Wales im Jahr 1921: Der Erste Weltkrieg und die Spanische Grippe haben gewütet, Europa ist am Boden. Der junge Merce Blackboro ist dem Fronteinsatz in der Antarktis entgangen, leidet jedoch seit seiner Rückkehr von Shackletons gescheiterter Endurance-Expedition unter der heimischen Enge. Umso mehr, als Ennid Muldoon, die Liebe seines Lebens, eines Tages fluchtartig verschwindet, um ihr Glück in Amerika zu suchen. Mit ihr auf demselben Auswandererschiff reist inmitten der Elenden Europas der Tycoon und Trinker Diver Robey, der von einer Flugverbindung zwischen der alten und der neuen Welt träumt. Als der Dampfer in einen gewaltigen Schneesturm gerät und manövrierunfähig auf offener See treibt, scheinen sich die Hoffnungen aller - ob arm oder reich - zu zerschlagen. Merce muss einen Weg finden, Ennid und damit sich selbst zu retten. In seinem für den Alfred-Döblin-Preis nominierten großen neuen Roman erzählt Mirko Bonné kraftvoll und mitreißend von der verzweifelten Sehnsucht einerZeit hundert Jahre vor unserer eigenen zerbrechlichen Gegenwart.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Thomas Schaefer scheint geteilter Meinung zu sein über Mirko Bonnés neues Buch, das die Geschichte des Polarreisenden Merce Blackboro aus Bonnés Roman "Der eiskalte Himmel" weitererzählt. Nach der extremen Abenteuerfahrt sucht der Held nun im heimatlichen Newport nach dem Sinn des Lebens, umreißt Schaefer den Inhalt des Buches. Der Roman bedient sich laut Rezensent bekannter Kolportage- und Spannungselemente des Abenteuer- wie des Liebesromans. Das geht laut Schaefer nicht immer reibungslos vonstatten. So blendet der 1921 spielende Text historische Verwerfungen im Nachkriegseuropa einfach aus und verbleibt im Privaten und im Bereich "trivialer Mythen", so Schaefer. Im Ganzen aber findet er die Lektüre spannend, geprägt von packender Atmosphäre und Figurenzeichnung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2021Warum sind alle nur so vernarrt in diese Ennid?
Das Wetter spricht mit Kinderstimme: Unzeitgemäß ungebrochen erzählt Mirko Bonné im Roman "Seeland Schneeland" von Aufbrüchen und großen Leidenschaften
Kommt in aktuellen Romanen die Witterung zum Tragen, dann zumeist als zivilisationskritischer, womöglich sogar apokalyptischer Unterstrom. Allein deshalb muss Mirko Bonné "Seeland Schneeland" in eine Zeit verlegen, in der der Klimawandel keine Rolle spielt: So kann er dem Wetter wieder jene Funktion zukommen lassen, die es im realistischen Roman innehatte: als untrüglicher Indikator für die Geschicke der Figuren.
Wenn also schon auf den ersten Seiten von "Seeland Schneeland", an einem Februartag des Jahres 1921, Merce Blackboro, den man schon als Teilnehmer der Endurance-Expedition aus Bonnés Roman "Der eiskalte Himmel" aus dem Jahr 2006 kennt, im Kontor der väterlichen Schiffszimmerei sitzt und auf den Dauerregen von Wales schaut, der bereits Überschwemmungen mit Todesfällen verursacht hat, dann kann im Folgenden kaum Zweifel daran aufkommen, dass die mysteriöse Kinderstimme, die Merce im Kopf hat und die von einer Zukunft in einem paradiesisch anmutenden Land spricht, keine prophetische ist.
Ebenso scheint vorherbestimmt, dass es Ennid Muldoon, der wie im Vorgängerroman noch immer Merces unerfüllte Liebe gilt, nicht gelingen wird, in die Vereinigten Staaten überzusetzen, um dort nach dem Tod ihres Verlobten ein neues Leben zu beginnen. Ähnlich wie es dem an Weltekel laborierenden amerikanischen Milliardär Diver Robey nicht vergönnt sein wird, so wie er es sich erträumt, mit dem eigenen Flugzeug den Atlantik zu überqueren. Er muss mit einer Kabine des Auswandererschiffs vorliebnehmen, auf dem auch Ennid eine Koje im überfüllten Gemeinschaftsschlafsaal der dritten Klasse ergattert hat.
Bis vor die Nordostküste Schottlands schafft es der marode Dampfer. Der Regen hat sich in dichten ununterbrochenen Schneefall verwandelt, im Akkord versuchen Mannschaft und männliche Passagiere die weißen Massen ins Wasser zu schieben, die sich ohne Unterlass auf dem Deck sammeln und das Schiff so sehr beschweren, dass Havarie droht. Die Schiffsschraube ist bereits gebrochen. Der Dampfer, vor Anker gegangen, dreht sich nur noch um sich selbst.
Der Erzähltakt Bonnés passt zu diesem Trudeln, zu dieser existentiellen Stagnation, er wird ebenfalls bereits gleich zu Anfang des Romans meteorologisch ins Bild gesetzt, wenn Merce Blackboro aus dem Kontorfenster die Dunkelheit "mit der Geschwindigkeit einer fliehenden Schnecke" aufziehen sieht. Und nicht zuletzt lässt sich bereits hier eine jener Formulierungen finden, mit denen Bücher sich mitunter unfreiwillig selbst zu charakterisieren scheinen: "Gefühlig, detailliert und unterhaltsam", heißt es dort, werde im "South Wales Echo", das auf dem Kontorschreibtisch liegt, von den Kindern und Alten erzählt, die den Überschwemmungen zum Opfer gefallen sind.
Offenbar will Mirko Bonné genau dies: einen mitreißenden historischen Roman erzählen, en détail ausgemalt bis hin zu den Riemchen der Abendtäschchen, die beim Dinner auf dem noblen Deck des Dampfers getragen werden. Und zugleich: einen Roman über ebenso unersättliche wie fatal endende Leidenschaften.
Naheliegend, wenngleich als Referenzgröße nicht unbedingt Ausdruck von Bescheidenheit, dass Bonné seine Ennid, wenn sie nicht gerade Briefe an ihren toten Verlobten schreibt, in Tolstois "Anna Karenina" lesen lässt. Das Motto von "Seeland Schneeland" wiederum stellt mit Boris Pasternak ein anderer russischer Schriftsteller bereit: "Alle Menschen lieben, ohne sich der Einzigartigkeit ihrer Gefühle bewusst zu sein." Ob nicht gerade das Umgekehrte allzu häufig der Fall ist, mag dahingestellt bleiben. Das Tragische an Merce Blackboro, der mit seinem Erfinder die Initialen teilt, aber ist, dass er sich zwar als großen Liebenden wähnt, dass jedoch über die knapp 450 Seiten von "Seeland Schneeland" vollends rätselhaft bleibt, warum er sich nach Ennid verzehrt, die ihn seit Jahren zurückweist und nun sogar auf einen anderen Kontinent umsiedeln will. Wie überhaupt die Faszination, die die junge Frau, die durch einen ärztlichen Fehler ein Bein nachzieht, auch auf andere Menschen ausübt, eine Leerstelle bleibt. Eine Leerstelle allerdings, die mit fortschreitender Lektüre eher ermüdende, denn faszinierende Wirkung entfaltet. Und das gilt generell: Die Leidenschaften, von denen Bonné erzählt, kommen über den Status der Behauptung nicht hinaus. Was schade ist, man hätte sie gern geteilt.
Vielleicht mutet das Ende des Romans deshalb umso schauriger an. Die Passagiere des dem Untergang geweihten Dampfers können, mit wenigen Ausnahmen, gerettet werden. Ennid wirft zuvor das Buch mit den Briefen, die sie an ihren toten Verlobten geschrieben hat, über Bord - und ebenfalls über Bord wirft sie alle Abscheu, die sie bis dato Merce gegenüber gehegt und regelrecht zelebriert hat. Warum sie sich plötzlich fügt, bleibt ungesagt. Wie also soll man diesen Haltungswechsel verstehen? Und vor allem: als was? Als Happy End womöglich? Eher klingt mit dieser Wendung die Drohung des Metzgers Oskar aus Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" nach: Seiner Liebe würde Marianne nicht entkommen. Schicksal möchte man ein solches Ende lieber nicht nennen.
Aber vielleicht besteht gerade in Wendungen wie dieser der Reiz, heutzutage vollends ungebrochen und in dieser epischen Gemächlichkeit und historischen Akkuratesse zu erzählen. Der Eskapismus ermöglicht es jedenfalls, gegenwärtige Diskurse sowie vermeintliche gesellschaftspolitische Be- und Empfindlichkeiten außen vor lassen zu können. Eine literarische Expedition in solcherart Gefilde birgt allerdings nur auf den ersten Blick erzählerische Freiheit. Schwerer wiegt die Gefahr, gerade auch sprachlich im Kulissenhaften und im Klischee zu stranden.
WIEBKE POROMBKA
Mirko Bonné: "Seeland Schneeland". Roman.
Schöffling und Co., Frankfurt am Main 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Wetter spricht mit Kinderstimme: Unzeitgemäß ungebrochen erzählt Mirko Bonné im Roman "Seeland Schneeland" von Aufbrüchen und großen Leidenschaften
Kommt in aktuellen Romanen die Witterung zum Tragen, dann zumeist als zivilisationskritischer, womöglich sogar apokalyptischer Unterstrom. Allein deshalb muss Mirko Bonné "Seeland Schneeland" in eine Zeit verlegen, in der der Klimawandel keine Rolle spielt: So kann er dem Wetter wieder jene Funktion zukommen lassen, die es im realistischen Roman innehatte: als untrüglicher Indikator für die Geschicke der Figuren.
Wenn also schon auf den ersten Seiten von "Seeland Schneeland", an einem Februartag des Jahres 1921, Merce Blackboro, den man schon als Teilnehmer der Endurance-Expedition aus Bonnés Roman "Der eiskalte Himmel" aus dem Jahr 2006 kennt, im Kontor der väterlichen Schiffszimmerei sitzt und auf den Dauerregen von Wales schaut, der bereits Überschwemmungen mit Todesfällen verursacht hat, dann kann im Folgenden kaum Zweifel daran aufkommen, dass die mysteriöse Kinderstimme, die Merce im Kopf hat und die von einer Zukunft in einem paradiesisch anmutenden Land spricht, keine prophetische ist.
Ebenso scheint vorherbestimmt, dass es Ennid Muldoon, der wie im Vorgängerroman noch immer Merces unerfüllte Liebe gilt, nicht gelingen wird, in die Vereinigten Staaten überzusetzen, um dort nach dem Tod ihres Verlobten ein neues Leben zu beginnen. Ähnlich wie es dem an Weltekel laborierenden amerikanischen Milliardär Diver Robey nicht vergönnt sein wird, so wie er es sich erträumt, mit dem eigenen Flugzeug den Atlantik zu überqueren. Er muss mit einer Kabine des Auswandererschiffs vorliebnehmen, auf dem auch Ennid eine Koje im überfüllten Gemeinschaftsschlafsaal der dritten Klasse ergattert hat.
Bis vor die Nordostküste Schottlands schafft es der marode Dampfer. Der Regen hat sich in dichten ununterbrochenen Schneefall verwandelt, im Akkord versuchen Mannschaft und männliche Passagiere die weißen Massen ins Wasser zu schieben, die sich ohne Unterlass auf dem Deck sammeln und das Schiff so sehr beschweren, dass Havarie droht. Die Schiffsschraube ist bereits gebrochen. Der Dampfer, vor Anker gegangen, dreht sich nur noch um sich selbst.
Der Erzähltakt Bonnés passt zu diesem Trudeln, zu dieser existentiellen Stagnation, er wird ebenfalls bereits gleich zu Anfang des Romans meteorologisch ins Bild gesetzt, wenn Merce Blackboro aus dem Kontorfenster die Dunkelheit "mit der Geschwindigkeit einer fliehenden Schnecke" aufziehen sieht. Und nicht zuletzt lässt sich bereits hier eine jener Formulierungen finden, mit denen Bücher sich mitunter unfreiwillig selbst zu charakterisieren scheinen: "Gefühlig, detailliert und unterhaltsam", heißt es dort, werde im "South Wales Echo", das auf dem Kontorschreibtisch liegt, von den Kindern und Alten erzählt, die den Überschwemmungen zum Opfer gefallen sind.
Offenbar will Mirko Bonné genau dies: einen mitreißenden historischen Roman erzählen, en détail ausgemalt bis hin zu den Riemchen der Abendtäschchen, die beim Dinner auf dem noblen Deck des Dampfers getragen werden. Und zugleich: einen Roman über ebenso unersättliche wie fatal endende Leidenschaften.
Naheliegend, wenngleich als Referenzgröße nicht unbedingt Ausdruck von Bescheidenheit, dass Bonné seine Ennid, wenn sie nicht gerade Briefe an ihren toten Verlobten schreibt, in Tolstois "Anna Karenina" lesen lässt. Das Motto von "Seeland Schneeland" wiederum stellt mit Boris Pasternak ein anderer russischer Schriftsteller bereit: "Alle Menschen lieben, ohne sich der Einzigartigkeit ihrer Gefühle bewusst zu sein." Ob nicht gerade das Umgekehrte allzu häufig der Fall ist, mag dahingestellt bleiben. Das Tragische an Merce Blackboro, der mit seinem Erfinder die Initialen teilt, aber ist, dass er sich zwar als großen Liebenden wähnt, dass jedoch über die knapp 450 Seiten von "Seeland Schneeland" vollends rätselhaft bleibt, warum er sich nach Ennid verzehrt, die ihn seit Jahren zurückweist und nun sogar auf einen anderen Kontinent umsiedeln will. Wie überhaupt die Faszination, die die junge Frau, die durch einen ärztlichen Fehler ein Bein nachzieht, auch auf andere Menschen ausübt, eine Leerstelle bleibt. Eine Leerstelle allerdings, die mit fortschreitender Lektüre eher ermüdende, denn faszinierende Wirkung entfaltet. Und das gilt generell: Die Leidenschaften, von denen Bonné erzählt, kommen über den Status der Behauptung nicht hinaus. Was schade ist, man hätte sie gern geteilt.
Vielleicht mutet das Ende des Romans deshalb umso schauriger an. Die Passagiere des dem Untergang geweihten Dampfers können, mit wenigen Ausnahmen, gerettet werden. Ennid wirft zuvor das Buch mit den Briefen, die sie an ihren toten Verlobten geschrieben hat, über Bord - und ebenfalls über Bord wirft sie alle Abscheu, die sie bis dato Merce gegenüber gehegt und regelrecht zelebriert hat. Warum sie sich plötzlich fügt, bleibt ungesagt. Wie also soll man diesen Haltungswechsel verstehen? Und vor allem: als was? Als Happy End womöglich? Eher klingt mit dieser Wendung die Drohung des Metzgers Oskar aus Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" nach: Seiner Liebe würde Marianne nicht entkommen. Schicksal möchte man ein solches Ende lieber nicht nennen.
Aber vielleicht besteht gerade in Wendungen wie dieser der Reiz, heutzutage vollends ungebrochen und in dieser epischen Gemächlichkeit und historischen Akkuratesse zu erzählen. Der Eskapismus ermöglicht es jedenfalls, gegenwärtige Diskurse sowie vermeintliche gesellschaftspolitische Be- und Empfindlichkeiten außen vor lassen zu können. Eine literarische Expedition in solcherart Gefilde birgt allerdings nur auf den ersten Blick erzählerische Freiheit. Schwerer wiegt die Gefahr, gerade auch sprachlich im Kulissenhaften und im Klischee zu stranden.
WIEBKE POROMBKA
Mirko Bonné: "Seeland Schneeland". Roman.
Schöffling und Co., Frankfurt am Main 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
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»Ein wahrer Schriftsteller des Herzens, ein Melancholiker altmeisterlichen Formats, in dem doch etwas kindlich Ungestümes rumort.« Oliver Jungen / Frankfurter Allgemeinen Zeitung»Seeland Schneeland ist ein historisch akkurater, ein toller Roman.« Thomas Andre / Hamburger Abendblatt»Mirko Bonné verbindet in Seeland Schneeland den Abenteuerroman à la Jack London mit einer impressionistischen, teils mythischen Auslotung von Gefühlswelten.« Helmut Böttiger / Deutschlandfunk Kultur»Mirko Bonné hat vielleicht eines der bedeutendsten Bücher des Jahres geschrieben.«Hauke Harder / mare»In einem Schneeorkan über dem Nordatlantik vor hundert Jahren beschwört dieser Roman die Kraft der Liebe. Genau die richtige Lektüre für unsere zerbrechliche Gegenwart.« Mareike Ilsemann / WDR 5»Seeland Schneeland ist ein großer Liebeskummerroman, der das Herz wärmt.« Angela Wittmann / Brigitte