebsten auf Müllhalden ging und dort nach Fundstücken forschte – im London der Kriegs- und Nachkriegszeit gab es für ihn unendlich viel zu holen –, so inszeniert die Autorin ihre Wortansammlungen und Reihungen.
Die Aufzählung gehört zu ihren bevorzugten Stilmitteln, Imaginationen, die in etwas Unendliches zu führen scheinen. Im verregneten Lake-Distrikt, wo Schwitters von einem Bauern eine Scheune mietet, um dort ungestört und großflächig weiter seine MERZkunst betreiben zu können, ist er etwa von der Vielfalt der Grautöne erregt: „Windhundgrau, granitgrau, himmelsgrau, schiefergrau, nacktschneckensilberschleimgrau, flintflimmergrau, zwielichtgrau, morgendämmerungsgrau, nordgrau, schafzungengrau.“ Und im Fortlauf des Textes bastelt sich Ulrike Draesner selbst Wortmotive, auf die sie manchmal später wieder zurückgreift und so einen unvermuteten Zusammenhang herstellt.
Sinnfällig wird das bei den „Shininglaunen“, die Kurt Schwitters nach Ansicht seiner Ehefrau hat – gemeint sind damit Künstleranwandlungen, also „Krisen, Zweifel, Abbau- und Aufbauphasen“. Jenes gesucht wirkende Wort hat einen konkreten dinglichen Ursprung und entspricht dadurch den Gesetzen des Schwitterschen Kunstkosmos: Helma Schwitters schenkt ihrem Mann eine Schuhcremedose namens „Shining“, und das ist in seinem Lederfett-Extraglanz genau einer der Gegenstände, die er mit Vorliebe in seine MERZ-Welt einbaut: ein runder Metalldeckel, auf dem ein „Pferdekopf mit Menschengesicht und Sternchenaureole“ grinst, und der Name des Produkts ist in schön geschwungener Schulhandschrift zu lesen, wodurch „Shining“ von einem bloßen Markenzeichen zu einem Codewort für ästhetische Entgrenzungen wird.
Ulrike Draesners meist kurze Sätze haben etwas Eidechsenhaftes, Flinkes und Sich-Entziehendes. Die Verben stehen dabei zwar im Präteritum, erzeugen aber den atemlosen Effekt des Präsens. Wie auf einer Guckkastenbühne wechseln sich die Szenen ab, und die Figuren huschen durch das Bühnenbild. Rätselhafte Momente, die zunächst unerklärlich wirken, lösen sich erst nach einer geraumen Weile auf: Meerschweinchen, die sich Schwitters hält, oder Mäuse, die er unter seiner Kleidung versteckt und mit auf das Rettungsschiff bringt.
Zwischen alldem werden einzelne zeitgeschichtlich dramatische Situationen atmosphärisch durchaus zugespitzt und realistisch ausgemalt: die in letzter Sekunde geglückte Überfahrt vom nationalsozialistisch besetzten Norwegen über die Nordsee, die Internierung auf der Isle of Man, die Kargheit und Zerstörung in London während des Krieges.
Die Autorin fantasiert typische Schwittersche Momente aus: Im Lager führt er einmal ein Gedicht vor, das „Die Ruhe“ heißt, und es geschieht nichts – bis der Künstler eine Porzellantasse, die er langsam zu drehen begonnen hat, mit einem Knall abrupt auf den Boden fallen lässt. Die Situationen, in die Schwitters auf seiner Flucht gerät, sind oft extrem, unerwartet und gefährlich, und es kommt dann zu markanten Sätzen wie: „Das Leben war so surreal, dass nichtrealistische Kunst jetzt lächerlich wirkte.“ Umso heftiger aber widmet sich Schwitters weiter seinen Obsessionen.
Obwohl es nirgends um Psychologie geht und um das Innenleben, werden die beteiligten Personen in ihren Eigenarten im Lauf der Zeit präzise kenntlich: Schwitters’ solidarische und einiges einsteckende Ehefrau Helma, sein pragmatischer und weniger charismatische Sohn Ernst oder seine um mehr als zwanzig Jahre jüngere englische Geliebte, Edith Thomas, genannt „Wantee“.
Hier erfindet Ulrike Draesner eine fast unwirklich anmutende Liebesgeschichte um die Kunst, ein heldisches Frauenporträt, das immer wieder ins Romantische kippt und damit auch bewusst spielt. Dass Schwitters, mit dem Kosenamen „Jumbo“, trotz seiner voluminösen körperlichen Erscheinung und seiner Unberechenbarkeit eine starke sinnliche Ausstrahlung hat, gehört zu den nicht restlos auszulotenden Phänomenen, die zwischen den Zeilen umso lustvoller aufscheinen.
Es ist ein merkwürdiger Umstand, dass Schwitters in Deutschland zwar als herausragender Artist der Weimarer Republik gilt, seine späteren Lebensumstände aber, vor allem die trotz seines körperlichen Verfalls verwegenen und produktiven letzten Jahre in England, fast unbekannt sind. Ulrike Draesner setzt diesem „Paradoxdenker und Gegenwartsverbreiterer“ nun ein Denkmal, das mit großem Bedacht auf demselben schwankenden Grund steht wie der hier beschworene Künstler.
Der Roman genießt seine Eigendynamik, ist verliebt in sprachtheoretische Exkurse und deutsch-englische Augenzwinkereien. Er ist klug konzipiert und konsequent durchgearbeitet, und seine akademische Versiertheit zeigt sich in Kommentaren wie: „So wurde mit den Zeichen gedacht.“
Das Slapstickhafte, Vorführende, das diese Ästhetik mit sich bringt, zeigt leider ausgerechnet im Eingangskapitel auch seine Schwächen – Schwitters’ Leben unter dem nationalsozialistischen Terror in Hannover und der Kunstwille der Autorin kommen sich da gelegentlich in die Quere. Aber wenn der Roman dann Fahrt aufnimmt, die Kunstwelten sich entfalten und die Figur Schwitters wie ein rätselhaftes Insekt durch die Sätze geistert, zeigt er manchmal geradezu bravourös, wie Literatur die Welt erklären kann: „Shining schob Raum in Raum, verschob das Ich. Es war MERZ, wenn es passierte.“
„Das Leben ist so surreal,
dass nichtrealistische Kunst
jetzt lächerlich wirkt.“
Ulrike Draesner:
Schwitters. Roman.
Penguin Verlag, München 2020. 470 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dada-Künstler, Exilant, Gesamtkunstwerk:
Ulrike Draesners überbordender Künstlerroman über Kurt Schwitters
VON HELMUT BÖTTIGER
Kurt Schwitters ist eine geheimnisvoll schräge und skurrile Figur der Kunstgeschichte. Er lädt keineswegs dazu ein, sich mit ihm zu identifizieren und ein „Künstlerschicksal“ emphatisch nachzuerleben. Ulrike Draesner geht also ein großes Risiko ein, ausgerechnet diesem sperrigen, unzugänglichen Helden einen Roman zu widmen.
Vergleichbare Operationen, die in letzter Zeit unternommen worden sind, setzten auf beglaubigte Suggestivkraft, etwa bei Rilke oder Kafka – da fiel es ganz leicht, das Tragische und Große der Literatur in vergangenen Epochen aufzusuchen und damit Effekt im Lesesessel auszulösen. Bei Schwitters geht das nicht. Und die Autorin führt auch etwas Anderes im Schilde.
Schwitters wird in erster Linie mit dem Dadaismus in Verbindung gebracht, und man kann ihn mit damals systemsprengenden Lautgedichten wie „Anna Blume“ oder der sogenannten „Ursonate“ als Erfinder moderner Sprachinstallationen begreifen. Daneben betrieb er eine höchst eigenwillige Collagepraxis und klebte Zeitungsausschnitte, Müllreste und diverse Alltagsmaterialien zusammen. Ungefähr zwanzig Jahre lang arbeitete er in seinem Wohnhaus in Hannover an seinem „MERZbau“, einem Artefakt, das vom Keller bis in die oberen Geschosse Architektur und Konzeptkunst verschmolz und ein work in progress war. Britische Bomber machten diesem Gesamtkunstwerk 1943 ein Ende.
Ulrike Draesner geht es vor allem um das Kunstverständnis von Schwitters, und ihr Roman versucht, dem mit allem nachzuspüren, was ihr zur Verfügung steht: in der Form wie im Inhalt. Wer eine chronologisch nachvollziehbare, an die aktuelle Konjunktur einer „historischen Reportage“ anschließende Handlung erwartet, wird hier von vornherein ausgeschlossen.
Dabei schreibt die Autorin durchaus an der Biografie von Schwitters entlang: die immer bedrängender werden Zustände während des Nationalsozialismus Mitte der dreißiger Jahre, die Flucht nach Norwegen, die abermalige Flucht von Norwegen nach England und die mühsamen, erfolglosen, immer an der Armutsgrenze entlanghangelnden Jahre im Lake District bis zu Schwitters‘ Tod Anfang 1948. Ulrike Draesner greift einige Schlüsselmomente heraus, vergrößert sie und vergegenwärtigt sie mit zwar historisch recherchierten, aber fiktiv stark aufgeladenen Szenen. Die Autorin nähert sich ihrem Objekt wie Schwitters selbst seiner Kunst: collagierend, klebend, sie betrachtet ihn von außen wie eine Kunstfigur. Er hantiert bei ihr manisch mit Drähten, macht kleine Geflechte daraus, Spiralen oder Männchen wie Weibchen, oder er bastelt, wie in der Eingangsszene, ein „Kastanientier“ für ein Nachbarskind am Gartenzaun.
Was wirklich geschieht und was er bloß imaginiert, ist in der Erzählhaltung Ulrike Draesners so ineinander verwoben, dass eine solche Trennung völlig unerheblich wird. Und was sie anhand der vergleichsweise spärlichen Lebenszeugnisse von Schwitters aufspürt und was sie dazu erfindet, geht in derselben Weise organisch ineinander über.
Schwitters hat per se den Künstlerblick, er lebt in seiner unmittelbaren Wahrnehmung, und dass etwa im kalten und dunklen norwegischen Winterfenster sich ein Kobold ans Brett lehnt, ist ein alltäglicher Vorgang, der sofort in die „MERZkunst“ integriert wird – „MERZ“, großgeschrieben, ist Schwitters’ Wort für das, was er macht, ein Kunstwort zwischen Anagramm und Frühling.
In diesem Sinn ist Draesners Romantext auch weniger erzählerisch angelegt als sprachschöpferisch und spielerisch. So wie Schwitters am liebsten auf Müllhalden ging und dort nach Fundstücken forschte – im London der Kriegs- und Nachkriegszeit gab es für ihn unendlich viel zu holen –, so inszeniert die Autorin ihre Wortansammlungen und Reihungen.
Die Aufzählung gehört zu ihren bevorzugten Stilmitteln, Imaginationen, die in etwas Unendliches zu führen scheinen. Im verregneten Lake-Distrikt, wo Schwitters von einem Bauern eine Scheune mietet, um dort ungestört und großflächig weiter seine MERZkunst betreiben zu können, ist er etwa von der Vielfalt der Grautöne erregt: „Windhundgrau, granitgrau, himmelsgrau, schiefergrau, nacktschneckensilberschleimgrau, flintflimmergrau, zwielichtgrau, morgendämmerungsgrau, nordgrau, schafzungengrau.“ Und im Fortlauf des Textes bastelt sich Ulrike Draesner selbst Wortmotive, auf die sie manchmal später wieder zurückgreift und so einen unvermuteten Zusammenhang herstellt.
Sinnfällig wird das bei den „Shininglaunen“, die Kurt Schwitters nach Ansicht seiner Ehefrau hat – gemeint sind damit Künstleranwandlungen, also „Krisen, Zweifel, Abbau- und Aufbauphasen“. Jenes gesucht wirkende Wort hat einen konkreten dinglichen Ursprung und entspricht dadurch den Gesetzen des Schwitterschen Kunstkosmos: Helma Schwitters schenkt ihrem Mann eine Schuhcremedose namens „Shining“, und das ist in seinem Lederfett-Extraglanz genau einer der Gegenstände, die er mit Vorliebe in seine MERZ-Welt einbaut: ein runder Metalldeckel, auf dem ein „Pferdekopf mit Menschengesicht und Sternchenaureole“ grinst, und der Name des Produkts ist in schön geschwungener Schulhandschrift zu lesen, wodurch „Shining“ von einem bloßen Markenzeichen zu einem Codewort für ästhetische Entgrenzungen wird.
Ulrike Draesners meist kurze Sätze haben etwas Eidechsenhaftes, Flinkes und Sich-Entziehendes. Die Verben stehen dabei zwar im Präteritum, erzeugen aber den atemlosen Effekt des Präsens. Wie auf einer Guckkastenbühne wechseln sich die Szenen ab, und die Figuren huschen durch das Bühnenbild. Rätselhafte Momente, die zunächst unerklärlich wirken, lösen sich erst nach einer geraumen Weile auf: Meerschweinchen, die sich Schwitters hält, oder Mäuse, die er unter seiner Kleidung versteckt und mit auf das Rettungsschiff bringt.
Zwischen alldem werden einzelne zeitgeschichtlich dramatische Situationen atmosphärisch durchaus zugespitzt und realistisch ausgemalt: die in letzter Sekunde geglückte Überfahrt vom nationalsozialistisch besetzten Norwegen über die Nordsee, die Internierung auf der Isle of Man, die Kargheit und Zerstörung in London während des Krieges.
Die Autorin fantasiert typische Schwittersche Momente aus: Im Lager führt er einmal ein Gedicht vor, das „Die Ruhe“ heißt, und es geschieht nichts – bis der Künstler eine Porzellantasse, die er langsam zu drehen begonnen hat, mit einem Knall abrupt auf den Boden fallen lässt. Die Situationen, in die Schwitters auf seiner Flucht gerät, sind oft extrem, unerwartet und gefährlich, und es kommt dann zu markanten Sätzen wie: „Das Leben war so surreal, dass nichtrealistische Kunst jetzt lächerlich wirkte.“ Umso heftiger aber widmet sich Schwitters weiter seinen Obsessionen.
Obwohl es nirgends um Psychologie geht und um das Innenleben, werden die beteiligten Personen in ihren Eigenarten im Lauf der Zeit präzise kenntlich: Schwitters’ solidarische und einiges einsteckende Ehefrau Helma, sein pragmatischer und weniger charismatische Sohn Ernst oder seine um mehr als zwanzig Jahre jüngere englische Geliebte, Edith Thomas, genannt „Wantee“.
Hier erfindet Ulrike Draesner eine fast unwirklich anmutende Liebesgeschichte um die Kunst, ein heldisches Frauenporträt, das immer wieder ins Romantische kippt und damit auch bewusst spielt. Dass Schwitters, mit dem Kosenamen „Jumbo“, trotz seiner voluminösen körperlichen Erscheinung und seiner Unberechenbarkeit eine starke sinnliche Ausstrahlung hat, gehört zu den nicht restlos auszulotenden Phänomenen, die zwischen den Zeilen umso lustvoller aufscheinen.
Es ist ein merkwürdiger Umstand, dass Schwitters in Deutschland zwar als herausragender Artist der Weimarer Republik gilt, seine späteren Lebensumstände aber, vor allem die trotz seines körperlichen Verfalls verwegenen und produktiven letzten Jahre in England, fast unbekannt sind. Ulrike Draesner setzt diesem „Paradoxdenker und Gegenwartsverbreiterer“ nun ein Denkmal, das mit großem Bedacht auf demselben schwankenden Grund steht wie der hier beschworene Künstler.
Der Roman genießt seine Eigendynamik, ist verliebt in sprachtheoretische Exkurse und deutsch-englische Augenzwinkereien. Er ist klug konzipiert und konsequent durchgearbeitet, und seine akademische Versiertheit zeigt sich in Kommentaren wie: „So wurde mit den Zeichen gedacht.“
Das Slapstickhafte, Vorführende, das diese Ästhetik mit sich bringt, zeigt leider ausgerechnet im Eingangskapitel auch seine Schwächen – Schwitters’ Leben unter dem nationalsozialistischen Terror in Hannover und der Kunstwille der Autorin kommen sich da gelegentlich in die Quere. Aber wenn der Roman dann Fahrt aufnimmt, die Kunstwelten sich entfalten und die Figur Schwitters wie ein rätselhaftes Insekt durch die Sätze geistert, zeigt er manchmal geradezu bravourös, wie Literatur die Welt erklären kann: „Shining schob Raum in Raum, verschob das Ich. Es war MERZ, wenn es passierte.“
„Das Leben ist so surreal,
dass nichtrealistische Kunst
jetzt lächerlich wirkt.“
Ulrike Draesner:
Schwitters. Roman.
Penguin Verlag, München 2020. 470 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Ulrike Draesner begleitet in ihrem biografischen Roman 'Schwitters' den Künstler Kurt Schwitters ins Exil nach Norwegen und England. Mit einer ganz eigenen, hochmusikalischen Sprache beschreibt sie den Kampf des Künstlers gegen das Verstummen.« Bayerischer Buchpreis 2020 - aus der Begründung der Jury