"Ein brillanter Erzähler." -- Der Spiegel
"Was das Scheitern anbelangt, das leise Scheitern im Alltag, dem kein dramatisches Leiden folgt, darin ist der 1963 geborene Schweizer Peter Stamm ein literarischer Meister. (...) Auf geradezu prekäre Weise sind die Erzählungen auch darin stimmig, dass sie die Verzagtheit zum natürlichen Lebenszustand der Menschen erklären." -- Karl-Markus Gauss, Die Zeit
Peter Stamm erzählt ungeheuer kunstvoll und scheinbar so einfach von Leben, die nicht gelebt, die aufgeschoben, erinnert und schließlich verpasst werden. In lakonischen Sätzen und unauffällig stimmungsvollen Szenen findet er - leicht lesbar, aber schwer verdaulich - die kaum spürbaren Eruptionen, die sich im Rückblick als Erdbeben erweisen. Die Einsamkeit im gemeinsamen Urlaub. Ein verlassenes Hotel in den Bergen. Ein Mädchen im Wald. Ein Pfarrer, der die Vögel füttert. Die erste Liebe mit Gewicht.
Peter Stamm zeigt sich auch in "Seerücken" wieder als Meister der Kurzgeschichte.
"Was das Scheitern anbelangt, das leise Scheitern im Alltag, dem kein dramatisches Leiden folgt, darin ist der 1963 geborene Schweizer Peter Stamm ein literarischer Meister. (...) Auf geradezu prekäre Weise sind die Erzählungen auch darin stimmig, dass sie die Verzagtheit zum natürlichen Lebenszustand der Menschen erklären." -- Karl-Markus Gauss, Die Zeit
Peter Stamm erzählt ungeheuer kunstvoll und scheinbar so einfach von Leben, die nicht gelebt, die aufgeschoben, erinnert und schließlich verpasst werden. In lakonischen Sätzen und unauffällig stimmungsvollen Szenen findet er - leicht lesbar, aber schwer verdaulich - die kaum spürbaren Eruptionen, die sich im Rückblick als Erdbeben erweisen. Die Einsamkeit im gemeinsamen Urlaub. Ein verlassenes Hotel in den Bergen. Ein Mädchen im Wald. Ein Pfarrer, der die Vögel füttert. Die erste Liebe mit Gewicht.
Peter Stamm zeigt sich auch in "Seerücken" wieder als Meister der Kurzgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Sommergäste ohne Warmwasser
Aber mit stilistischer Vollpension: In seinen neuen Geschichten führt Peter Stamm die Schweizer Kunst des schönen Scheiterns zu neuen Höhen.
Von Daniela Strigl
Peter Stamm gilt als Spezialist des ungelebten Lebens und der gelebten Tristesse. Mit seinem neuen Erzählband bestätigt er diesen Ruf, freilich nicht ohne die schale Existenzsuppe seiner Heldinnen und Helden mit Momenten mysteriöser Intensität zu würzen.
Die erste Geschichte, "Sommergäste", ist vielleicht auch die beste, auf jeden Fall die komischste. Ein Geistesmensch sucht einen ruhigen Platz zum Arbeiten und findet ein hochgelegenes Kurhaus aus besseren Tagen, er ist um Christi Himmelfahrt herum der einzige Gast. Nach und nach muss er feststellen, dass gewisse Einbußen in puncto Bequemlichkeit der Preis für die schöne Ruhe sind: Warmwasser gibt es ebenso wenig wie ein funktionierendes Klosett. Die bereits im Voraus berappte Vollpension besteht aus Apfelmus und Dosenravioli, gewärmt lediglich durch die Strahlen der noch schwachen Maisonne. Weil es keinen Strom gibt, wird aus der geplanten Fertigstellung eines Aufsatzes über die Frauenfiguren in Gorkis "Sommergästen" nichts, der Mann hat seinen Laptop umsonst mitgeschleppt.
Dass er nicht sogleich seinen Rucksack packt und die zwei Stunden zur Bushaltestelle zurückmarschiert, hat mit der eigentümlichen Faszination der bald spröden, bald koketten Wirtin zu tun, die ob der diversen Unzukömmlichkeiten keineswegs zerknirscht wirkt, vielmehr ihrem Gast auf seine Beschwerde hin rät, er solle lieber über sein eigenes Frauenbild nachdenken als über das von Gorki.
An einem Ort, der dem Schauplatz der "Sommergäste" gleicht, wird das revolutionäre Jugendstildrama zum Spielfeld einer Annäherung. Gerade als der Ich-Erzähler zu seiner eigenen Überraschung beginnt, sich in der Atmosphäre spannungsgeladenen Nichtstuns wohl zu fühlen, findet der Primitivurlaub ein jähes Ende. Sinnliche Erfahrung, geborgte Lebensweisheiten, Irritation und Komik sind hier ebenso dezent wie wirkungsvoll verknüpft.
Sommergäste an einem toskanischen Strand sind Alice und Niklaus ("Der Lauf der Dinge"), deren abgenutzte Ehe ausgerechnet durch die Nachbarschaft einer unerträglich lauten Proletenfamilie aus Stuttgart aufpoliert wird. Niklaus verwirklicht seine Phantasien von der stundenlang oben ohne Sudoku lösenden fremden Frau schließlich mit der eigenen Gattin, was bei Alice, die ewig nörgelnd die ganze Welt mit Verachtung straft, eine wundersame Besänftigung bewirkt. Kaum scheint die Beklemmung gewichen zu sein und die angestrengte Ferienroutine sich in einen richtigen Urlaub zu verwandeln, geschieht das Unheimliche nebenan, wo es über Nacht ganz still geworden ist -"Der Lauf der Dinge" eben.
Trotzdem ist hier die Möglichkeit eines Neubeginns zumindest angelegt. Ein klassisches Happy End hat eine einzige der zehn Geschichten, die man nur deshalb nicht Titelgeschichte nennen kann, weil sie zwar auf dem Seerücken, einer Hügelkette am Bodensee, spielt, aber "Siebenschläfer" heißt. Ein Titel, der einem Erzählband offenbar nicht gut ansteht. Der Held jedenfalls, ein Gemüsebauer, ist ein Siebenschläfer, nicht beruflich, aber privat. Zum Akteur von "Bauer sucht Frau" würde er nicht taugen, denn er sucht keine, wenngleich er eine vermisst. Einem Open Air auf der Nachbarwiese verdankt er, dass das Leben doch noch bei ihm vorbeischaut - und diesmal vermasselt er seine Chance nur fast. Der Leser ist dem Autor von Herzen dankbar für diesen Lichtblick im Gewölk.
In seinen Kurzgeschichten führt Peter Stamm die Schweizer Kunst des schönen Scheiterns zu neuen Höhen, selten ist es ein spektakuläres Versagen, meistens ein sachtes Verlöschen von Hoffnung und Zukunft, nicht ohne dass für einen Augenblick das ganz andere Leben als denkmöglich aufgeglommen wäre.
Allzu vorhersehbar geht das in "Der letzte Romantiker" vonstatten, einer Erzählung, deren Protagonistin Sara außerdem dem Klischee der für die Solokarriere leider zu wenig begabten Klavierlehrerin allzu exakt entspricht. Eine Schülerin hat ihr einst einen Philodendron geschenkt, die "formlose Pflanze mit ihren Luftwurzeln, die sinnlos ins Leere hingen, kam Sara vor wie ein Sinnbild ihres Lebens". Man ahnt, dass dem armen Philodendron noch übel mitgespielt werden wird. Als ein talentierter Schüler auf Wunsch seiner Eltern mit dem Klavierunterricht aufhört, reagiert Sara unangebracht empört. Als sie selbst einem Dirigenten vorspielt - Rachmaninow, auf den der sarkastische Titel gemünzt ist -, bekommt sie zu hören, was sie längst ahnt: dass es mit ihrer pianistischen Kunst nicht weit her ist. Erwartungsgemäß rückt Sara ihrem Philodendron mit der Schere zu Leibe und zerschnipselt ihn in kleine Stücke.
Wirklich missglückt ist die längste Erzählung des Bandes, "Im Wald", die mit ihren gut dreißig Seiten den Rahmen der Kurzgeschichte sprengt. Auch begnügt sich der Erzähler hier nicht mit dem prägnanten Daseinsausschnitt, sondern verschränkt die Gegenwart einer im bürgerlichen Leben wurzellosen Frau mit ihrer Kindheit, in der sie eine Zeitlang heimlich im Wald gelebt haben soll. Als Hausfrau und Mutter sieht sie sich überfordert, auch weil ihr soziale Kontakte als "Zeitverschwendung" erscheinen, "ungelebtes Leben, jede Minute, die sie nicht bei sich war". Hier kargt der Erzähler nicht wie sonst mit Erklärungen, die besser unterblieben wären, und die mythologische Aufladung der Geschichte verstärkt noch ihr pathetisches Dröhnen.
Am Schluss führt Peter Stamm in "Sweet Dreams" den Autor in einer eleganten Volte in die von ihm erfundene Geschichte eines jungen Paares ein, das froh ist, der Einsamkeit entkommen zu sein, und doch den eigenen Träumen misstraut. Im Grunde sind alle Erzählungen Variationen jener Einsicht, die Stamm in der ersten Geschichte von Gorki geborgt hat: "Wir sind Sommergäste in unserem Land, irgendwelche Zugereisten. Wir irren geschäftig umher, suchen nach einem bequemen Plätzchen im Leben, tun nichts und reden abscheulich viel."
Peter Stamm: "Seerücken".
Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 192 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber mit stilistischer Vollpension: In seinen neuen Geschichten führt Peter Stamm die Schweizer Kunst des schönen Scheiterns zu neuen Höhen.
Von Daniela Strigl
Peter Stamm gilt als Spezialist des ungelebten Lebens und der gelebten Tristesse. Mit seinem neuen Erzählband bestätigt er diesen Ruf, freilich nicht ohne die schale Existenzsuppe seiner Heldinnen und Helden mit Momenten mysteriöser Intensität zu würzen.
Die erste Geschichte, "Sommergäste", ist vielleicht auch die beste, auf jeden Fall die komischste. Ein Geistesmensch sucht einen ruhigen Platz zum Arbeiten und findet ein hochgelegenes Kurhaus aus besseren Tagen, er ist um Christi Himmelfahrt herum der einzige Gast. Nach und nach muss er feststellen, dass gewisse Einbußen in puncto Bequemlichkeit der Preis für die schöne Ruhe sind: Warmwasser gibt es ebenso wenig wie ein funktionierendes Klosett. Die bereits im Voraus berappte Vollpension besteht aus Apfelmus und Dosenravioli, gewärmt lediglich durch die Strahlen der noch schwachen Maisonne. Weil es keinen Strom gibt, wird aus der geplanten Fertigstellung eines Aufsatzes über die Frauenfiguren in Gorkis "Sommergästen" nichts, der Mann hat seinen Laptop umsonst mitgeschleppt.
Dass er nicht sogleich seinen Rucksack packt und die zwei Stunden zur Bushaltestelle zurückmarschiert, hat mit der eigentümlichen Faszination der bald spröden, bald koketten Wirtin zu tun, die ob der diversen Unzukömmlichkeiten keineswegs zerknirscht wirkt, vielmehr ihrem Gast auf seine Beschwerde hin rät, er solle lieber über sein eigenes Frauenbild nachdenken als über das von Gorki.
An einem Ort, der dem Schauplatz der "Sommergäste" gleicht, wird das revolutionäre Jugendstildrama zum Spielfeld einer Annäherung. Gerade als der Ich-Erzähler zu seiner eigenen Überraschung beginnt, sich in der Atmosphäre spannungsgeladenen Nichtstuns wohl zu fühlen, findet der Primitivurlaub ein jähes Ende. Sinnliche Erfahrung, geborgte Lebensweisheiten, Irritation und Komik sind hier ebenso dezent wie wirkungsvoll verknüpft.
Sommergäste an einem toskanischen Strand sind Alice und Niklaus ("Der Lauf der Dinge"), deren abgenutzte Ehe ausgerechnet durch die Nachbarschaft einer unerträglich lauten Proletenfamilie aus Stuttgart aufpoliert wird. Niklaus verwirklicht seine Phantasien von der stundenlang oben ohne Sudoku lösenden fremden Frau schließlich mit der eigenen Gattin, was bei Alice, die ewig nörgelnd die ganze Welt mit Verachtung straft, eine wundersame Besänftigung bewirkt. Kaum scheint die Beklemmung gewichen zu sein und die angestrengte Ferienroutine sich in einen richtigen Urlaub zu verwandeln, geschieht das Unheimliche nebenan, wo es über Nacht ganz still geworden ist -"Der Lauf der Dinge" eben.
Trotzdem ist hier die Möglichkeit eines Neubeginns zumindest angelegt. Ein klassisches Happy End hat eine einzige der zehn Geschichten, die man nur deshalb nicht Titelgeschichte nennen kann, weil sie zwar auf dem Seerücken, einer Hügelkette am Bodensee, spielt, aber "Siebenschläfer" heißt. Ein Titel, der einem Erzählband offenbar nicht gut ansteht. Der Held jedenfalls, ein Gemüsebauer, ist ein Siebenschläfer, nicht beruflich, aber privat. Zum Akteur von "Bauer sucht Frau" würde er nicht taugen, denn er sucht keine, wenngleich er eine vermisst. Einem Open Air auf der Nachbarwiese verdankt er, dass das Leben doch noch bei ihm vorbeischaut - und diesmal vermasselt er seine Chance nur fast. Der Leser ist dem Autor von Herzen dankbar für diesen Lichtblick im Gewölk.
In seinen Kurzgeschichten führt Peter Stamm die Schweizer Kunst des schönen Scheiterns zu neuen Höhen, selten ist es ein spektakuläres Versagen, meistens ein sachtes Verlöschen von Hoffnung und Zukunft, nicht ohne dass für einen Augenblick das ganz andere Leben als denkmöglich aufgeglommen wäre.
Allzu vorhersehbar geht das in "Der letzte Romantiker" vonstatten, einer Erzählung, deren Protagonistin Sara außerdem dem Klischee der für die Solokarriere leider zu wenig begabten Klavierlehrerin allzu exakt entspricht. Eine Schülerin hat ihr einst einen Philodendron geschenkt, die "formlose Pflanze mit ihren Luftwurzeln, die sinnlos ins Leere hingen, kam Sara vor wie ein Sinnbild ihres Lebens". Man ahnt, dass dem armen Philodendron noch übel mitgespielt werden wird. Als ein talentierter Schüler auf Wunsch seiner Eltern mit dem Klavierunterricht aufhört, reagiert Sara unangebracht empört. Als sie selbst einem Dirigenten vorspielt - Rachmaninow, auf den der sarkastische Titel gemünzt ist -, bekommt sie zu hören, was sie längst ahnt: dass es mit ihrer pianistischen Kunst nicht weit her ist. Erwartungsgemäß rückt Sara ihrem Philodendron mit der Schere zu Leibe und zerschnipselt ihn in kleine Stücke.
Wirklich missglückt ist die längste Erzählung des Bandes, "Im Wald", die mit ihren gut dreißig Seiten den Rahmen der Kurzgeschichte sprengt. Auch begnügt sich der Erzähler hier nicht mit dem prägnanten Daseinsausschnitt, sondern verschränkt die Gegenwart einer im bürgerlichen Leben wurzellosen Frau mit ihrer Kindheit, in der sie eine Zeitlang heimlich im Wald gelebt haben soll. Als Hausfrau und Mutter sieht sie sich überfordert, auch weil ihr soziale Kontakte als "Zeitverschwendung" erscheinen, "ungelebtes Leben, jede Minute, die sie nicht bei sich war". Hier kargt der Erzähler nicht wie sonst mit Erklärungen, die besser unterblieben wären, und die mythologische Aufladung der Geschichte verstärkt noch ihr pathetisches Dröhnen.
Am Schluss führt Peter Stamm in "Sweet Dreams" den Autor in einer eleganten Volte in die von ihm erfundene Geschichte eines jungen Paares ein, das froh ist, der Einsamkeit entkommen zu sein, und doch den eigenen Träumen misstraut. Im Grunde sind alle Erzählungen Variationen jener Einsicht, die Stamm in der ersten Geschichte von Gorki geborgt hat: "Wir sind Sommergäste in unserem Land, irgendwelche Zugereisten. Wir irren geschäftig umher, suchen nach einem bequemen Plätzchen im Leben, tun nichts und reden abscheulich viel."
Peter Stamm: "Seerücken".
Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 192 S., geb., 18,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Für sich genommen besticht jede der zehn virtuos komponierten Erzählungen des Schweizers Peter Stamm durch Ernsthaftigkeit und erträgliche Melancholie, findet der Rezensent Michael Allmaier. Immer wieder aufs Neue schickt der Autor sein Personal in zumeist kleinere Niederlagen, die in ihrer Unvermeidlichkeit schicksalhaft werden. Dabei implementiert er kunstvoll Motive des neunzehnten Jahrhunderts in die Lebenswelt des einundzwanzigsten und dekliniert die Möglichkeiten der Novelle durch, erklärt der Rezensent. Dass diese Übertragung nicht restlos aufgeht und die "Charaktere für die klassische Form zu klein, zu alltäglich sind", gehört zum literarischen Verfahren des Autors: durch das Gefälle entsteht eine interessante Spannung, die den Leser bei der Stange hält. Allerdings verliert der Rezensent durch die Anhäufung der planmäßig eingesetzten Überraschung, die stets zu Lasten der Figuren geht, auch langsam die Geduld, und er fragt sich, ob damit nicht auch die Erwartungen des verwöhnten akademischen Lesepublikums bedient werden: "Wäre die Melancholie so leicht erträglich ohne den Trost, besser dran zu sein als diese verwandten Seelen?"
© Perlentaucher Medien GmbH
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