Bereits im 19. Jahrhundert war es üblich, die österreichische Identität als bloße Idee, ja als "Chimäre" zu betrachten. Gerald Stieg setzt sich in seinem Essay in ironisch-autobiografischer Weise mit dem Spannungsverhältnis von Konstruktion und Wirklichkeit auseinander: Was heißt eigentlich "Österreich"? Im Zentrum steht dabei die geradezu mythische Opposition zwischen den "Gedächtnisorten" Mozart und Hitler. Keine Debatte über die österreichische Identität kommt an der historischen Rivalität mit Preußen vorbei. Markant verkörpert werden diese Pole durch die mütterlich-weibliche Katholikin Maria Theresia und den soldatisch-männlichen Protestanten Friedrich II. Neben diesen und weiteren wichtigen Persönlichkeiten der gemeinsamen Geschichte, wie Otto von Bismarck, Karl Lueger und Adolf Hitler, betrachtet Stieg die historischen, kulturellen und symbolischen Hintergründe und Entwicklungen der österreichischen Identitätsbildung. So nimmt der anerkannte Experte für österreichische Kulturgeschichte Gerald Stieg die Revolution 1848 in den Fokus, verweist auf Farbsymbole und Hymne, untersucht die politischen Parteien ebenso wie den Austrofaschismus und die österreichische Identität der Juden. Gleichfalls Teil der Betrachtungen sind der musikalische Fixstern Mozart sowie ausgewählte Schriftsteller und Philosophen und ihre Beiträge zur Österreich-Idee. Gerald Stieg, Jahrgang 1941, der in Salzburg geboren, aber eigentlich erst in Frankreich zum Österreicher geworden ist, gelingt es gerade mit diesem autobiografischen Hintergrund die österreichische Identitätssuche ebenso anschaulich wie kritisch zu skizzieren.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2016Walzer oder Parademarsch, das war hier die Frage
Gerald Stieg weiß, wie leidenschaftlich seit Maria Theresias Zeiten an einer Idee von Österreich gefeilt wurde
"Gott erhalte, Gott beschütze / vor dem Kaiser unser Land! / Mächtig ohne seine Stütze, sicher ohne seine Hand!" So beginnt eine Umdichtung der Kaiserhymne der k.u.k. Monarchie, die Karl Kraus im November 1920 in der "Fackel" veröffentlicht. Das Verfahren dieser "Volkshymne" für die noch junge erste österreichische Republik ist die Umkehrung, ihr Ziel, wie Kraus schreibt, "den imperialen Wortbestand mit einem neuen, dem gegenteiligen Sinn zu erfüllen". Die überlieferten Worte und Wendungen sollen "zu einem andern, lebendigeren Dasein aufstehn".
Für die Schlusszeilen bedeutet das eine bei Kraus eher unerwartete Gegenführung. Wo in der alten Hymne von Johann Gabriel Seidl die Segenswünsche für Kaiserpaar und Herrscherhaus standen - "Heil Franz Josef, Heil Elisen, Segen Habsburgs ganzem Haus" -, setzt Kraus: "Heil den Wäldern, Heil den Wiesen, / Segen diesem schönen Land!" Statt Herrscherlob Preis der Landschaft, die vom "Land der Berge, Land am Strome", mit dem seit 1946 Österreichs offizielle Hymne beginnt, gar nicht so weit entfernt scheint.
Eine ernsthafte Parodie nennt Gerald Stieg diese "Volkshymne" von Kraus in seinem Buch über die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum "Anschluss" 1938. Und ein ernsthaftes Problem stellte es für die aus dem Ersten Weltkrieg nach dem Willen der Sieger hervorgegangene Republik Österreich tatsächlich dar, sich eine Hymne zu finden. So gern man eigentlich, über alle Parteien hinweg, in Fallerslebens "Deutschland, Deutschland, über alles" eingestimmt hätte, die ja auch auf Haydns Melodie zu singen war und deren dritte Strophe fast drei Jahrzehnte später zur Hymne der Bundesrepublik Deutschland werden sollte: Die Abtrennung vom deutschen Nachbarn war nun einmal von den Siegermächten verfügt. Haydns Melodie war aufzugeben, und der erste Kanzler der Republik Österreich, der Sozialdemokrat Karl Renner, dichtete höchstselbst eine neue Hymne, weil republikanischer Patriotismus nun plötzlich nottat für den neuen Staat samt neuer Nation.
Gegen diese Hymne, die für ihn "mehr Bedauern als Hohn" verdiente, trat Kraus 1920 an. Sie hielt nicht besonders lange: 1929 kehrte man zu Haydns "erhabener Melodie" (Kraus) zurück, mit einem Text des furchtbaren Heimatdichters Ottokar Kernstock, sie wurde ab 1934 im autoritären Ständestaat bloß um ein Dollfuß-Lied ergänzt, bevor 1938 eben doch Fallersleben dran war: Nach einem "Anschluss", den Karl Renner übrigens stürmisch begrüßt hatte, um dann 1945 - die Siegermächte hatten neuerlich die Abtrennung verfügt, dazu Österreich den unverdienten Bonus des "ersten Opfers" Hitlers erteilt - zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik zu werden. Für die Hymne griff man nun auf Mozart zurück, den man bereits als ganz großen Österreicher eingemeindet hatte. Mit der unfreiwilligen Pointe, dass das gewählte "Bundeslied der Freimaurer" wenige Jahrs später schon nicht mehr als Werk Mozarts galt.
Gerald Stieg, Pariser Doyen der deutschen und insbesondere auch österreichischen Kulturgeschichte, behandelt die Schwierigkeiten mit der österreichischen Hymne in einem eigenen kleinen Kapitel. Es zeigt an einem Ausschnitt, woran das Problem, eine Idee von Österreich zu entwerfen, seit Maria Theresias Zeiten immer hing: an Antworten auf die deutschnationale Idee und auf die staatlichen Realitäten Deutschlands beziehungsweise Preußens. Friedrich der Große gegen Maria Theresia bildet dazu die Konstellation des achtzehnten Jahrhunderts, die sich als überaus wirkmächtige kulturelle Matrix für spätere Verfechter des Österreichischen erweisen sollte. Während es im neunzehnten Jahrhundert Bismarcks Politik der deutschen Einigung gegen Habsburg ist, die das Terrain der politischen und kulturellen Einsätze prägt. Hitler schließlich ist es zuzurechnen, dass die Eigenstaatlichkeit Österreichs nach 1945 auf eine ernstlich nicht mehr in Frage gestellte Basis gestellt wird.
Bei der Konstellation einzusetzen, die den preußischen König gegen die Habsburger Herrscherin stellte, ist gut begründet. Stieg führt vor, wie sie im Rückblick vieler Autoren zur "mächtigsten Matrix" wurde, in der sich das Österreichische vom Deutschen abscheiden sollte. Hier das Weiblich-Mütterliche, dort das Soldatisch-Männliche, katholisch gegen protestantisch (was den "österreichischen" Gegebenheiten gar nicht entsprach), gemütlich gegen zackig, Walzer gegen Parademarsch, oder auch in Begriffen einer grassierenden Wagner-Manie: Kundry gegen Siegfried / Wotan.
Hugo von Hofmannsthal, entschiedener Propagator der "Österreich-Idee", stand da in der vordersten Reihe. Sein gern zitiertes Tableau, das preußische gegen österreichische Eigenschaften setzt, lässt Stieg sogar als allzu bekannt beiseite, gibt der Eloge auf Maria Theresia den Vorzug und dem Theaterstück "Der Schwierige" als vorzüglichem Exempel eines sentimental umflorten Bildes vom alten, zum Untergang verurteilten "Österreich", will heißen der Monarchie.
Die Autoren, mit denen man rechnen darf, man stößt bei Stieg auf sie: Thomas Mann und Hofmannsthal, Musil, Werfel, Bahr, Roth, natürlich Kraus. Aber mit demselben Sinn für Ökonomie, mit schnörkelloser Eleganz und einer Prise Ironie werden auch andere, weniger bekannte Autoren präsentiert - der Hitler von "Mein Kampf" eingeschlossen -, um die verschiedenen Facetten vor Augen zu führen, mit denen das Österreichische akzentuiert wurde. Immer kommt es dabei natürlich auf den politisch-gesellschaftlichen Zeithintergrund an, den Stieg so souverän skizziert, wie er die literarischen Zeugnisse heranzieht.
Man profitiert von einem Autor, der die Parteienlandschaft von Monarchie und Erster Republik so gut kennt wie die literarischen Texte, die großen Linien der gesellschaftlichen Entwicklungen genauso wie die Details auch mancher heute eher kurios wirkender Einlassungen. Und unwesentlich ist auch nicht, dass Stieg auf seine Kindheit und Jugend in der österreichischen Provinz zurückblicken kann, auf die er eingangs einige Streiflichter wirft. Er hat ein Buch vorgelegt, das materialreich ist, ohne Anstrengung gelehrt und überaus vergnüglich zu lesen.
HELMUT MAYER
Gerald Stieg: "Sein oder Schein". Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2016. 283 S., geb., 34,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gerald Stieg weiß, wie leidenschaftlich seit Maria Theresias Zeiten an einer Idee von Österreich gefeilt wurde
"Gott erhalte, Gott beschütze / vor dem Kaiser unser Land! / Mächtig ohne seine Stütze, sicher ohne seine Hand!" So beginnt eine Umdichtung der Kaiserhymne der k.u.k. Monarchie, die Karl Kraus im November 1920 in der "Fackel" veröffentlicht. Das Verfahren dieser "Volkshymne" für die noch junge erste österreichische Republik ist die Umkehrung, ihr Ziel, wie Kraus schreibt, "den imperialen Wortbestand mit einem neuen, dem gegenteiligen Sinn zu erfüllen". Die überlieferten Worte und Wendungen sollen "zu einem andern, lebendigeren Dasein aufstehn".
Für die Schlusszeilen bedeutet das eine bei Kraus eher unerwartete Gegenführung. Wo in der alten Hymne von Johann Gabriel Seidl die Segenswünsche für Kaiserpaar und Herrscherhaus standen - "Heil Franz Josef, Heil Elisen, Segen Habsburgs ganzem Haus" -, setzt Kraus: "Heil den Wäldern, Heil den Wiesen, / Segen diesem schönen Land!" Statt Herrscherlob Preis der Landschaft, die vom "Land der Berge, Land am Strome", mit dem seit 1946 Österreichs offizielle Hymne beginnt, gar nicht so weit entfernt scheint.
Eine ernsthafte Parodie nennt Gerald Stieg diese "Volkshymne" von Kraus in seinem Buch über die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum "Anschluss" 1938. Und ein ernsthaftes Problem stellte es für die aus dem Ersten Weltkrieg nach dem Willen der Sieger hervorgegangene Republik Österreich tatsächlich dar, sich eine Hymne zu finden. So gern man eigentlich, über alle Parteien hinweg, in Fallerslebens "Deutschland, Deutschland, über alles" eingestimmt hätte, die ja auch auf Haydns Melodie zu singen war und deren dritte Strophe fast drei Jahrzehnte später zur Hymne der Bundesrepublik Deutschland werden sollte: Die Abtrennung vom deutschen Nachbarn war nun einmal von den Siegermächten verfügt. Haydns Melodie war aufzugeben, und der erste Kanzler der Republik Österreich, der Sozialdemokrat Karl Renner, dichtete höchstselbst eine neue Hymne, weil republikanischer Patriotismus nun plötzlich nottat für den neuen Staat samt neuer Nation.
Gegen diese Hymne, die für ihn "mehr Bedauern als Hohn" verdiente, trat Kraus 1920 an. Sie hielt nicht besonders lange: 1929 kehrte man zu Haydns "erhabener Melodie" (Kraus) zurück, mit einem Text des furchtbaren Heimatdichters Ottokar Kernstock, sie wurde ab 1934 im autoritären Ständestaat bloß um ein Dollfuß-Lied ergänzt, bevor 1938 eben doch Fallersleben dran war: Nach einem "Anschluss", den Karl Renner übrigens stürmisch begrüßt hatte, um dann 1945 - die Siegermächte hatten neuerlich die Abtrennung verfügt, dazu Österreich den unverdienten Bonus des "ersten Opfers" Hitlers erteilt - zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik zu werden. Für die Hymne griff man nun auf Mozart zurück, den man bereits als ganz großen Österreicher eingemeindet hatte. Mit der unfreiwilligen Pointe, dass das gewählte "Bundeslied der Freimaurer" wenige Jahrs später schon nicht mehr als Werk Mozarts galt.
Gerald Stieg, Pariser Doyen der deutschen und insbesondere auch österreichischen Kulturgeschichte, behandelt die Schwierigkeiten mit der österreichischen Hymne in einem eigenen kleinen Kapitel. Es zeigt an einem Ausschnitt, woran das Problem, eine Idee von Österreich zu entwerfen, seit Maria Theresias Zeiten immer hing: an Antworten auf die deutschnationale Idee und auf die staatlichen Realitäten Deutschlands beziehungsweise Preußens. Friedrich der Große gegen Maria Theresia bildet dazu die Konstellation des achtzehnten Jahrhunderts, die sich als überaus wirkmächtige kulturelle Matrix für spätere Verfechter des Österreichischen erweisen sollte. Während es im neunzehnten Jahrhundert Bismarcks Politik der deutschen Einigung gegen Habsburg ist, die das Terrain der politischen und kulturellen Einsätze prägt. Hitler schließlich ist es zuzurechnen, dass die Eigenstaatlichkeit Österreichs nach 1945 auf eine ernstlich nicht mehr in Frage gestellte Basis gestellt wird.
Bei der Konstellation einzusetzen, die den preußischen König gegen die Habsburger Herrscherin stellte, ist gut begründet. Stieg führt vor, wie sie im Rückblick vieler Autoren zur "mächtigsten Matrix" wurde, in der sich das Österreichische vom Deutschen abscheiden sollte. Hier das Weiblich-Mütterliche, dort das Soldatisch-Männliche, katholisch gegen protestantisch (was den "österreichischen" Gegebenheiten gar nicht entsprach), gemütlich gegen zackig, Walzer gegen Parademarsch, oder auch in Begriffen einer grassierenden Wagner-Manie: Kundry gegen Siegfried / Wotan.
Hugo von Hofmannsthal, entschiedener Propagator der "Österreich-Idee", stand da in der vordersten Reihe. Sein gern zitiertes Tableau, das preußische gegen österreichische Eigenschaften setzt, lässt Stieg sogar als allzu bekannt beiseite, gibt der Eloge auf Maria Theresia den Vorzug und dem Theaterstück "Der Schwierige" als vorzüglichem Exempel eines sentimental umflorten Bildes vom alten, zum Untergang verurteilten "Österreich", will heißen der Monarchie.
Die Autoren, mit denen man rechnen darf, man stößt bei Stieg auf sie: Thomas Mann und Hofmannsthal, Musil, Werfel, Bahr, Roth, natürlich Kraus. Aber mit demselben Sinn für Ökonomie, mit schnörkelloser Eleganz und einer Prise Ironie werden auch andere, weniger bekannte Autoren präsentiert - der Hitler von "Mein Kampf" eingeschlossen -, um die verschiedenen Facetten vor Augen zu führen, mit denen das Österreichische akzentuiert wurde. Immer kommt es dabei natürlich auf den politisch-gesellschaftlichen Zeithintergrund an, den Stieg so souverän skizziert, wie er die literarischen Zeugnisse heranzieht.
Man profitiert von einem Autor, der die Parteienlandschaft von Monarchie und Erster Republik so gut kennt wie die literarischen Texte, die großen Linien der gesellschaftlichen Entwicklungen genauso wie die Details auch mancher heute eher kurios wirkender Einlassungen. Und unwesentlich ist auch nicht, dass Stieg auf seine Kindheit und Jugend in der österreichischen Provinz zurückblicken kann, auf die er eingangs einige Streiflichter wirft. Er hat ein Buch vorgelegt, das materialreich ist, ohne Anstrengung gelehrt und überaus vergnüglich zu lesen.
HELMUT MAYER
Gerald Stieg: "Sein oder Schein". Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2016. 283 S., geb., 34,99 [Euro].
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