"Ein brillanter Erzähler." -- Der Spiegel
"Was das Scheitern anbelangt, das leise Scheitern im Alltag, dem kein dramatisches Leiden folgt, darin ist der 1963 geborene Schweizer Peter Stamm ein literarischer Meister. (...) Auf geradezu prekäre Weise sind die Erzählungen auch darin stimmig, dass sie die Verzagtheit zum natürlichen Lebenszustand der Menschen erklären." -- Karl-Markus Gauss, Die Zeit
Peter Stamm erzählt ungeheuer kunstvoll und scheinbar so einfach von Leben, die nicht gelebt, die aufgeschoben, erinnert und schließlich verpasst werden. In lakonischen Sätzen und unauffällig stimmungsvollen Szenen findet er - leicht lesbar, aber schwer verdaulich - die kaum spürbaren Eruptionen, die sich im Rückblick als Erdbeben erweisen. Die Einsamkeit im gemeinsamen Urlaub. Ein verlassenes Hotel in den Bergen. Ein Mädchen im Wald. Ein Pfarrer, der die Vögel füttert. Die erste Liebe mit Gewicht.
Peter Stamm zeigt sich auch in "Seerücken" wieder als Meister der Kurzgeschichte.
"Was das Scheitern anbelangt, das leise Scheitern im Alltag, dem kein dramatisches Leiden folgt, darin ist der 1963 geborene Schweizer Peter Stamm ein literarischer Meister. (...) Auf geradezu prekäre Weise sind die Erzählungen auch darin stimmig, dass sie die Verzagtheit zum natürlichen Lebenszustand der Menschen erklären." -- Karl-Markus Gauss, Die Zeit
Peter Stamm erzählt ungeheuer kunstvoll und scheinbar so einfach von Leben, die nicht gelebt, die aufgeschoben, erinnert und schließlich verpasst werden. In lakonischen Sätzen und unauffällig stimmungsvollen Szenen findet er - leicht lesbar, aber schwer verdaulich - die kaum spürbaren Eruptionen, die sich im Rückblick als Erdbeben erweisen. Die Einsamkeit im gemeinsamen Urlaub. Ein verlassenes Hotel in den Bergen. Ein Mädchen im Wald. Ein Pfarrer, der die Vögel füttert. Die erste Liebe mit Gewicht.
Peter Stamm zeigt sich auch in "Seerücken" wieder als Meister der Kurzgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Sommergäste ohne Warmwasser
Aber mit stilistischer Vollpension: In seinen neuen Geschichten führt Peter Stamm die Schweizer Kunst des schönen Scheiterns zu neuen Höhen.
Von Daniela Strigl
Peter Stamm gilt als Spezialist des ungelebten Lebens und der gelebten Tristesse. Mit seinem neuen Erzählband bestätigt er diesen Ruf, freilich nicht ohne die schale Existenzsuppe seiner Heldinnen und Helden mit Momenten mysteriöser Intensität zu würzen.
Die erste Geschichte, "Sommergäste", ist vielleicht auch die beste, auf jeden Fall die komischste. Ein Geistesmensch sucht einen ruhigen Platz zum Arbeiten und findet ein hochgelegenes Kurhaus aus besseren Tagen, er ist um Christi Himmelfahrt herum der einzige Gast. Nach und nach muss er feststellen, dass gewisse Einbußen in puncto Bequemlichkeit der Preis für die schöne Ruhe sind: Warmwasser gibt es ebenso wenig wie ein funktionierendes Klosett. Die bereits im Voraus berappte Vollpension besteht aus Apfelmus und Dosenravioli, gewärmt lediglich durch die Strahlen der noch schwachen Maisonne. Weil es keinen Strom gibt, wird aus der geplanten Fertigstellung eines Aufsatzes über die Frauenfiguren in Gorkis "Sommergästen" nichts, der Mann hat seinen Laptop umsonst mitgeschleppt.
Dass er nicht sogleich seinen Rucksack packt und die zwei Stunden zur Bushaltestelle zurückmarschiert, hat mit der eigentümlichen Faszination der bald spröden, bald koketten Wirtin zu tun, die ob der diversen Unzukömmlichkeiten keineswegs zerknirscht wirkt, vielmehr ihrem Gast auf seine Beschwerde hin rät, er solle lieber über sein eigenes Frauenbild nachdenken als über das von Gorki.
An einem Ort, der dem Schauplatz der "Sommergäste" gleicht, wird das revolutionäre Jugendstildrama zum Spielfeld einer Annäherung. Gerade als der Ich-Erzähler zu seiner eigenen Überraschung beginnt, sich in der Atmosphäre spannungsgeladenen Nichtstuns wohl zu fühlen, findet der Primitivurlaub ein jähes Ende. Sinnliche Erfahrung, geborgte Lebensweisheiten, Irritation und Komik sind hier ebenso dezent wie wirkungsvoll verknüpft.
Sommergäste an einem toskanischen Strand sind Alice und Niklaus ("Der Lauf der Dinge"), deren abgenutzte Ehe ausgerechnet durch die Nachbarschaft einer unerträglich lauten Proletenfamilie aus Stuttgart aufpoliert wird. Niklaus verwirklicht seine Phantasien von der stundenlang oben ohne Sudoku lösenden fremden Frau schließlich mit der eigenen Gattin, was bei Alice, die ewig nörgelnd die ganze Welt mit Verachtung straft, eine wundersame Besänftigung bewirkt. Kaum scheint die Beklemmung gewichen zu sein und die angestrengte Ferienroutine sich in einen richtigen Urlaub zu verwandeln, geschieht das Unheimliche nebenan, wo es über Nacht ganz still geworden ist -"Der Lauf der Dinge" eben.
Trotzdem ist hier die Möglichkeit eines Neubeginns zumindest angelegt. Ein klassisches Happy End hat eine einzige der zehn Geschichten, die man nur deshalb nicht Titelgeschichte nennen kann, weil sie zwar auf dem Seerücken, einer Hügelkette am Bodensee, spielt, aber "Siebenschläfer" heißt. Ein Titel, der einem Erzählband offenbar nicht gut ansteht. Der Held jedenfalls, ein Gemüsebauer, ist ein Siebenschläfer, nicht beruflich, aber privat. Zum Akteur von "Bauer sucht Frau" würde er nicht taugen, denn er sucht keine, wenngleich er eine vermisst. Einem Open Air auf der Nachbarwiese verdankt er, dass das Leben doch noch bei ihm vorbeischaut - und diesmal vermasselt er seine Chance nur fast. Der Leser ist dem Autor von Herzen dankbar für diesen Lichtblick im Gewölk.
In seinen Kurzgeschichten führt Peter Stamm die Schweizer Kunst des schönen Scheiterns zu neuen Höhen, selten ist es ein spektakuläres Versagen, meistens ein sachtes Verlöschen von Hoffnung und Zukunft, nicht ohne dass für einen Augenblick das ganz andere Leben als denkmöglich aufgeglommen wäre.
Allzu vorhersehbar geht das in "Der letzte Romantiker" vonstatten, einer Erzählung, deren Protagonistin Sara außerdem dem Klischee der für die Solokarriere leider zu wenig begabten Klavierlehrerin allzu exakt entspricht. Eine Schülerin hat ihr einst einen Philodendron geschenkt, die "formlose Pflanze mit ihren Luftwurzeln, die sinnlos ins Leere hingen, kam Sara vor wie ein Sinnbild ihres Lebens". Man ahnt, dass dem armen Philodendron noch übel mitgespielt werden wird. Als ein talentierter Schüler auf Wunsch seiner Eltern mit dem Klavierunterricht aufhört, reagiert Sara unangebracht empört. Als sie selbst einem Dirigenten vorspielt - Rachmaninow, auf den der sarkastische Titel gemünzt ist -, bekommt sie zu hören, was sie längst ahnt: dass es mit ihrer pianistischen Kunst nicht weit her ist. Erwartungsgemäß rückt Sara ihrem Philodendron mit der Schere zu Leibe und zerschnipselt ihn in kleine Stücke.
Wirklich missglückt ist die längste Erzählung des Bandes, "Im Wald", die mit ihren gut dreißig Seiten den Rahmen der Kurzgeschichte sprengt. Auch begnügt sich der Erzähler hier nicht mit dem prägnanten Daseinsausschnitt, sondern verschränkt die Gegenwart einer im bürgerlichen Leben wurzellosen Frau mit ihrer Kindheit, in der sie eine Zeitlang heimlich im Wald gelebt haben soll. Als Hausfrau und Mutter sieht sie sich überfordert, auch weil ihr soziale Kontakte als "Zeitverschwendung" erscheinen, "ungelebtes Leben, jede Minute, die sie nicht bei sich war". Hier kargt der Erzähler nicht wie sonst mit Erklärungen, die besser unterblieben wären, und die mythologische Aufladung der Geschichte verstärkt noch ihr pathetisches Dröhnen.
Am Schluss führt Peter Stamm in "Sweet Dreams" den Autor in einer eleganten Volte in die von ihm erfundene Geschichte eines jungen Paares ein, das froh ist, der Einsamkeit entkommen zu sein, und doch den eigenen Träumen misstraut. Im Grunde sind alle Erzählungen Variationen jener Einsicht, die Stamm in der ersten Geschichte von Gorki geborgt hat: "Wir sind Sommergäste in unserem Land, irgendwelche Zugereisten. Wir irren geschäftig umher, suchen nach einem bequemen Plätzchen im Leben, tun nichts und reden abscheulich viel."
Peter Stamm: "Seerücken".
Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 192 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber mit stilistischer Vollpension: In seinen neuen Geschichten führt Peter Stamm die Schweizer Kunst des schönen Scheiterns zu neuen Höhen.
Von Daniela Strigl
Peter Stamm gilt als Spezialist des ungelebten Lebens und der gelebten Tristesse. Mit seinem neuen Erzählband bestätigt er diesen Ruf, freilich nicht ohne die schale Existenzsuppe seiner Heldinnen und Helden mit Momenten mysteriöser Intensität zu würzen.
Die erste Geschichte, "Sommergäste", ist vielleicht auch die beste, auf jeden Fall die komischste. Ein Geistesmensch sucht einen ruhigen Platz zum Arbeiten und findet ein hochgelegenes Kurhaus aus besseren Tagen, er ist um Christi Himmelfahrt herum der einzige Gast. Nach und nach muss er feststellen, dass gewisse Einbußen in puncto Bequemlichkeit der Preis für die schöne Ruhe sind: Warmwasser gibt es ebenso wenig wie ein funktionierendes Klosett. Die bereits im Voraus berappte Vollpension besteht aus Apfelmus und Dosenravioli, gewärmt lediglich durch die Strahlen der noch schwachen Maisonne. Weil es keinen Strom gibt, wird aus der geplanten Fertigstellung eines Aufsatzes über die Frauenfiguren in Gorkis "Sommergästen" nichts, der Mann hat seinen Laptop umsonst mitgeschleppt.
Dass er nicht sogleich seinen Rucksack packt und die zwei Stunden zur Bushaltestelle zurückmarschiert, hat mit der eigentümlichen Faszination der bald spröden, bald koketten Wirtin zu tun, die ob der diversen Unzukömmlichkeiten keineswegs zerknirscht wirkt, vielmehr ihrem Gast auf seine Beschwerde hin rät, er solle lieber über sein eigenes Frauenbild nachdenken als über das von Gorki.
An einem Ort, der dem Schauplatz der "Sommergäste" gleicht, wird das revolutionäre Jugendstildrama zum Spielfeld einer Annäherung. Gerade als der Ich-Erzähler zu seiner eigenen Überraschung beginnt, sich in der Atmosphäre spannungsgeladenen Nichtstuns wohl zu fühlen, findet der Primitivurlaub ein jähes Ende. Sinnliche Erfahrung, geborgte Lebensweisheiten, Irritation und Komik sind hier ebenso dezent wie wirkungsvoll verknüpft.
Sommergäste an einem toskanischen Strand sind Alice und Niklaus ("Der Lauf der Dinge"), deren abgenutzte Ehe ausgerechnet durch die Nachbarschaft einer unerträglich lauten Proletenfamilie aus Stuttgart aufpoliert wird. Niklaus verwirklicht seine Phantasien von der stundenlang oben ohne Sudoku lösenden fremden Frau schließlich mit der eigenen Gattin, was bei Alice, die ewig nörgelnd die ganze Welt mit Verachtung straft, eine wundersame Besänftigung bewirkt. Kaum scheint die Beklemmung gewichen zu sein und die angestrengte Ferienroutine sich in einen richtigen Urlaub zu verwandeln, geschieht das Unheimliche nebenan, wo es über Nacht ganz still geworden ist -"Der Lauf der Dinge" eben.
Trotzdem ist hier die Möglichkeit eines Neubeginns zumindest angelegt. Ein klassisches Happy End hat eine einzige der zehn Geschichten, die man nur deshalb nicht Titelgeschichte nennen kann, weil sie zwar auf dem Seerücken, einer Hügelkette am Bodensee, spielt, aber "Siebenschläfer" heißt. Ein Titel, der einem Erzählband offenbar nicht gut ansteht. Der Held jedenfalls, ein Gemüsebauer, ist ein Siebenschläfer, nicht beruflich, aber privat. Zum Akteur von "Bauer sucht Frau" würde er nicht taugen, denn er sucht keine, wenngleich er eine vermisst. Einem Open Air auf der Nachbarwiese verdankt er, dass das Leben doch noch bei ihm vorbeischaut - und diesmal vermasselt er seine Chance nur fast. Der Leser ist dem Autor von Herzen dankbar für diesen Lichtblick im Gewölk.
In seinen Kurzgeschichten führt Peter Stamm die Schweizer Kunst des schönen Scheiterns zu neuen Höhen, selten ist es ein spektakuläres Versagen, meistens ein sachtes Verlöschen von Hoffnung und Zukunft, nicht ohne dass für einen Augenblick das ganz andere Leben als denkmöglich aufgeglommen wäre.
Allzu vorhersehbar geht das in "Der letzte Romantiker" vonstatten, einer Erzählung, deren Protagonistin Sara außerdem dem Klischee der für die Solokarriere leider zu wenig begabten Klavierlehrerin allzu exakt entspricht. Eine Schülerin hat ihr einst einen Philodendron geschenkt, die "formlose Pflanze mit ihren Luftwurzeln, die sinnlos ins Leere hingen, kam Sara vor wie ein Sinnbild ihres Lebens". Man ahnt, dass dem armen Philodendron noch übel mitgespielt werden wird. Als ein talentierter Schüler auf Wunsch seiner Eltern mit dem Klavierunterricht aufhört, reagiert Sara unangebracht empört. Als sie selbst einem Dirigenten vorspielt - Rachmaninow, auf den der sarkastische Titel gemünzt ist -, bekommt sie zu hören, was sie längst ahnt: dass es mit ihrer pianistischen Kunst nicht weit her ist. Erwartungsgemäß rückt Sara ihrem Philodendron mit der Schere zu Leibe und zerschnipselt ihn in kleine Stücke.
Wirklich missglückt ist die längste Erzählung des Bandes, "Im Wald", die mit ihren gut dreißig Seiten den Rahmen der Kurzgeschichte sprengt. Auch begnügt sich der Erzähler hier nicht mit dem prägnanten Daseinsausschnitt, sondern verschränkt die Gegenwart einer im bürgerlichen Leben wurzellosen Frau mit ihrer Kindheit, in der sie eine Zeitlang heimlich im Wald gelebt haben soll. Als Hausfrau und Mutter sieht sie sich überfordert, auch weil ihr soziale Kontakte als "Zeitverschwendung" erscheinen, "ungelebtes Leben, jede Minute, die sie nicht bei sich war". Hier kargt der Erzähler nicht wie sonst mit Erklärungen, die besser unterblieben wären, und die mythologische Aufladung der Geschichte verstärkt noch ihr pathetisches Dröhnen.
Am Schluss führt Peter Stamm in "Sweet Dreams" den Autor in einer eleganten Volte in die von ihm erfundene Geschichte eines jungen Paares ein, das froh ist, der Einsamkeit entkommen zu sein, und doch den eigenen Träumen misstraut. Im Grunde sind alle Erzählungen Variationen jener Einsicht, die Stamm in der ersten Geschichte von Gorki geborgt hat: "Wir sind Sommergäste in unserem Land, irgendwelche Zugereisten. Wir irren geschäftig umher, suchen nach einem bequemen Plätzchen im Leben, tun nichts und reden abscheulich viel."
Peter Stamm: "Seerücken".
Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 192 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2011Die Lehre des Waldes
Wer auszubrechen versucht, wird wieder eingefangen: Peter Stamms neue Erzählungen „Seerücken“
Die Ein-Buch-These ist nicht selten die schlimmste, die einen Autor treffen kann. Hinter der Behauptung, da schreibe einer seit Jahren ein und dasselbe Buch nur auf etwas andere Weise, verbirgt sich der Verdacht ästhetischer Unflexibilität. Im Falle des Schweizers Peter Stamm ist es schwierig und ein Vergnügen zugleich, die Ein-Buch-These zu widerlegen. Denn ja, auch in den zehn Erzählungen des neuen Bandes „Seerücken“, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, erkennt man den Tonfall sofort; fühlt sich auf Anhieb ein in die Kargheit und Tristesse der erzählten Leben, die mit knappen Sätzen auskommen müssen, weil sie über sich selbst so wenig zu sagen haben. Peter Stamm hat die Kühle und die Distanz zur Maxime erhoben.
Und doch – bei einer vergleichenden Lektüre von Stamms vor zwölf Jahren erschienenem, zu Recht gefeierten Debüt „Blitzeis“ mit dem neuen Band ist zu erkennen, welche Entwicklung seine Prosa seither genommen hat. Die Differenz liegt in den Nuancen, aber auf die kommt es an. Stamm macht mehr Worte als zu seiner Anfangszeit; aber noch immer ist keines davon überflüssig. Mehr als je zuvor komprimiert er in seinen besten Momenten einen ganzen Romanstoff auf wenige Seiten, so beispielsweise in der Auftakterzählung „Sommergäste“: Ein Slawist zieht sich in die Abgeschiedenheit eines alten Kurhotels zurück, um in Ruhe an einer Arbeit über die Frauenfiguren in Gorkis Dramen zu arbeiten.
Von Beginn an schwebt über dem Haus ein Gefühl von Verlorenheit und Verfall. Weder gibt es fließendes Wasser noch Strom; die junge, nicht eben freundliche Verwalterin serviert ausschließlich kalte Ravioli aus der Dose; die Zimmer sind karg, der Balkon über dem Abgrund bröckelt. Trotzdem bleibt der Erzähler, bis Ana, die vermeintliche Besitzerin, eines Tages spurlos verschwindet und dem Gast mitgeteilt wird, das Hotel sei geschlossen und stehe zum Verkauf. In der Zwischenzeit hat Stamm ein untergründiges Netz von Unsicherheiten und Abhängigkeiten geknüpft.
Weil er einen literarischen Zugriff auf das Unausgesprochene und das Unaussprechliche gefunden hat, haben all diese Erzählungen unter ihrer Alltagsoberfläche, die oft nüchtern, geradezu pedantisch verwaltet wird, ein Geheimnis. Psychische Verschiebungen finden in „Seerücken“ ihre Entsprechungen in den Verrichtungen des Arbeitslebens und in der Routine einer durchorganisierten Welt. Wer versucht, daraus auszubrechen, wird wieder eingefangen.
So geht es Anja, der Protagonistin der Erzählung „Im Wald“, der längsten des Bandes. „Ich habe im Wald gelebt“, heißt es, „drei Jahre lang, mehr sagte Anja auch später zu diesem Thema nicht“. Anja, die stets versucht hat, Anschluss an die Menschheit zu halten und an der Kraftanstrengung des Funktionierenmüssens scheitert, zieht sich zurück: „Im Wald gibt es keine Zukunft und keine Vergangenheit, alles findet im Moment statt oder über Zeiträume, die nicht in Jahren gemessen werden können.“
Schon in „Blitzeis“ gibt es eine Erzählung mit dem Titel „Jedermannsrecht“, in der der Wald auftaucht: „Jeder dürfe hier im Wald und auf den Flüssen sein, dürfe Pilze sammeln und Holz für den eigenen Gebrauch. (. . .) Wie die Tiere, ganz frei und ohne Geld.“ Die Verbindungslinien innerhalb des Stamm’schen Kosmos sind evident; allerdings ist Stamm konsequenter, unerbittlicher und, spätestens mit dem Roman „Sieben Jahre“, auch unheimlicher geworden: Anja jedenfalls endet Jahre, nachdem sie im Wald aufgegriffen und sozusagen redomestiziert wurde, als verlassene Ehefrau, der die eigenen Kinder fremd sind.
Immer wieder prallen in „Seerücken“ Epiphanien des Augenblicks, kurze Glückserfahrungen des Unmittelbaren, auf die Zwänge kultureller und sozialer Konstruktionen. In ihren Berufen fühlen sich die Stamm-Figuren zumeist nicht recht wohl, sei es die Klavierlehrerin, die um Anerkennung als Konzertpianistin kämpft; sei es der junge Ökobauer, der sein Dasein in einer akribischen Statistik von Wetter- und Ertragsdaten verwaltet. Im Dorf reden sie mit ihm wie mit einem Alten; eine Frau hat er nicht; woher er sie nehmen sollte, weiß er nicht: „Er war Mitglied des Schützenvereins, aber der nahm keine Frauen auf. Im Turnverein wurde ihm zu viel getrunken und zu wenig geturnt, und in den Chor mochte er nicht gehen, obwohl er gerne sang.“ Hin und wieder möchte man fast lachen über all die leeren Existenzen, wenn sie in ihrer Selbstverständlichkeit nicht so verstörend wären, so hoffnungslos eingesponnen in sich selbst.
Die Vorstellung einer Gegenwelt bleibt unausgesprochen, bestenfalls angedeutet. Oder sie spiegelt sich in den Katastrophen der anderen. Nichts an Peter Stamms Erzählungen ist zufällig; die Motivketten sind ebenso sorgfältig arrangiert wie die intertextuellen Verweise. Trotz oder auch gerade wegen ihrer scharfen Präzision führt jede einzelne der zehn Erzählungen in „Seerücken“ ein formidables Eigenleben. So eintönig die Welt jeder einzelnen Figur, sei sie jung oder alt, männlich oder weiblich, auf den ersten Blick auch sein mag, so variantenreich ist Stamm in der Beherrschung der literarischen Mittel. Der Boden des Realismus, auf dem seine Texte stehen, ist schwankend. Darunter lauert das Dämonische. Darin hat Peter Stamm sich bis zur Perfektion ausgebildet. CHRISTOPH SCHRÖDER
PETER STAMM: Seerücken. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 192 Seiten, 18,95 Euro.
„Im Wald gibt es keine Zukunft und keine Vergangenheit, alles findet im Moment statt oder über Zeiträume, die nicht in Jahren gemessen werden können.“ Foto: wsg
Peter Stamm Foto: Jürgen Bauer
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Wer auszubrechen versucht, wird wieder eingefangen: Peter Stamms neue Erzählungen „Seerücken“
Die Ein-Buch-These ist nicht selten die schlimmste, die einen Autor treffen kann. Hinter der Behauptung, da schreibe einer seit Jahren ein und dasselbe Buch nur auf etwas andere Weise, verbirgt sich der Verdacht ästhetischer Unflexibilität. Im Falle des Schweizers Peter Stamm ist es schwierig und ein Vergnügen zugleich, die Ein-Buch-These zu widerlegen. Denn ja, auch in den zehn Erzählungen des neuen Bandes „Seerücken“, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, erkennt man den Tonfall sofort; fühlt sich auf Anhieb ein in die Kargheit und Tristesse der erzählten Leben, die mit knappen Sätzen auskommen müssen, weil sie über sich selbst so wenig zu sagen haben. Peter Stamm hat die Kühle und die Distanz zur Maxime erhoben.
Und doch – bei einer vergleichenden Lektüre von Stamms vor zwölf Jahren erschienenem, zu Recht gefeierten Debüt „Blitzeis“ mit dem neuen Band ist zu erkennen, welche Entwicklung seine Prosa seither genommen hat. Die Differenz liegt in den Nuancen, aber auf die kommt es an. Stamm macht mehr Worte als zu seiner Anfangszeit; aber noch immer ist keines davon überflüssig. Mehr als je zuvor komprimiert er in seinen besten Momenten einen ganzen Romanstoff auf wenige Seiten, so beispielsweise in der Auftakterzählung „Sommergäste“: Ein Slawist zieht sich in die Abgeschiedenheit eines alten Kurhotels zurück, um in Ruhe an einer Arbeit über die Frauenfiguren in Gorkis Dramen zu arbeiten.
Von Beginn an schwebt über dem Haus ein Gefühl von Verlorenheit und Verfall. Weder gibt es fließendes Wasser noch Strom; die junge, nicht eben freundliche Verwalterin serviert ausschließlich kalte Ravioli aus der Dose; die Zimmer sind karg, der Balkon über dem Abgrund bröckelt. Trotzdem bleibt der Erzähler, bis Ana, die vermeintliche Besitzerin, eines Tages spurlos verschwindet und dem Gast mitgeteilt wird, das Hotel sei geschlossen und stehe zum Verkauf. In der Zwischenzeit hat Stamm ein untergründiges Netz von Unsicherheiten und Abhängigkeiten geknüpft.
Weil er einen literarischen Zugriff auf das Unausgesprochene und das Unaussprechliche gefunden hat, haben all diese Erzählungen unter ihrer Alltagsoberfläche, die oft nüchtern, geradezu pedantisch verwaltet wird, ein Geheimnis. Psychische Verschiebungen finden in „Seerücken“ ihre Entsprechungen in den Verrichtungen des Arbeitslebens und in der Routine einer durchorganisierten Welt. Wer versucht, daraus auszubrechen, wird wieder eingefangen.
So geht es Anja, der Protagonistin der Erzählung „Im Wald“, der längsten des Bandes. „Ich habe im Wald gelebt“, heißt es, „drei Jahre lang, mehr sagte Anja auch später zu diesem Thema nicht“. Anja, die stets versucht hat, Anschluss an die Menschheit zu halten und an der Kraftanstrengung des Funktionierenmüssens scheitert, zieht sich zurück: „Im Wald gibt es keine Zukunft und keine Vergangenheit, alles findet im Moment statt oder über Zeiträume, die nicht in Jahren gemessen werden können.“
Schon in „Blitzeis“ gibt es eine Erzählung mit dem Titel „Jedermannsrecht“, in der der Wald auftaucht: „Jeder dürfe hier im Wald und auf den Flüssen sein, dürfe Pilze sammeln und Holz für den eigenen Gebrauch. (. . .) Wie die Tiere, ganz frei und ohne Geld.“ Die Verbindungslinien innerhalb des Stamm’schen Kosmos sind evident; allerdings ist Stamm konsequenter, unerbittlicher und, spätestens mit dem Roman „Sieben Jahre“, auch unheimlicher geworden: Anja jedenfalls endet Jahre, nachdem sie im Wald aufgegriffen und sozusagen redomestiziert wurde, als verlassene Ehefrau, der die eigenen Kinder fremd sind.
Immer wieder prallen in „Seerücken“ Epiphanien des Augenblicks, kurze Glückserfahrungen des Unmittelbaren, auf die Zwänge kultureller und sozialer Konstruktionen. In ihren Berufen fühlen sich die Stamm-Figuren zumeist nicht recht wohl, sei es die Klavierlehrerin, die um Anerkennung als Konzertpianistin kämpft; sei es der junge Ökobauer, der sein Dasein in einer akribischen Statistik von Wetter- und Ertragsdaten verwaltet. Im Dorf reden sie mit ihm wie mit einem Alten; eine Frau hat er nicht; woher er sie nehmen sollte, weiß er nicht: „Er war Mitglied des Schützenvereins, aber der nahm keine Frauen auf. Im Turnverein wurde ihm zu viel getrunken und zu wenig geturnt, und in den Chor mochte er nicht gehen, obwohl er gerne sang.“ Hin und wieder möchte man fast lachen über all die leeren Existenzen, wenn sie in ihrer Selbstverständlichkeit nicht so verstörend wären, so hoffnungslos eingesponnen in sich selbst.
Die Vorstellung einer Gegenwelt bleibt unausgesprochen, bestenfalls angedeutet. Oder sie spiegelt sich in den Katastrophen der anderen. Nichts an Peter Stamms Erzählungen ist zufällig; die Motivketten sind ebenso sorgfältig arrangiert wie die intertextuellen Verweise. Trotz oder auch gerade wegen ihrer scharfen Präzision führt jede einzelne der zehn Erzählungen in „Seerücken“ ein formidables Eigenleben. So eintönig die Welt jeder einzelnen Figur, sei sie jung oder alt, männlich oder weiblich, auf den ersten Blick auch sein mag, so variantenreich ist Stamm in der Beherrschung der literarischen Mittel. Der Boden des Realismus, auf dem seine Texte stehen, ist schwankend. Darunter lauert das Dämonische. Darin hat Peter Stamm sich bis zur Perfektion ausgebildet. CHRISTOPH SCHRÖDER
PETER STAMM: Seerücken. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 192 Seiten, 18,95 Euro.
„Im Wald gibt es keine Zukunft und keine Vergangenheit, alles findet im Moment statt oder über Zeiträume, die nicht in Jahren gemessen werden können.“ Foto: wsg
Peter Stamm Foto: Jürgen Bauer
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Für sich genommen besticht jede der zehn virtuos komponierten Erzählungen des Schweizers Peter Stamm durch Ernsthaftigkeit und erträgliche Melancholie, findet der Rezensent Michael Allmaier. Immer wieder aufs Neue schickt der Autor sein Personal in zumeist kleinere Niederlagen, die in ihrer Unvermeidlichkeit schicksalhaft werden. Dabei implementiert er kunstvoll Motive des neunzehnten Jahrhunderts in die Lebenswelt des einundzwanzigsten und dekliniert die Möglichkeiten der Novelle durch, erklärt der Rezensent. Dass diese Übertragung nicht restlos aufgeht und die "Charaktere für die klassische Form zu klein, zu alltäglich sind", gehört zum literarischen Verfahren des Autors: durch das Gefälle entsteht eine interessante Spannung, die den Leser bei der Stange hält. Allerdings verliert der Rezensent durch die Anhäufung der planmäßig eingesetzten Überraschung, die stets zu Lasten der Figuren geht, auch langsam die Geduld, und er fragt sich, ob damit nicht auch die Erwartungen des verwöhnten akademischen Lesepublikums bedient werden: "Wäre die Melancholie so leicht erträglich ohne den Trost, besser dran zu sein als diese verwandten Seelen?"
© Perlentaucher Medien GmbH
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