In dem Buch SEESUCHT - Portraits (fast) aller Ostseefischer haben wir in monatelangen Reisen, insgesamt 228 Portraits von Fischern an der deutschen Ostseeküste fotografiert. Dies sind fast 90% aller derzeit noch aktiven Haupterwerbsfischer. In insgesamt acht Kapiteln reisen wir mit dem Betrachter noch einmal entlang der Küste von West nach Ost, von Flensburg bis Usedom und zeigen dabei alle von uns fotografierten Fischer in teils großformatigen Abbildungen. Eine Auswahl von über 30 Fischern erzählt in einzelnen Anekdoten von der Arbeit auf See und in jedem Kapitel führt uns eine Reportage noch näher an regionale Besonderheiten der Fischerei heran.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2020Die Letzten ihrer Art
Der Klimawandel mindert den Fischbestand der Ostsee so sehr, dass nur noch wenige Fischer davon werden leben können. Ein neuer Fotoband porträtiert nun (fast) alle von denen, die noch da sind.
Von Andrea Jeska, Fotos Franz Bischof und Jan Kuchenbecker
Falko und Rene Spreer, Vater und Sohn, glauben an die Zukunft. Angesichts des Untergangsstrudels, in dem sie sich befinden, ist das erstaunlich, und man weiß nicht genau, ob dieser Glaube dem Trotz oder dem Überlebenswillen entspringt. Ihr Fischbistro hat seine besten Zeiten längst hinter sich oder einfach nie beste Zeiten gehabt, man weiß es nicht. Die melancholische Tristesse, die in der Gaststube hängt wie leichter Nebel, zeugt davon, dass der Herbst der Ostsee-Fischerei gekommen ist.
Falko und Rene Spreer sind Stellnetzfischer in der Gemeinde Dranske auf Rügen. Sie gehören zu den Letzten, die ihr Boot noch an der Westküste der Insel liegen haben. 600 Kilo Fisch fangen sie im Jahr mit ihrer "Poseidon"; das Bistro, ihr zweites Standbein, ist zugleich auch Abnehmer dieses Fangs. Denn der Großhandel, sagt Falko Spreer, bezahle nur "in Pfennigen, da haben wir nicht einmal den Preis für Diesel wieder rein".
Falko Spreers Lieblingssatz lautet: "Da bin ich norddeutsch stur." Stur ist er, wenn es um die Fischereipolitik geht; in die hat er das Vertrauen verloren. Stur ist er, wenn es um die Genossenschaften geht, denen er nicht angehört, weil die "einem ohnehin nicht helfen". Wenn es um Fördermittel und Ausgleichszahlungen geht, die er nicht beantragt, weil das alles nur "Augenwischerei" sei. Und weil er so norddeutsch stur ist, fischt er mit seinem Sohn jedes Frühjahr und jeden Herbst allein und versucht, sich so buchstäblich über Wasser zu halten. "Von Fischerei allein kann sich heute keiner mehr ernähren", sagt der Vater, und der Sohn nickt dazu. Die Vision, mit der die Spreers die Zukunft der Familie sichern wollen, heißt "Aquaponik": die Verbindung von Fischzucht und Gemüseanbau in einem geschlossenen ökologischen System.
Wenn man an einem Ort wie Dranske wohnt, weit fort von den Zentren der Innovation, ist Aquaponik eine kühne Idee. Denn Dranske, im Westen der Insel gelegen, ist eine jener Gemeinden, die man als abgehängt bezeichnen könnte, gäbe es den Rügen-Tourismus nicht, der auch bis dorthin schwappt. Im Sommersonnenlicht sind solche Orte Idyll, im Winter geographisch verdichtete Trostlosigkeit. Man muss bescheiden sein, um hier zu überleben, und noch bescheidener, um von dem zu überleben, was das Meer und die Fischereipolitik der EU einem noch in die Netze spült.
"Die Ostsee-Fischerei steht vor dem größten Umbruch seit der Wende." Christoph Zimmermann vom Thünen-Institut in Rostock ist der deutsche Vertreter des International Council for the Exploration of the Sea (ICES), jener wissenschaftlichen Institution, die ihren Sitz in Kopenhagen hat und die Politik in allen Fischereifragen berät. Für die Fischer ist Zimmermann "der Feind", wie er selbst halb belustigt, halb resigniert sagt. Dabei ist der Wissenschaftler alles andere als ein Gegner der Fischerei, die würde er gerne erhalten. Aber er ist Realist, und als solcher weiß er, der Fischbestand der Ostsee reicht nur noch für die Hälfte der heutigen Flotte.
Ob die Spreers zu der überlebensfähigen Hälfte gehören werden? Falko ist einer, wie er im Lied von Jan und Hein und Klaas und Pit vorkommt: ein entschlossener Mann mit Bart. Er lernte die Fischerei, als diese noch ein Beruf mit Zukunft war. Als die Dinge schwarz oder weiß waren. Hier das Meer und die Fischer, harte Männer mit rissigen Händen, die sich Wind und Wellen entgegenstellten, maulfaule Helden der See. Oft romantisiert. Und dort der Rest der Welt, der ernährt werden wollte, den Fisch brauchte, weil der Mensch nicht vom Brot und vom Fleisch allein lebt. Eine Win-win-Situation. Doch so blieb es nicht.
Es kam die Zeit, in der die Fischerei eine Grauzone wurde. Aus den Helden der Meere wurden Ausbeuter, aus Fischen gefährdete Wesen. Schon seit mindestens einem Jahrzehnt erklären die Fischer der Ostsee, das Ende ihrer Zunft sei gekommen, obwohl viele am Fischfang noch wohlhabend wurden. Doch was viele Akte lang währte, endet nun tatsächlich im tragischen Finale. Entlang der Ostseeküste von Flensburg bis nach Usedom gibt es noch ungefähr 270 hauptberufliche Fischer, Mecklenburg-Vorpommern gibt die Zahl der dortigen Fischer mit 212 an, allerdings sind die Nebenerwerbsfischer mitgezählt. 1991 waren es noch 960.
Der rapide Schrumpfungsprozess ist kein Ergebnis von mangelnder Popularität des Fischerberufs - im Gegenteil, die meisten Fischer haben genügend Anfragen, auszubilden -, sondern der immer kleiner werdenden Fischereiquoten, die an die Kutter gekoppelt sind. In diesem Jahr dürfen die Küsten- und Kutterfischer nur noch 1000 Tonnen ihres Brotfischs, des Herings, fangen, 1995 waren es 100 000 Tonnen. Und der Dorschfang ist in Teilen der Ostsee ganz verboten.
Für Falko Spreer und alle anderen älteren Fischer Mecklenburg-Vorpommerns war der Anfang vom Ende bereits die Wende. In der DDR war Rügen ein Zentrum der Fischerei in der Ostsee. In der nordöstlich gelegenen Stadt Sassnitz deckte das VEB Fischkombinat einen großen Teil des Bedarfs der DDR-Bürger; im Jahr 1977 war die Stadt Heimathafen für 48 Kutter über 26 Meter Länge, 15 Frosttrawler und zwei Kühlschiffe. Die Hochseefischer des Kombinats fischten vor den Küsten von Moçambique, Mauretanien und Nova Scotia.
Auch nach der Wiedervereinigung blieb Sassnitz ein Standort der Fischerei und Fischverarbeitung. Doch für die meisten Fischer verschwanden die Sicherheiten. Die Flotte wurde verkauft oder abgewrackt, plötzlich hatten Umweltverbände und Naturschützer ein Wort mitzureden. Plötzlich war man Teil eines Staatenverbunds, der länderübergreifende Gesetze erließ. Viele der alten Fischer waren den neuen Zeiten nicht gewachsen, gaben schon damals auf. Jene, die blieben, änderten nur selten ihren Blick auf die Dinge, ignorierten die ökologischen Veränderungen und deren Konsequenzen.
Gerade mal 300 Kutter sind heute noch registriert, und wie man denken kann, diese könnten die Ostsee leerfischen, das ist eine Frage, die die meisten Fischer so hilflos wie wütend stellen. Dabei geht es nicht ums "Leerfischen", und nicht einmal das ICES gibt den Fischern die Schuld, sondern sieht die Bestandsgefährdung als Folge des Klimawandels. Schon 2018 hat die EU die Quote für den westlichen Hering drastisch gesenkt, weil aufgrund von Sauerstoffmangel in den Tiefen der Ostsee weniger überlebensfähiger Nachwuchs vorhanden war als in den Jahren zuvor kalkuliert. Damals, erzählt Forscher Zimmermann, habe er sich bemüht, den Fischern zu verdeutlichen, dass man den momentanen Bestand schützen müsse, um den künftigen Bestand zu gewährleisten. "Doch die beharrten auf dem, was ihre Augen sahen. Und das waren riesige Heringsschwärme."
Dabei geht es schon lange nicht mehr allein um Hering und Dorsch, es geht auch um Macht. Es ist eine Art David-gegen-Goliath-Geschichte. Die Verhältnisse mögen zu bewältigen sein für die großen Fischereiunternehmen, jene, die Kapital und riesige Trawler haben, Handelsverbindungen und Einsicht in Globalisierungsprozesse. Für die kleinen Fischer, die ihr Handwerk verstehen, aber die Welt nicht mehr, sind diese Machtverhältnisse unerträglich. Sie sehen sich als Opfer eines politischen Systems, das in gnadenlos darwinistischer Manier das Überleben der Stärkeren garantiert.
Im Hafen von Sassnitz, Rügens einst boomendem Fischereihafen, liegen heute nur noch wenige Boote, und fast alle gehören jungen Heißspornen, die als Fischersöhne aufwuchsen und sich einfach nichts anderes vorstellen können als ein Fischerleben. Die - und das unterscheidet sie von den Alten - neben der Liebe zum Beruf auch betriebswirtschaftliche Kalkulation beherrschen. Weil sie für Unternehmen tätig sind, die ihnen die Anlandungen abkaufen, und sie so das Eigenrisiko minimieren.
Ein paar Kilometer im Westen, am Hafen von Schaprode, legen die Schiffe nach Hiddensee ab. Der Gasthof wirbt damit, Günter Grass als Gast gehabt zu haben. Die alten Häuser sind so malerisch, dass sie für Postkarten taugen. In all dieser Gemütlichkeit stört an jenem Mittag das Rangiermanöver eines Lastwagens, eines Vieltonners von einem Fischverarbeitungsbetrieb aus Heiligenhafen. Paul Keppler hat ihn bestellt, um den Fang des Tages abzuholen und zu verkaufen. Keppler ist gerade mal 25 und einer der jüngsten Ostsee-Fischer. Wie die meisten der Fischer ist er kein großer Redner. Am liebsten wäre ihm ein Leben, in dem es nur um Fisch geht. Nicht um "das ganze Drumherum, die Politik, die Quoten, die Anträge, all das nervt".
Kepplers erster Kutter war von seinem Großvater. Die Quote darauf: zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Also kaufte Keppler weitere Boote, vor zwei Jahren den Kutter "Anna Lena", meeresblau, 225 PS stark, 14,38 Meter lang, zurzeit der größte Kutter an der südlichen Ostseeküste. Das Geld liehen ihm seine Eltern. Sieben Tage die Woche ist er jeden Morgen um 4 Uhr auf dem Meer. Manchmal kommt er zwei Wochen nicht an Land. Ob er davon bis zur Rente existieren kann? Er nickt. "Im vergangenen Jahr haben wir gesagt, schlimmer kann es nicht werden. Dieses Jahr ist es schlimmer geworden, und vielleicht wird es nächstes Jahr noch schlimmer. Wir müssen einfach die nächsten Jahre durchhalten. Dann sind es wohl nur noch eine Handvoll. Aber die werden es schaffen."
Über die letzten Fischer entlang der Ostseeküste ist am 11. Mai der Bildband "Seesucht. Porträts (fast) aller Ostseefischer" von Franz Bischof und Jan Kuchenbecker erschienen, dem wir die Fotos hier entnehmen; 272 Seiten, 32 Euro. Die Texte darin sind von der Autorin.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Klimawandel mindert den Fischbestand der Ostsee so sehr, dass nur noch wenige Fischer davon werden leben können. Ein neuer Fotoband porträtiert nun (fast) alle von denen, die noch da sind.
Von Andrea Jeska, Fotos Franz Bischof und Jan Kuchenbecker
Falko und Rene Spreer, Vater und Sohn, glauben an die Zukunft. Angesichts des Untergangsstrudels, in dem sie sich befinden, ist das erstaunlich, und man weiß nicht genau, ob dieser Glaube dem Trotz oder dem Überlebenswillen entspringt. Ihr Fischbistro hat seine besten Zeiten längst hinter sich oder einfach nie beste Zeiten gehabt, man weiß es nicht. Die melancholische Tristesse, die in der Gaststube hängt wie leichter Nebel, zeugt davon, dass der Herbst der Ostsee-Fischerei gekommen ist.
Falko und Rene Spreer sind Stellnetzfischer in der Gemeinde Dranske auf Rügen. Sie gehören zu den Letzten, die ihr Boot noch an der Westküste der Insel liegen haben. 600 Kilo Fisch fangen sie im Jahr mit ihrer "Poseidon"; das Bistro, ihr zweites Standbein, ist zugleich auch Abnehmer dieses Fangs. Denn der Großhandel, sagt Falko Spreer, bezahle nur "in Pfennigen, da haben wir nicht einmal den Preis für Diesel wieder rein".
Falko Spreers Lieblingssatz lautet: "Da bin ich norddeutsch stur." Stur ist er, wenn es um die Fischereipolitik geht; in die hat er das Vertrauen verloren. Stur ist er, wenn es um die Genossenschaften geht, denen er nicht angehört, weil die "einem ohnehin nicht helfen". Wenn es um Fördermittel und Ausgleichszahlungen geht, die er nicht beantragt, weil das alles nur "Augenwischerei" sei. Und weil er so norddeutsch stur ist, fischt er mit seinem Sohn jedes Frühjahr und jeden Herbst allein und versucht, sich so buchstäblich über Wasser zu halten. "Von Fischerei allein kann sich heute keiner mehr ernähren", sagt der Vater, und der Sohn nickt dazu. Die Vision, mit der die Spreers die Zukunft der Familie sichern wollen, heißt "Aquaponik": die Verbindung von Fischzucht und Gemüseanbau in einem geschlossenen ökologischen System.
Wenn man an einem Ort wie Dranske wohnt, weit fort von den Zentren der Innovation, ist Aquaponik eine kühne Idee. Denn Dranske, im Westen der Insel gelegen, ist eine jener Gemeinden, die man als abgehängt bezeichnen könnte, gäbe es den Rügen-Tourismus nicht, der auch bis dorthin schwappt. Im Sommersonnenlicht sind solche Orte Idyll, im Winter geographisch verdichtete Trostlosigkeit. Man muss bescheiden sein, um hier zu überleben, und noch bescheidener, um von dem zu überleben, was das Meer und die Fischereipolitik der EU einem noch in die Netze spült.
"Die Ostsee-Fischerei steht vor dem größten Umbruch seit der Wende." Christoph Zimmermann vom Thünen-Institut in Rostock ist der deutsche Vertreter des International Council for the Exploration of the Sea (ICES), jener wissenschaftlichen Institution, die ihren Sitz in Kopenhagen hat und die Politik in allen Fischereifragen berät. Für die Fischer ist Zimmermann "der Feind", wie er selbst halb belustigt, halb resigniert sagt. Dabei ist der Wissenschaftler alles andere als ein Gegner der Fischerei, die würde er gerne erhalten. Aber er ist Realist, und als solcher weiß er, der Fischbestand der Ostsee reicht nur noch für die Hälfte der heutigen Flotte.
Ob die Spreers zu der überlebensfähigen Hälfte gehören werden? Falko ist einer, wie er im Lied von Jan und Hein und Klaas und Pit vorkommt: ein entschlossener Mann mit Bart. Er lernte die Fischerei, als diese noch ein Beruf mit Zukunft war. Als die Dinge schwarz oder weiß waren. Hier das Meer und die Fischer, harte Männer mit rissigen Händen, die sich Wind und Wellen entgegenstellten, maulfaule Helden der See. Oft romantisiert. Und dort der Rest der Welt, der ernährt werden wollte, den Fisch brauchte, weil der Mensch nicht vom Brot und vom Fleisch allein lebt. Eine Win-win-Situation. Doch so blieb es nicht.
Es kam die Zeit, in der die Fischerei eine Grauzone wurde. Aus den Helden der Meere wurden Ausbeuter, aus Fischen gefährdete Wesen. Schon seit mindestens einem Jahrzehnt erklären die Fischer der Ostsee, das Ende ihrer Zunft sei gekommen, obwohl viele am Fischfang noch wohlhabend wurden. Doch was viele Akte lang währte, endet nun tatsächlich im tragischen Finale. Entlang der Ostseeküste von Flensburg bis nach Usedom gibt es noch ungefähr 270 hauptberufliche Fischer, Mecklenburg-Vorpommern gibt die Zahl der dortigen Fischer mit 212 an, allerdings sind die Nebenerwerbsfischer mitgezählt. 1991 waren es noch 960.
Der rapide Schrumpfungsprozess ist kein Ergebnis von mangelnder Popularität des Fischerberufs - im Gegenteil, die meisten Fischer haben genügend Anfragen, auszubilden -, sondern der immer kleiner werdenden Fischereiquoten, die an die Kutter gekoppelt sind. In diesem Jahr dürfen die Küsten- und Kutterfischer nur noch 1000 Tonnen ihres Brotfischs, des Herings, fangen, 1995 waren es 100 000 Tonnen. Und der Dorschfang ist in Teilen der Ostsee ganz verboten.
Für Falko Spreer und alle anderen älteren Fischer Mecklenburg-Vorpommerns war der Anfang vom Ende bereits die Wende. In der DDR war Rügen ein Zentrum der Fischerei in der Ostsee. In der nordöstlich gelegenen Stadt Sassnitz deckte das VEB Fischkombinat einen großen Teil des Bedarfs der DDR-Bürger; im Jahr 1977 war die Stadt Heimathafen für 48 Kutter über 26 Meter Länge, 15 Frosttrawler und zwei Kühlschiffe. Die Hochseefischer des Kombinats fischten vor den Küsten von Moçambique, Mauretanien und Nova Scotia.
Auch nach der Wiedervereinigung blieb Sassnitz ein Standort der Fischerei und Fischverarbeitung. Doch für die meisten Fischer verschwanden die Sicherheiten. Die Flotte wurde verkauft oder abgewrackt, plötzlich hatten Umweltverbände und Naturschützer ein Wort mitzureden. Plötzlich war man Teil eines Staatenverbunds, der länderübergreifende Gesetze erließ. Viele der alten Fischer waren den neuen Zeiten nicht gewachsen, gaben schon damals auf. Jene, die blieben, änderten nur selten ihren Blick auf die Dinge, ignorierten die ökologischen Veränderungen und deren Konsequenzen.
Gerade mal 300 Kutter sind heute noch registriert, und wie man denken kann, diese könnten die Ostsee leerfischen, das ist eine Frage, die die meisten Fischer so hilflos wie wütend stellen. Dabei geht es nicht ums "Leerfischen", und nicht einmal das ICES gibt den Fischern die Schuld, sondern sieht die Bestandsgefährdung als Folge des Klimawandels. Schon 2018 hat die EU die Quote für den westlichen Hering drastisch gesenkt, weil aufgrund von Sauerstoffmangel in den Tiefen der Ostsee weniger überlebensfähiger Nachwuchs vorhanden war als in den Jahren zuvor kalkuliert. Damals, erzählt Forscher Zimmermann, habe er sich bemüht, den Fischern zu verdeutlichen, dass man den momentanen Bestand schützen müsse, um den künftigen Bestand zu gewährleisten. "Doch die beharrten auf dem, was ihre Augen sahen. Und das waren riesige Heringsschwärme."
Dabei geht es schon lange nicht mehr allein um Hering und Dorsch, es geht auch um Macht. Es ist eine Art David-gegen-Goliath-Geschichte. Die Verhältnisse mögen zu bewältigen sein für die großen Fischereiunternehmen, jene, die Kapital und riesige Trawler haben, Handelsverbindungen und Einsicht in Globalisierungsprozesse. Für die kleinen Fischer, die ihr Handwerk verstehen, aber die Welt nicht mehr, sind diese Machtverhältnisse unerträglich. Sie sehen sich als Opfer eines politischen Systems, das in gnadenlos darwinistischer Manier das Überleben der Stärkeren garantiert.
Im Hafen von Sassnitz, Rügens einst boomendem Fischereihafen, liegen heute nur noch wenige Boote, und fast alle gehören jungen Heißspornen, die als Fischersöhne aufwuchsen und sich einfach nichts anderes vorstellen können als ein Fischerleben. Die - und das unterscheidet sie von den Alten - neben der Liebe zum Beruf auch betriebswirtschaftliche Kalkulation beherrschen. Weil sie für Unternehmen tätig sind, die ihnen die Anlandungen abkaufen, und sie so das Eigenrisiko minimieren.
Ein paar Kilometer im Westen, am Hafen von Schaprode, legen die Schiffe nach Hiddensee ab. Der Gasthof wirbt damit, Günter Grass als Gast gehabt zu haben. Die alten Häuser sind so malerisch, dass sie für Postkarten taugen. In all dieser Gemütlichkeit stört an jenem Mittag das Rangiermanöver eines Lastwagens, eines Vieltonners von einem Fischverarbeitungsbetrieb aus Heiligenhafen. Paul Keppler hat ihn bestellt, um den Fang des Tages abzuholen und zu verkaufen. Keppler ist gerade mal 25 und einer der jüngsten Ostsee-Fischer. Wie die meisten der Fischer ist er kein großer Redner. Am liebsten wäre ihm ein Leben, in dem es nur um Fisch geht. Nicht um "das ganze Drumherum, die Politik, die Quoten, die Anträge, all das nervt".
Kepplers erster Kutter war von seinem Großvater. Die Quote darauf: zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Also kaufte Keppler weitere Boote, vor zwei Jahren den Kutter "Anna Lena", meeresblau, 225 PS stark, 14,38 Meter lang, zurzeit der größte Kutter an der südlichen Ostseeküste. Das Geld liehen ihm seine Eltern. Sieben Tage die Woche ist er jeden Morgen um 4 Uhr auf dem Meer. Manchmal kommt er zwei Wochen nicht an Land. Ob er davon bis zur Rente existieren kann? Er nickt. "Im vergangenen Jahr haben wir gesagt, schlimmer kann es nicht werden. Dieses Jahr ist es schlimmer geworden, und vielleicht wird es nächstes Jahr noch schlimmer. Wir müssen einfach die nächsten Jahre durchhalten. Dann sind es wohl nur noch eine Handvoll. Aber die werden es schaffen."
Über die letzten Fischer entlang der Ostseeküste ist am 11. Mai der Bildband "Seesucht. Porträts (fast) aller Ostseefischer" von Franz Bischof und Jan Kuchenbecker erschienen, dem wir die Fotos hier entnehmen; 272 Seiten, 32 Euro. Die Texte darin sind von der Autorin.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main