Wales im Jahr 1921: Der Erste Weltkrieg und die Spanische Grippe haben gewütet, Europa ist am Boden. Der junge Merce Blackboro ist dem Fronteinsatz in der Antarktis entgangen, leidet jedoch seit seiner Rückkehr von Shackletons gescheiterter Endurance-Expedition unter der heimischen Enge. Umso mehr, als Ennid Muldoon, die Liebe seines Lebens, eines Tages fluchtartig verschwindet, um ihr Glück in Amerika zu suchen. Mit ihr auf demselben Auswandererschiff reist inmitten der Elenden Europas der Tycoon und Trinker Diver Robey, der von einer Flugverbindung zwischen der alten und der neuen Welt träumt. Als der Dampfer in einen gewaltigen Schneesturm gerät und manövrierunfähig auf offener See treibt, scheinen sich die Hoffnungen aller - ob arm oder reich - zu zerschlagen. Merce muss einen Weg finden, Ennid und damit sich selbst zu retten.
In seinem für den Alfred-Döblin-Preis nominierten großen neuen Roman erzählt Mirko Bonné kraftvoll und mitreißend von der verzweifelten Sehnsucht einer Zeit hundert Jahre vor unserer eigenen zerbrechlichen Gegenwart.
In seinem für den Alfred-Döblin-Preis nominierten großen neuen Roman erzählt Mirko Bonné kraftvoll und mitreißend von der verzweifelten Sehnsucht einer Zeit hundert Jahre vor unserer eigenen zerbrechlichen Gegenwart.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Thomas Schaefer scheint geteilter Meinung zu sein über Mirko Bonnés neues Buch, das die Geschichte des Polarreisenden Merce Blackboro aus Bonnés Roman "Der eiskalte Himmel" weitererzählt. Nach der extremen Abenteuerfahrt sucht der Held nun im heimatlichen Newport nach dem Sinn des Lebens, umreißt Schaefer den Inhalt des Buches. Der Roman bedient sich laut Rezensent bekannter Kolportage- und Spannungselemente des Abenteuer- wie des Liebesromans. Das geht laut Schaefer nicht immer reibungslos vonstatten. So blendet der 1921 spielende Text historische Verwerfungen im Nachkriegseuropa einfach aus und verbleibt im Privaten und im Bereich "trivialer Mythen", so Schaefer. Im Ganzen aber findet er die Lektüre spannend, geprägt von packender Atmosphäre und Figurenzeichnung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.02.2021Glückssucher
in schwerem Wetter
Mirko Bonnés neuer Roman „Seeland Schneeland“
Es lohnt sich, für die Lektüre dieses Buches eine gemütliche Leseecke zu finden und sich einen heißen Grog zu machen, um für 440 Seiten in Regen und Nasskälte gewappnet zu sein, die in einer Schneefall- und Schiffskatastrophe enden. Doch es sind nicht nur die harten äußeren Bedingungen, denen die Personen dieser nebeldichten Erzählung ausgesetzt sind, auch das Innere der verschiedenen Protagonisten ist voller nagender Enttäuschung, quälender Vergeblichkeit, hoffnungsschwacher Illusionen und melancholischer Erschöpfung.
Trotzdem gelingt es Mirko Bonné, Jahrgang 1965, mit renommierten Preisen ausgezeichneter Lyriker, Romancier und Übersetzer unter anderem von John Keats, Emily Dickinson, Henry James und Joseph Conrad, dieser Stimmung des Unwirtlichen, Tristen, nahezu Ausweglosen so viele Grauschattierungen und Dämmernuancen abzugewinnen, dass sich sein Personal in dieser Atmosphäre glaubhaft bewegen, seinen Träumen nachhängen und verlorenen Liebesgeschichten nachtrauern kann. Oder es versucht im Februar 1921, all diesen seelischen Beschwernissen endlich zu entkommen.
Da gibt es den jungen Waliser Merce Blackboro, der ein Jahrhundertabenteuer hinter sich hat. Er nahm an der Antarktisexpedition auf der „Endurance“ unter Ernest Shackleton teil, die einerseits dramatisch scheiterte, als das Schiff im Packeis zerdrückt wurde. Andererseits schaffte es Shackleton, der Boss, wie ihn seine Leute nannten, mit schier unglaublicher Durchhaltekraft, nahezu seine gesamte Mannschaft aus scheinbar aussichtsloser Lage zu retten. Davon handelte Bonnés Roman „Der eiskalte Himmel“, der 2006 erschienen ist. Blackboro ist so unsterblich wie unglücklich in die leicht hinkende Ennid Muldoon verliebt, die ihrerseits ihrer großen Liebe nachtrauert, dem in den letzten Tagen des Krieges abgestürzten Flieger Mick.
Merce wie Ennid empfinden die kleine Welt der Hafenstadt Newport, walisisch Casnewydd, als eng, trostlos, zukunftslos. Ennid entschließt sich deshalb aus dem äußeren und inneren Jammertal auszubrechen und besteigt, ohne Abschied zu nehmen, das Dampfschiff „Orion“, das sie nach Amerika bringen soll. Blackboro versucht, sie einzuholen, doch als er in Rotterdam ankommt, ist die Orion schon abgefahren. Niedergeschlagen kehrt er als Verlierer ins heimische Kontor der Schiffszimmerei in Newport zurück. Eltern, Geschwister und Freunde wissen um Blackboros vergebliche Sehnsucht, ohne ihm aus Selbstmitleid und Lebenskrise heraushelfen zu können. Auf dem Auswandererschiff treibt auch der superreiche Amerikaner Diver Robey voll Lebensekel sein beleidigendes Unwesen als ständig vom Gin benebelter Trinker. Zu ihm gehört sein treuer Assistent Bryn Meeks, der sich in den freundlichen japanischen Steward Shimamura verguckt. Robey tut sich mit der dreisten Kristina Merryweather zusammen. Beide legen sich mit dem Kapitän bis hin zu groben Handgreiflichkeiten so heftig an, dass Robey aus krakeelender Trunkenheitslaune heraus das Schiff noch während der Überfahrt kurzerhand kauft und in „Sealand“ umtaufen lässt.
Auf dem Dampfer tummeln sich Passagiere aus allen sozialen Schichten, aus denen Bonné einige exemplarisch herausgreift und in die Geschichten seiner Helden einwebt. Doch die Orion gerät auf der Höhe von Nordschottland in einen endlosen Schneesturm, verliert sogar die Schiffsschraube und hängt zuletzt manövrierunfähig an der Ankerkette. Alles läuft auf ein Unheil zu.
Bonnés Figuren grübeln, träumen sich in eine bessere Zukunft oder erinnern sich nostalgisch an ihre guten alten Zeiten, sie schwanken in ihren Gefühlen zwischen Misstrauen und Vertrauen, Geringschätzung und Überschätzung ihrer selbst, sie prüfen ihre Gesichtszüge in Spiegeln oder wenden sich enttäuscht, manchmal angewidert ab. Dennoch fehlt es ihnen an Kontur, Plastizität, Prägnanz. Sie wirken eher wie die Ausführenden langer bis länglicher Gedankenspiele vor und in den nach ewigem Regen riechenden walisischen Häusern, auf dem schäbigen, in schwerer See stampfenden Schiff.
So eindringlich Bonné den großen Schneefall oder die Dunkelfarben des Meeres zu schildern vermag, so seltsam blass geraten ihm die Protagonisten, obwohl sie oft bis in die zeitgenössische Kleidung und Mode hinein detailreich ausgestattet werden und eigentümliche Sprachhaltungen vorführen. Der späte Auftritt des großen Shackleton hat etwas von Deus ex Machina, wenn er den verzagten Blackboro anfeuert, seine Liebe zu Ennid nicht aufzugeben und dafür auf die Mitfahrt der neu geplanten Expedition zu verzichten: „,Vorbei ist nicht vorbei. Vorbei scheint nur vorbei,‘ erwiderte er: ,Vorbei zu sein gehört zum Anschein der Dinge, die sich lieber verbergen sollen.‘“ Blackboro gehorcht dem Boss und macht sich daher nach Nordschottland auf, um dem havarierten Schiff zu helfen.
Am Ende stellt sich dieser manchmal wohliges Frösteln erzeugende Roman als Geschichte von Leuten heraus, die aus der Enge von Herkunft, Heimat und gesellschaftlicher Rolle entkommen wollen. Die aus ihrer Haut fahren möchten – und doch nicht wirklich vom Fleck kommen. Das ist beabsichtigt und wohl bedacht, denn erst der drohende Schiffsuntergang führt zu unbedingtem Handlungsbedarf. So bleibt die Orion/Sealand zuletzt, wohlvertraut, das Symbol des Lebensschiffs.
HARALD EGGEBRECHT
Manövrierunfähig hängt die
Gesellschaft an der Ankerkette
Mirko Bonné: Seeland Schneeland. Roman. Schöffling, Frankfurt am Main 2021. 448 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in schwerem Wetter
Mirko Bonnés neuer Roman „Seeland Schneeland“
Es lohnt sich, für die Lektüre dieses Buches eine gemütliche Leseecke zu finden und sich einen heißen Grog zu machen, um für 440 Seiten in Regen und Nasskälte gewappnet zu sein, die in einer Schneefall- und Schiffskatastrophe enden. Doch es sind nicht nur die harten äußeren Bedingungen, denen die Personen dieser nebeldichten Erzählung ausgesetzt sind, auch das Innere der verschiedenen Protagonisten ist voller nagender Enttäuschung, quälender Vergeblichkeit, hoffnungsschwacher Illusionen und melancholischer Erschöpfung.
Trotzdem gelingt es Mirko Bonné, Jahrgang 1965, mit renommierten Preisen ausgezeichneter Lyriker, Romancier und Übersetzer unter anderem von John Keats, Emily Dickinson, Henry James und Joseph Conrad, dieser Stimmung des Unwirtlichen, Tristen, nahezu Ausweglosen so viele Grauschattierungen und Dämmernuancen abzugewinnen, dass sich sein Personal in dieser Atmosphäre glaubhaft bewegen, seinen Träumen nachhängen und verlorenen Liebesgeschichten nachtrauern kann. Oder es versucht im Februar 1921, all diesen seelischen Beschwernissen endlich zu entkommen.
Da gibt es den jungen Waliser Merce Blackboro, der ein Jahrhundertabenteuer hinter sich hat. Er nahm an der Antarktisexpedition auf der „Endurance“ unter Ernest Shackleton teil, die einerseits dramatisch scheiterte, als das Schiff im Packeis zerdrückt wurde. Andererseits schaffte es Shackleton, der Boss, wie ihn seine Leute nannten, mit schier unglaublicher Durchhaltekraft, nahezu seine gesamte Mannschaft aus scheinbar aussichtsloser Lage zu retten. Davon handelte Bonnés Roman „Der eiskalte Himmel“, der 2006 erschienen ist. Blackboro ist so unsterblich wie unglücklich in die leicht hinkende Ennid Muldoon verliebt, die ihrerseits ihrer großen Liebe nachtrauert, dem in den letzten Tagen des Krieges abgestürzten Flieger Mick.
Merce wie Ennid empfinden die kleine Welt der Hafenstadt Newport, walisisch Casnewydd, als eng, trostlos, zukunftslos. Ennid entschließt sich deshalb aus dem äußeren und inneren Jammertal auszubrechen und besteigt, ohne Abschied zu nehmen, das Dampfschiff „Orion“, das sie nach Amerika bringen soll. Blackboro versucht, sie einzuholen, doch als er in Rotterdam ankommt, ist die Orion schon abgefahren. Niedergeschlagen kehrt er als Verlierer ins heimische Kontor der Schiffszimmerei in Newport zurück. Eltern, Geschwister und Freunde wissen um Blackboros vergebliche Sehnsucht, ohne ihm aus Selbstmitleid und Lebenskrise heraushelfen zu können. Auf dem Auswandererschiff treibt auch der superreiche Amerikaner Diver Robey voll Lebensekel sein beleidigendes Unwesen als ständig vom Gin benebelter Trinker. Zu ihm gehört sein treuer Assistent Bryn Meeks, der sich in den freundlichen japanischen Steward Shimamura verguckt. Robey tut sich mit der dreisten Kristina Merryweather zusammen. Beide legen sich mit dem Kapitän bis hin zu groben Handgreiflichkeiten so heftig an, dass Robey aus krakeelender Trunkenheitslaune heraus das Schiff noch während der Überfahrt kurzerhand kauft und in „Sealand“ umtaufen lässt.
Auf dem Dampfer tummeln sich Passagiere aus allen sozialen Schichten, aus denen Bonné einige exemplarisch herausgreift und in die Geschichten seiner Helden einwebt. Doch die Orion gerät auf der Höhe von Nordschottland in einen endlosen Schneesturm, verliert sogar die Schiffsschraube und hängt zuletzt manövrierunfähig an der Ankerkette. Alles läuft auf ein Unheil zu.
Bonnés Figuren grübeln, träumen sich in eine bessere Zukunft oder erinnern sich nostalgisch an ihre guten alten Zeiten, sie schwanken in ihren Gefühlen zwischen Misstrauen und Vertrauen, Geringschätzung und Überschätzung ihrer selbst, sie prüfen ihre Gesichtszüge in Spiegeln oder wenden sich enttäuscht, manchmal angewidert ab. Dennoch fehlt es ihnen an Kontur, Plastizität, Prägnanz. Sie wirken eher wie die Ausführenden langer bis länglicher Gedankenspiele vor und in den nach ewigem Regen riechenden walisischen Häusern, auf dem schäbigen, in schwerer See stampfenden Schiff.
So eindringlich Bonné den großen Schneefall oder die Dunkelfarben des Meeres zu schildern vermag, so seltsam blass geraten ihm die Protagonisten, obwohl sie oft bis in die zeitgenössische Kleidung und Mode hinein detailreich ausgestattet werden und eigentümliche Sprachhaltungen vorführen. Der späte Auftritt des großen Shackleton hat etwas von Deus ex Machina, wenn er den verzagten Blackboro anfeuert, seine Liebe zu Ennid nicht aufzugeben und dafür auf die Mitfahrt der neu geplanten Expedition zu verzichten: „,Vorbei ist nicht vorbei. Vorbei scheint nur vorbei,‘ erwiderte er: ,Vorbei zu sein gehört zum Anschein der Dinge, die sich lieber verbergen sollen.‘“ Blackboro gehorcht dem Boss und macht sich daher nach Nordschottland auf, um dem havarierten Schiff zu helfen.
Am Ende stellt sich dieser manchmal wohliges Frösteln erzeugende Roman als Geschichte von Leuten heraus, die aus der Enge von Herkunft, Heimat und gesellschaftlicher Rolle entkommen wollen. Die aus ihrer Haut fahren möchten – und doch nicht wirklich vom Fleck kommen. Das ist beabsichtigt und wohl bedacht, denn erst der drohende Schiffsuntergang führt zu unbedingtem Handlungsbedarf. So bleibt die Orion/Sealand zuletzt, wohlvertraut, das Symbol des Lebensschiffs.
HARALD EGGEBRECHT
Manövrierunfähig hängt die
Gesellschaft an der Ankerkette
Mirko Bonné: Seeland Schneeland. Roman. Schöffling, Frankfurt am Main 2021. 448 Seiten, 24 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2021Warum sind alle nur so vernarrt in diese Ennid?
Das Wetter spricht mit Kinderstimme: Unzeitgemäß ungebrochen erzählt Mirko Bonné im Roman "Seeland Schneeland" von Aufbrüchen und großen Leidenschaften
Kommt in aktuellen Romanen die Witterung zum Tragen, dann zumeist als zivilisationskritischer, womöglich sogar apokalyptischer Unterstrom. Allein deshalb muss Mirko Bonné "Seeland Schneeland" in eine Zeit verlegen, in der der Klimawandel keine Rolle spielt: So kann er dem Wetter wieder jene Funktion zukommen lassen, die es im realistischen Roman innehatte: als untrüglicher Indikator für die Geschicke der Figuren.
Wenn also schon auf den ersten Seiten von "Seeland Schneeland", an einem Februartag des Jahres 1921, Merce Blackboro, den man schon als Teilnehmer der Endurance-Expedition aus Bonnés Roman "Der eiskalte Himmel" aus dem Jahr 2006 kennt, im Kontor der väterlichen Schiffszimmerei sitzt und auf den Dauerregen von Wales schaut, der bereits Überschwemmungen mit Todesfällen verursacht hat, dann kann im Folgenden kaum Zweifel daran aufkommen, dass die mysteriöse Kinderstimme, die Merce im Kopf hat und die von einer Zukunft in einem paradiesisch anmutenden Land spricht, keine prophetische ist.
Ebenso scheint vorherbestimmt, dass es Ennid Muldoon, der wie im Vorgängerroman noch immer Merces unerfüllte Liebe gilt, nicht gelingen wird, in die Vereinigten Staaten überzusetzen, um dort nach dem Tod ihres Verlobten ein neues Leben zu beginnen. Ähnlich wie es dem an Weltekel laborierenden amerikanischen Milliardär Diver Robey nicht vergönnt sein wird, so wie er es sich erträumt, mit dem eigenen Flugzeug den Atlantik zu überqueren. Er muss mit einer Kabine des Auswandererschiffs vorliebnehmen, auf dem auch Ennid eine Koje im überfüllten Gemeinschaftsschlafsaal der dritten Klasse ergattert hat.
Bis vor die Nordostküste Schottlands schafft es der marode Dampfer. Der Regen hat sich in dichten ununterbrochenen Schneefall verwandelt, im Akkord versuchen Mannschaft und männliche Passagiere die weißen Massen ins Wasser zu schieben, die sich ohne Unterlass auf dem Deck sammeln und das Schiff so sehr beschweren, dass Havarie droht. Die Schiffsschraube ist bereits gebrochen. Der Dampfer, vor Anker gegangen, dreht sich nur noch um sich selbst.
Der Erzähltakt Bonnés passt zu diesem Trudeln, zu dieser existentiellen Stagnation, er wird ebenfalls bereits gleich zu Anfang des Romans meteorologisch ins Bild gesetzt, wenn Merce Blackboro aus dem Kontorfenster die Dunkelheit "mit der Geschwindigkeit einer fliehenden Schnecke" aufziehen sieht. Und nicht zuletzt lässt sich bereits hier eine jener Formulierungen finden, mit denen Bücher sich mitunter unfreiwillig selbst zu charakterisieren scheinen: "Gefühlig, detailliert und unterhaltsam", heißt es dort, werde im "South Wales Echo", das auf dem Kontorschreibtisch liegt, von den Kindern und Alten erzählt, die den Überschwemmungen zum Opfer gefallen sind.
Offenbar will Mirko Bonné genau dies: einen mitreißenden historischen Roman erzählen, en détail ausgemalt bis hin zu den Riemchen der Abendtäschchen, die beim Dinner auf dem noblen Deck des Dampfers getragen werden. Und zugleich: einen Roman über ebenso unersättliche wie fatal endende Leidenschaften.
Naheliegend, wenngleich als Referenzgröße nicht unbedingt Ausdruck von Bescheidenheit, dass Bonné seine Ennid, wenn sie nicht gerade Briefe an ihren toten Verlobten schreibt, in Tolstois "Anna Karenina" lesen lässt. Das Motto von "Seeland Schneeland" wiederum stellt mit Boris Pasternak ein anderer russischer Schriftsteller bereit: "Alle Menschen lieben, ohne sich der Einzigartigkeit ihrer Gefühle bewusst zu sein." Ob nicht gerade das Umgekehrte allzu häufig der Fall ist, mag dahingestellt bleiben. Das Tragische an Merce Blackboro, der mit seinem Erfinder die Initialen teilt, aber ist, dass er sich zwar als großen Liebenden wähnt, dass jedoch über die knapp 450 Seiten von "Seeland Schneeland" vollends rätselhaft bleibt, warum er sich nach Ennid verzehrt, die ihn seit Jahren zurückweist und nun sogar auf einen anderen Kontinent umsiedeln will. Wie überhaupt die Faszination, die die junge Frau, die durch einen ärztlichen Fehler ein Bein nachzieht, auch auf andere Menschen ausübt, eine Leerstelle bleibt. Eine Leerstelle allerdings, die mit fortschreitender Lektüre eher ermüdende, denn faszinierende Wirkung entfaltet. Und das gilt generell: Die Leidenschaften, von denen Bonné erzählt, kommen über den Status der Behauptung nicht hinaus. Was schade ist, man hätte sie gern geteilt.
Vielleicht mutet das Ende des Romans deshalb umso schauriger an. Die Passagiere des dem Untergang geweihten Dampfers können, mit wenigen Ausnahmen, gerettet werden. Ennid wirft zuvor das Buch mit den Briefen, die sie an ihren toten Verlobten geschrieben hat, über Bord - und ebenfalls über Bord wirft sie alle Abscheu, die sie bis dato Merce gegenüber gehegt und regelrecht zelebriert hat. Warum sie sich plötzlich fügt, bleibt ungesagt. Wie also soll man diesen Haltungswechsel verstehen? Und vor allem: als was? Als Happy End womöglich? Eher klingt mit dieser Wendung die Drohung des Metzgers Oskar aus Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" nach: Seiner Liebe würde Marianne nicht entkommen. Schicksal möchte man ein solches Ende lieber nicht nennen.
Aber vielleicht besteht gerade in Wendungen wie dieser der Reiz, heutzutage vollends ungebrochen und in dieser epischen Gemächlichkeit und historischen Akkuratesse zu erzählen. Der Eskapismus ermöglicht es jedenfalls, gegenwärtige Diskurse sowie vermeintliche gesellschaftspolitische Be- und Empfindlichkeiten außen vor lassen zu können. Eine literarische Expedition in solcherart Gefilde birgt allerdings nur auf den ersten Blick erzählerische Freiheit. Schwerer wiegt die Gefahr, gerade auch sprachlich im Kulissenhaften und im Klischee zu stranden.
WIEBKE POROMBKA
Mirko Bonné: "Seeland Schneeland". Roman.
Schöffling und Co., Frankfurt am Main 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Wetter spricht mit Kinderstimme: Unzeitgemäß ungebrochen erzählt Mirko Bonné im Roman "Seeland Schneeland" von Aufbrüchen und großen Leidenschaften
Kommt in aktuellen Romanen die Witterung zum Tragen, dann zumeist als zivilisationskritischer, womöglich sogar apokalyptischer Unterstrom. Allein deshalb muss Mirko Bonné "Seeland Schneeland" in eine Zeit verlegen, in der der Klimawandel keine Rolle spielt: So kann er dem Wetter wieder jene Funktion zukommen lassen, die es im realistischen Roman innehatte: als untrüglicher Indikator für die Geschicke der Figuren.
Wenn also schon auf den ersten Seiten von "Seeland Schneeland", an einem Februartag des Jahres 1921, Merce Blackboro, den man schon als Teilnehmer der Endurance-Expedition aus Bonnés Roman "Der eiskalte Himmel" aus dem Jahr 2006 kennt, im Kontor der väterlichen Schiffszimmerei sitzt und auf den Dauerregen von Wales schaut, der bereits Überschwemmungen mit Todesfällen verursacht hat, dann kann im Folgenden kaum Zweifel daran aufkommen, dass die mysteriöse Kinderstimme, die Merce im Kopf hat und die von einer Zukunft in einem paradiesisch anmutenden Land spricht, keine prophetische ist.
Ebenso scheint vorherbestimmt, dass es Ennid Muldoon, der wie im Vorgängerroman noch immer Merces unerfüllte Liebe gilt, nicht gelingen wird, in die Vereinigten Staaten überzusetzen, um dort nach dem Tod ihres Verlobten ein neues Leben zu beginnen. Ähnlich wie es dem an Weltekel laborierenden amerikanischen Milliardär Diver Robey nicht vergönnt sein wird, so wie er es sich erträumt, mit dem eigenen Flugzeug den Atlantik zu überqueren. Er muss mit einer Kabine des Auswandererschiffs vorliebnehmen, auf dem auch Ennid eine Koje im überfüllten Gemeinschaftsschlafsaal der dritten Klasse ergattert hat.
Bis vor die Nordostküste Schottlands schafft es der marode Dampfer. Der Regen hat sich in dichten ununterbrochenen Schneefall verwandelt, im Akkord versuchen Mannschaft und männliche Passagiere die weißen Massen ins Wasser zu schieben, die sich ohne Unterlass auf dem Deck sammeln und das Schiff so sehr beschweren, dass Havarie droht. Die Schiffsschraube ist bereits gebrochen. Der Dampfer, vor Anker gegangen, dreht sich nur noch um sich selbst.
Der Erzähltakt Bonnés passt zu diesem Trudeln, zu dieser existentiellen Stagnation, er wird ebenfalls bereits gleich zu Anfang des Romans meteorologisch ins Bild gesetzt, wenn Merce Blackboro aus dem Kontorfenster die Dunkelheit "mit der Geschwindigkeit einer fliehenden Schnecke" aufziehen sieht. Und nicht zuletzt lässt sich bereits hier eine jener Formulierungen finden, mit denen Bücher sich mitunter unfreiwillig selbst zu charakterisieren scheinen: "Gefühlig, detailliert und unterhaltsam", heißt es dort, werde im "South Wales Echo", das auf dem Kontorschreibtisch liegt, von den Kindern und Alten erzählt, die den Überschwemmungen zum Opfer gefallen sind.
Offenbar will Mirko Bonné genau dies: einen mitreißenden historischen Roman erzählen, en détail ausgemalt bis hin zu den Riemchen der Abendtäschchen, die beim Dinner auf dem noblen Deck des Dampfers getragen werden. Und zugleich: einen Roman über ebenso unersättliche wie fatal endende Leidenschaften.
Naheliegend, wenngleich als Referenzgröße nicht unbedingt Ausdruck von Bescheidenheit, dass Bonné seine Ennid, wenn sie nicht gerade Briefe an ihren toten Verlobten schreibt, in Tolstois "Anna Karenina" lesen lässt. Das Motto von "Seeland Schneeland" wiederum stellt mit Boris Pasternak ein anderer russischer Schriftsteller bereit: "Alle Menschen lieben, ohne sich der Einzigartigkeit ihrer Gefühle bewusst zu sein." Ob nicht gerade das Umgekehrte allzu häufig der Fall ist, mag dahingestellt bleiben. Das Tragische an Merce Blackboro, der mit seinem Erfinder die Initialen teilt, aber ist, dass er sich zwar als großen Liebenden wähnt, dass jedoch über die knapp 450 Seiten von "Seeland Schneeland" vollends rätselhaft bleibt, warum er sich nach Ennid verzehrt, die ihn seit Jahren zurückweist und nun sogar auf einen anderen Kontinent umsiedeln will. Wie überhaupt die Faszination, die die junge Frau, die durch einen ärztlichen Fehler ein Bein nachzieht, auch auf andere Menschen ausübt, eine Leerstelle bleibt. Eine Leerstelle allerdings, die mit fortschreitender Lektüre eher ermüdende, denn faszinierende Wirkung entfaltet. Und das gilt generell: Die Leidenschaften, von denen Bonné erzählt, kommen über den Status der Behauptung nicht hinaus. Was schade ist, man hätte sie gern geteilt.
Vielleicht mutet das Ende des Romans deshalb umso schauriger an. Die Passagiere des dem Untergang geweihten Dampfers können, mit wenigen Ausnahmen, gerettet werden. Ennid wirft zuvor das Buch mit den Briefen, die sie an ihren toten Verlobten geschrieben hat, über Bord - und ebenfalls über Bord wirft sie alle Abscheu, die sie bis dato Merce gegenüber gehegt und regelrecht zelebriert hat. Warum sie sich plötzlich fügt, bleibt ungesagt. Wie also soll man diesen Haltungswechsel verstehen? Und vor allem: als was? Als Happy End womöglich? Eher klingt mit dieser Wendung die Drohung des Metzgers Oskar aus Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" nach: Seiner Liebe würde Marianne nicht entkommen. Schicksal möchte man ein solches Ende lieber nicht nennen.
Aber vielleicht besteht gerade in Wendungen wie dieser der Reiz, heutzutage vollends ungebrochen und in dieser epischen Gemächlichkeit und historischen Akkuratesse zu erzählen. Der Eskapismus ermöglicht es jedenfalls, gegenwärtige Diskurse sowie vermeintliche gesellschaftspolitische Be- und Empfindlichkeiten außen vor lassen zu können. Eine literarische Expedition in solcherart Gefilde birgt allerdings nur auf den ersten Blick erzählerische Freiheit. Schwerer wiegt die Gefahr, gerade auch sprachlich im Kulissenhaften und im Klischee zu stranden.
WIEBKE POROMBKA
Mirko Bonné: "Seeland Schneeland". Roman.
Schöffling und Co., Frankfurt am Main 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein wahrer Schriftsteller des Herzens, ein Melancholiker altmeisterlichen Formats, in dem doch etwas kindlich Ungestümes rumort.« Oliver Jungen, Frankfurter Allgemeinen Zeitung »'Seeland Schneeland' ist ein historisch akkurater, ein toller Roman.« Thomas Andre, Hamburger Abendblatt »Mirko Bonné verbindet in 'Seeland Schneeland' den Abenteuerroman à la Jack London mit einer impressionistischen, teils mythischen Auslotung von Gefühlswelten.« Helmut Böttiger, Deutschlandfunk Kultur »Mirko Bonnés Romane überzeugen durch seine Fähigkeit, historische Fakten mit sensibler Figuren- und Spracharbeit den Fragen des Lebens gegenüberzustellen.« Lisa Kreißler, NDR »Mirko Bonné hat vielleicht eines der bedeutendsten Bücher des Jahres geschrieben.« Hauke Harder, mare »In einem Schneeorkan über dem Nordatlantik vor hundert Jahren beschwört dieser Roman die Kraft der Liebe. Genau die richtige Lektüre für unsere zerbrechliche Gegenwart.« Mareike Ilsemann, WDR 5 »'Seeland Schneeland' ist ein großer Liebeskummerroman, der das Herz wärmt.« Angela Wittmann, Brigitte