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Die erste Pizza, die erste Erektion, das erste Mal mit Euro zahlen alles ist immer weniger großartig, als man es sich vorgestellt hatte. Vom ersten Mal Sex ganz zu schweigen der Held in Arnold Stadlers Roman »Sehnsucht« hat es natürlich mit der Falschen getan. Und so geht das immer weiter. Die falschen Ziele, die falschen Freundinnen, falscher Film. Auf der Flucht vor den gesammelten Enttäuschungen, die sein Leben sind, macht sich ein komischer Kauz auf, quer durch Deutschland, ans Meer. Was er erlebt und worüber er so nachdenkt ergibt ein kunterbuntes Panoptikum höchst seltsamer Geschichten.…mehr

Produktbeschreibung
Die erste Pizza, die erste Erektion, das erste Mal mit Euro zahlen alles ist immer weniger großartig, als man es sich vorgestellt hatte. Vom ersten Mal Sex ganz zu schweigen der Held in Arnold Stadlers Roman »Sehnsucht« hat es natürlich mit der Falschen getan. Und so geht das immer weiter. Die falschen Ziele, die falschen Freundinnen, falscher Film. Auf der Flucht vor den gesammelten Enttäuschungen, die sein Leben sind, macht sich ein komischer Kauz auf, quer durch Deutschland, ans Meer. Was er erlebt und worüber er so nachdenkt ergibt ein kunterbuntes Panoptikum höchst seltsamer Geschichten. Arnold Stadler ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart.
Autorenporträt
Arnold Stadler wurde 1954 in Meßkirch geboren und wuchs auf einem Bauernhof im Nachbardorf Rast auf. Er studierte katholische Theologie in München und Rom, anschließend Germanistik in Freiburg und Köln. Seit 1995 lebt er überwiegend in Rast. 1989 erhielt er den Förderungspreis der Jürgen-Ponto-Stiftung. Es folgten zahlreiche weitere Preise und Stipendien. 1999 wurden ihm der Alemannische Literaturpreis und der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Arnold Stadler veröffentlichte bereits einen Gedichtband und mehrere Romane. 2009 erhielt er den Kleist-Preis, im Jahr 2010 den Johann-Peter-Hebel-Preis. 2014 wurde ihm der Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Sauber versaut
Erektionsmelancholie: Arnold Stadlers Versuch über das erste Mal / Von Hannes Hintermeier

Das erste Mal - man weiß es, ahnt es, kennt es - birgt allerlei Gefahren. Das gilt nicht nur für die erste Liebe und den ersten Sex. Das erste Mal ist in allen Lebensbereichen gleichbedeutend mit schwankendem Boden, mit einer Möglichkeitsform zwischen Triumph und Untergang, Glück und Scheitern. Im vorliegenden Fall könnte "das erste Mal" auch heißen: der erste Roman der neuen Zeitrechnung nach dem Büchnerpreis. Arnold Stadler, der solchermaßen geadelte Chronist aus dem "Hinterland des Schmerzes", kehrt drei Jahre nach seinem Roman "Ein hinreißender Schrotthändler" zurück mit einem Ich-Erzähler, dessen erstes Wort "Non!" ist und der als Berufswunsch dem Nikolaus gegenüber "Mami" äußert. Mit einem Erzähler, der sein gut vierzig Jahre andauerndes Leben vor uns ausbreitet, gerade als er im Begriff ist, einen Swinger-Club names "Blue Moon" nahe Fallingbostel anzusteuern. Sehnsucht, soviel räumt der Erzähler ein, ist ein großes Wort.

"Wer versucht, einen Plot zu finden, wird erschossen" - den Satz Mark Twains bemüht Stadler als Kapitelmotto gleich auf Seite 15. Wenn es also keinen Plot gibt, was treibt den Roman dann um? Stadler entfaltet die Geschichte einer unsentimentalen Erziehung, die er "Gehirnwäsche" nennt. Eine Mannwerdung in der ländlichen Abgeschiedenheit des südlichsten Hinterlandes der Welt. Daß der Knabe ziemlich genau den gleichen Jahrgang, das Sternzeichen ("melancholischer Widder") sowie diverse andere Merkmale mit dem Autor gemein hat, ist selbstredend reiner Zufall. Der Rest ist Fiktion. Eingekleidet in eine Rahmenerzählung bundesrepublikanischer Gegenwart, erzählt der mittelalte Mann die Geschichte seiner Lebenssehnsucht. Als die Erzählung einsetzt, ist er als Vortragsreisender von Berlin kommend quer durch die norddeutsche Tiefebene unterwegs. Es ist Vatertag, er ist allein in seinem "Offroader", mit seinem Fernglas und seinem "Sexführer Deutschland".

Nicht viel mehr Irdisches ist dem "katholischen Ferkel" geblieben, dafür hat er eine stattliche manische Depression, eine Ehefrau mit Cellulitis und mit Geigenmüller einen Therapeuten, der ihm Wege aus der unstillbaren Sehnsucht nach dem richtigen Leben weisen soll. Hinter ihm liegt, und das erzählt er die längste Zeit, eine Kindheit und Schulzeit, die schon mit einer Schieflage begann: "Sabine sollte ich heißen." Einen älteren Bruder gab es, aber als der durch einen Unfall zu Tode kommt, rückt der junge Mann in die Rolle des Stammhalters. Eine Rolle, die ihm gar nicht gefällt. Sein Vater, ein beinamputierter, hochdekorierter Kriegsveteran (Nahkampfspange, Führerlob), hat eine andere Vorstellung von Männlichkeit als die, die sein Sohn in der Pubertät entwickelt. Es drängt ihn mit Macht zum gleichen Geschlecht, Sklave seiner "heimatlosen Erektionen", der er ist. "Andersherum" ist das Wort, das seinerzeit dafür verwendet wird, ein Stigma in der Provinz. Daß es noch dazu zu einem (Beinahe-?)Inzest mit seiner Halbschwester Angelika kommt, die er viel später unter pikanten Voraussetzungen wiedertreffen wird, macht die Lage nicht einfacher.

Wer Wörter wie "Hoffnungsschmerz", "Instantzweifel", "Kurzhaarprosa", "Erektionsmelancholie" oder "Badeschlapppentransparenz" liest, weiß sogleich, daß er sich im Stadler-Land befindet. In einer luftig aufgefädelten Perlenkette von Motiven, Miniaturen, Episoden und Aphorismen trifft man die altbekannten Geländewagen und die Charaktere aus dem Hotzenwald. Mit großer Leichtigkeit skizziert Stadler Figuren, denen er mit wenigen Strichen ein ganzes Leben spendiert. Der Fahrlehrer Knötzele ist so eine Person. Auch der zerbricht an seiner Sehnsucht, geht im Wortsinn an ihr zugrunde: "Auf Stundenbasis mit Menschen losfahren, die nur wegfahren wollen." Weg von sich selbst, weg aus der Enge ihres Daseins. So auch der Ich-Erzähler, der die Führerschein-Prüfung verpatzt, weil er den Wagen wegen des ihm nicht vertrauten Automatik-Getriebes erst gar nicht zum Rollen bringt. Eine größere Schmach ist kaum vorstellbar - nicht einmal wegfahren zu können.

Längst hat sich die schwärmerische Rede vom "Stadler-Ton" eingebürgert, jene Mischung aus Schwermut und Ironie, Verzweiflung und Wortwitz. Dieser Ton läuft gelegentlich aus dem Ruder. Etwa mit Klappentextsätzen, denen man die Absicht anmerkt und die tatsächlich auf dem Klappentext stehen: "Dieses Buch ist an meiner Sehnsucht entlang geschrieben wie an einer Hundeleine" ist so ein Beispiel. Und es gibt auch Schlampigkeiten ("Schremp", "sechszehn"), ärgerliche Albernheiten, die den Kalauer nicht wert sind: "Während die Frauen nur ihre Tage hatten, hatte ich mein Leben." Solche Momente schwächen die inszenierte Beiläufigkeit, der Roman wirkt dann unfertig.

Das Coming-out seines Helden versteckt Stadler nicht, im Gegenteil. Als der junge Mann sein bestes Stück mit dem Namen "Max" anzusprechen beginnt und jener ein steiles Eigenleben entwickelt, zerstiebt auch die Sehnsucht in alle Windrichtungen. Was genau im Jahrzehnt zwischen Volljährigkeit und dem späten Ende der Adoleszenz passiert, wird nicht berichtet. Klar ist nur, daß sich Max auch dem weiblichen Geschlecht nicht verweigert hat, sich gar in einer Ehe wiederfindet, sexuelle Befriedigung aber nur noch dort findet, wo sich in Kontaktanzeigen die Worte "sauber" und "versaut" die Waage halten.

Das "ebenerdige" Dasein des Erzählers, sein "naturtrüber" Zustand in der Berliner Republik ist auch eine politische Ernüchterung. Wenn ein sogenannter "Starfriseur" wie Udo Walz zu einer Instanz des öffentlichen Lebens werden kann, dann ist es mit diesem Gemeinwesen nicht zum besten bestellt. Kein Wunder, daß sich der Sinnsucher lustig macht über die Einfamilienhausexistenzen der Neubaugebiete und ihre Attribute - "ihre Ringstraßenvehemenz, ihr Gemeinschaftsantennen-Eifer, ihr Verkabelungsdrang, ihre Einliegerwohnungsgenehmigungsanträge, ihre Whirlpoolphantasien, ihr Grüner-Tonnen-Stolz, ihr ökologisches Windräder-Bewußtsein, ihr Geräteschuppen-im-Landhausstil-Ehrgeiz, ihre Tennis- und Fitnessclub-Mitgliedschaften, ihre Sperrmüll-Kalender-Daten, kurz: ihre Equipment- und Wellnessexistenz, ihr Indoor- und Outdoorleben auf einer Fun- und Fotzenkompetenzbasis". Diese Suada wäre nur besseres Kabarett, ironisierte sie Stadler nicht mit dem Satz: "Das letzte Wort könnte ich zurücknehmen."

Und so überwiegt in der Heimatlosigkeit am Ende die Trauer über den Verlust des letzten Sommers der Jugend. So versteht sich der Roman auch als "ein Nachruf auf alle Kurzwaren, Menschen und Dinge meines Lebens, die verschwunden sind, ohne daß ich dies gewollt hätte". Wenn es des Beweises bedurft hätte, daß Arnold Stadler das Personal und der Stoff Erinnerung nicht ausgehen würden, hier ist er. Melancholiker waren in ihrem früheren Leben vielleicht Euphoriker, behauptet der Autor und macht seiner Geschichte ein abruptes Ende - nachdem er in Cuxhaven einen Sehnsuchtsort seiner Schulzeit wiedergefunden hat: das Meer. Es hätte noch weitergehen können, aber im Schlußbild, wie um diese Kitschpostkarte aus Capri noch loszuwerden, schimmert die Blaue Grotte in Technicolor. Mehr Sehnsuchtssehnsucht war nie.

Arnold Stadler: "Sehnsucht. Versuch über das erste Mal". Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2002. 328 S., geb., 22,90 [Euro].

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