George Washington gehört zu den großen Gestalten der Weltgeschichte. Er führte als General die Revolutionsarmee zum Sieg und errang so die amerikanische Unabhängigkeit. Als erster amerikanischer Präsident steuerte er die junge Nation durch ihre unsicherste und schwierigste Phase. Mehr als jeder andere hat er dem Land seine Werte, Ziele und Ideale eingeschrieben.
Joseph J. Ellis schildert in seiner Biographie die außergewöhnliche Persönlichkeit des Mannes, der zum berühmtesten Amerikaner der Geschichte werden sollte. Er entwirft ein ebenso umfassendes wie vielschichtiges Porträt George Washingtons. Beschrieben werden nicht nur seine Anfänge, die militärischen Jahre erst im French and Indian War und dann im Unabhängigkeitskrieg sondern auch seinebeiden Amtszeiten als erster Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit großer Sensibilität spürt er auch der komplexen Persönlichkeit Washingtons nach, die heute fast ganz hinter der Ikone aus Marmor verschwunden ist. Sein psycholo
Joseph J. Ellis schildert in seiner Biographie die außergewöhnliche Persönlichkeit des Mannes, der zum berühmtesten Amerikaner der Geschichte werden sollte. Er entwirft ein ebenso umfassendes wie vielschichtiges Porträt George Washingtons. Beschrieben werden nicht nur seine Anfänge, die militärischen Jahre erst im French and Indian War und dann im Unabhängigkeitskrieg sondern auch seinebeiden Amtszeiten als erster Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit großer Sensibilität spürt er auch der komplexen Persönlichkeit Washingtons nach, die heute fast ganz hinter der Ikone aus Marmor verschwunden ist. Sein psycholo
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005Innen glomm der Schweiger
Joseph J. Ellis, der Münchhausen unter den amerikanischen Historikern, nähert sich dem unnahbaren George Washington - und lässt ihn auf 1,88 Meter schrumpfen
Von Gert Raeithel
Man verspottete ihn als den Münchhausen unter Amerikas Historikern. Joseph Ellis hatte sich als Vietnamkrieger, als Vorkämpfer für Rassengleichheit, als Sportskanone aufgeplustert (die Süddeutsche Zeitung berichtete am 9. Oktober 2002). Weil all dies frei erfunden war und Professor Ellis die übliche Fassadengestaltung des eigenen Lebenslaufs nun doch übertrieben hatte, verordnete ihm sein College eine Denkpause und schloss ihn für ein Jahr vom Lehrbetrieb aus. Ohne Bezüge. Der Gemaßregelte nutzte die Zwangspause, um die Biographie eines Menschen in Angriff zu nehmen, von dem die Fama geht, nie im Leben gelogen zu haben: George Washington.
Die biographische Literatur über den ersten Präsidenten der USA wälzt sich durch die Geschichtsbibliotheken wie der Grießbrei in Grimms Märchen. Was das Werk von Ellis aus den über 500 Lebensbeschreibungen heraushebt, ist die hohe Startauflage, die der amerikanische Verleger trotz oder wegen des lädierten Rufs seines Autors bei 500 000 Exemplaren ansetzte. Ellis hatte den Ehrgeiz entwickelt, Washingtons schwer zu fassende Persönlichkeit in den Griff zu bekommen, er wollte in die „inneren Regionen” dieses Volkshelden vorstoßen, die Tiefen seines Charakters ausloten. Er tat dies dann ganz konventionell, mit schierem Gelehrtenfleiß, ohne psychologisches Instrumentarium.
Mit narrativem Charme bringt Ellis dem Leser nahe, wie der junge Washington im Eiltempo einer jungen, reichen Witwe kondolierte und ihr gleich die Ehe antrug; wie er später als „Amerikas säkularer Heiliger” in steifer Pracht auf einem weißen Hengst einherritt und die Huldigungen des Fußvolks entgegen nahm; wie er die Königswürde zwar ablehnte, sich aber doch gern mit Exzellenz anreden ließ.
Der Aufstieg des subalternen Kolonialoffiziers George Washington hatte mit der Einheirat in die virginische Landaristokratie begonnen. Ob als Gutsherr, als Oberbefehlshaber der Rebellenarmee oder zuletzt seit 1789 als Präsident - seine hervorstechendsten Eigenschaften waren Unnahbarkeit, Schweigsamkeit und Selbstbeherrschung. Ellis schreibt recht überzeugend: „Was die damalige Zeit so stark von der heutigen unterscheidet, war die aristokratische Annahme, dass jede explizite Äußerung von Eigeninteresse in der politischen Arena einen Mangel an Selbstbeherrschung verriet, der für das öffentliche Interesse nichts Gutes verhieß.”
Ohne Washington, der allein durch seine physische Präsenz beeindrucken konnte, wäre der Sieg im Unabhängigkeitskrieg verscherzt worden. Er war ein Emporkömmling mit begrenzter formaler Bildung. Mit der englischen Orthographie stand er länger auf Kriegsfuß als mit den britischen Truppen. Anders als Jefferson, Madison und die anderen „Gründerväter” strebte er erreichbare Ziele an und verlor sich nicht in hochfahrenden Theorien, und das machte nach Lage der Dinge seine Stärke aus.
Ellis unterschlägt die dunkleren Seiten des illustren Mannes nicht: die Vorliebe für eitel Tand; den unersättlichen Landhunger; die unerbittliche Haltung gegenüber Deserteuren, Sklaven (er besaß über 300) und verarmten Farmern.
Die von Ellis angestrebte Objektivität ist von den amerikanischen Fachkollegen beifällig aufgenommen worden. Angesichts der etwas altbackenen Methode - Ellis verfolgt keine bestimmte These - ist am Resultat kaum etwas auszusetzen. So gut es eben ging, hat Ellis sein Erkenntnisziel erreicht, nämlich sich den inneren Regionen der Person George Washington zu nähern. Notgedrungen - denn wie nähert man sich einer unnahbaren Person? - schlängelt sich das Fazit durch mehrere Nebensätze: „Zwei von Washingtons dauerhaften Charakterzügen - seine Unnahbarkeit und seine Fähigkeit zu schweigen - waren aller Wahrscheinlichkeit nach taktische Schutzmaßnahmen, die er entwickelt hatte, um zu verhindern, dass man das brennbare Material entdeckte, das in seinem Innern glomm”. Brennbares Material waren auf alle Fälle die Privatbriefe gewesen, die seine Gattin Martha ins Feuer geworfen hatte, weshalb etwaige Familiengeheimnisse ungelüftet bleiben. Washingtons meist nichtssagende Tagebucheintragungen lassen ebensowenig ahnen, auf welcher Stufe Seine Exzellenz in ihrer psychosexuellen Entwicklung stehen geblieben ist.
Ein von Ellis nicht beachteter Schlüssel könnte Washingtons neurotischer Zählzwang sein. Er zählte alles, was ihm unter die Augen kam. Er zählte die Fenster seines Anwesens und dann die Scheiben in den Fenstern. Er musste wissen, wie viele Samen ein Pfund Klee enthält oder ein Pfund Wiesengras oder ein Pfund Flussgras, und auf dem Sterbebett zählte er den eigenen Puls bis zum Exitus.
Joseph Ellis hat in seiner Biographie einen mittleren Kurs zwischen Vergötterung und Verdammung gesteuert. Sein Vorbild war der britische Amerikanist Marcus Cunliffe, der vor einem halben Jahrhundert in seiner Abhandlung „Washington: Man and Monument” gezeigt hat, wie die Nachwelt den virginischen Landedelmann zu einem gottähnlichen Wesen erhob oder zumindest Moses, Alexander dem Großen oder Columbus an die Seite stellte. Professor Ellis konnte solche Vorstellungen abstreifen. Der Abstand, den er zu einem überirdischen Washington gewonnen hat, lässt sich sogar in Zentimetern ausdrücken. In einer seiner früheren, lobrednerischen Publikationen mit dem Titel „Sie schufen Amerika (auf Deutsch 2002 erschienen) misst Washington noch 1,93 Meter. Im vorliegenden Werk ist er auf 1,88 geschrumpft.
Joseph J. Ellis
Seine Exzellenz George Washington. Eine Biographie
Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. Verlag C. H. Beck, München 2005. 385 Seiten, 24,90 Euro.
George Washington (1732-1799), der erte Präsident der Vereinigten Staaten
Foto: Blanc Kunstverlag
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Joseph J. Ellis, der Münchhausen unter den amerikanischen Historikern, nähert sich dem unnahbaren George Washington - und lässt ihn auf 1,88 Meter schrumpfen
Von Gert Raeithel
Man verspottete ihn als den Münchhausen unter Amerikas Historikern. Joseph Ellis hatte sich als Vietnamkrieger, als Vorkämpfer für Rassengleichheit, als Sportskanone aufgeplustert (die Süddeutsche Zeitung berichtete am 9. Oktober 2002). Weil all dies frei erfunden war und Professor Ellis die übliche Fassadengestaltung des eigenen Lebenslaufs nun doch übertrieben hatte, verordnete ihm sein College eine Denkpause und schloss ihn für ein Jahr vom Lehrbetrieb aus. Ohne Bezüge. Der Gemaßregelte nutzte die Zwangspause, um die Biographie eines Menschen in Angriff zu nehmen, von dem die Fama geht, nie im Leben gelogen zu haben: George Washington.
Die biographische Literatur über den ersten Präsidenten der USA wälzt sich durch die Geschichtsbibliotheken wie der Grießbrei in Grimms Märchen. Was das Werk von Ellis aus den über 500 Lebensbeschreibungen heraushebt, ist die hohe Startauflage, die der amerikanische Verleger trotz oder wegen des lädierten Rufs seines Autors bei 500 000 Exemplaren ansetzte. Ellis hatte den Ehrgeiz entwickelt, Washingtons schwer zu fassende Persönlichkeit in den Griff zu bekommen, er wollte in die „inneren Regionen” dieses Volkshelden vorstoßen, die Tiefen seines Charakters ausloten. Er tat dies dann ganz konventionell, mit schierem Gelehrtenfleiß, ohne psychologisches Instrumentarium.
Mit narrativem Charme bringt Ellis dem Leser nahe, wie der junge Washington im Eiltempo einer jungen, reichen Witwe kondolierte und ihr gleich die Ehe antrug; wie er später als „Amerikas säkularer Heiliger” in steifer Pracht auf einem weißen Hengst einherritt und die Huldigungen des Fußvolks entgegen nahm; wie er die Königswürde zwar ablehnte, sich aber doch gern mit Exzellenz anreden ließ.
Der Aufstieg des subalternen Kolonialoffiziers George Washington hatte mit der Einheirat in die virginische Landaristokratie begonnen. Ob als Gutsherr, als Oberbefehlshaber der Rebellenarmee oder zuletzt seit 1789 als Präsident - seine hervorstechendsten Eigenschaften waren Unnahbarkeit, Schweigsamkeit und Selbstbeherrschung. Ellis schreibt recht überzeugend: „Was die damalige Zeit so stark von der heutigen unterscheidet, war die aristokratische Annahme, dass jede explizite Äußerung von Eigeninteresse in der politischen Arena einen Mangel an Selbstbeherrschung verriet, der für das öffentliche Interesse nichts Gutes verhieß.”
Ohne Washington, der allein durch seine physische Präsenz beeindrucken konnte, wäre der Sieg im Unabhängigkeitskrieg verscherzt worden. Er war ein Emporkömmling mit begrenzter formaler Bildung. Mit der englischen Orthographie stand er länger auf Kriegsfuß als mit den britischen Truppen. Anders als Jefferson, Madison und die anderen „Gründerväter” strebte er erreichbare Ziele an und verlor sich nicht in hochfahrenden Theorien, und das machte nach Lage der Dinge seine Stärke aus.
Ellis unterschlägt die dunkleren Seiten des illustren Mannes nicht: die Vorliebe für eitel Tand; den unersättlichen Landhunger; die unerbittliche Haltung gegenüber Deserteuren, Sklaven (er besaß über 300) und verarmten Farmern.
Die von Ellis angestrebte Objektivität ist von den amerikanischen Fachkollegen beifällig aufgenommen worden. Angesichts der etwas altbackenen Methode - Ellis verfolgt keine bestimmte These - ist am Resultat kaum etwas auszusetzen. So gut es eben ging, hat Ellis sein Erkenntnisziel erreicht, nämlich sich den inneren Regionen der Person George Washington zu nähern. Notgedrungen - denn wie nähert man sich einer unnahbaren Person? - schlängelt sich das Fazit durch mehrere Nebensätze: „Zwei von Washingtons dauerhaften Charakterzügen - seine Unnahbarkeit und seine Fähigkeit zu schweigen - waren aller Wahrscheinlichkeit nach taktische Schutzmaßnahmen, die er entwickelt hatte, um zu verhindern, dass man das brennbare Material entdeckte, das in seinem Innern glomm”. Brennbares Material waren auf alle Fälle die Privatbriefe gewesen, die seine Gattin Martha ins Feuer geworfen hatte, weshalb etwaige Familiengeheimnisse ungelüftet bleiben. Washingtons meist nichtssagende Tagebucheintragungen lassen ebensowenig ahnen, auf welcher Stufe Seine Exzellenz in ihrer psychosexuellen Entwicklung stehen geblieben ist.
Ein von Ellis nicht beachteter Schlüssel könnte Washingtons neurotischer Zählzwang sein. Er zählte alles, was ihm unter die Augen kam. Er zählte die Fenster seines Anwesens und dann die Scheiben in den Fenstern. Er musste wissen, wie viele Samen ein Pfund Klee enthält oder ein Pfund Wiesengras oder ein Pfund Flussgras, und auf dem Sterbebett zählte er den eigenen Puls bis zum Exitus.
Joseph Ellis hat in seiner Biographie einen mittleren Kurs zwischen Vergötterung und Verdammung gesteuert. Sein Vorbild war der britische Amerikanist Marcus Cunliffe, der vor einem halben Jahrhundert in seiner Abhandlung „Washington: Man and Monument” gezeigt hat, wie die Nachwelt den virginischen Landedelmann zu einem gottähnlichen Wesen erhob oder zumindest Moses, Alexander dem Großen oder Columbus an die Seite stellte. Professor Ellis konnte solche Vorstellungen abstreifen. Der Abstand, den er zu einem überirdischen Washington gewonnen hat, lässt sich sogar in Zentimetern ausdrücken. In einer seiner früheren, lobrednerischen Publikationen mit dem Titel „Sie schufen Amerika (auf Deutsch 2002 erschienen) misst Washington noch 1,93 Meter. Im vorliegenden Werk ist er auf 1,88 geschrumpft.
Joseph J. Ellis
Seine Exzellenz George Washington. Eine Biographie
Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. Verlag C. H. Beck, München 2005. 385 Seiten, 24,90 Euro.
George Washington (1732-1799), der erte Präsident der Vereinigten Staaten
Foto: Blanc Kunstverlag
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Alexander Kluy ist von dieser Biografie George Washingtons vollkommen begeistert und er preist das Buch überschwänglich als "hinreißendes Leseerlebnis". Joseph J. Ellis lässt darin die Person des amerikanischen Präsidenten, der für die Unabhängigkeit Amerikas und die Gründung der Nation die entscheidende Rolle gespielt hat, "ungemein plastisch" hervortreten, wobei er "leichthändig" politisches Handeln und persönliches Leben Washingtons miteinander verknüpft, lobt der Rezensent. Ellis zeigt sich als "brillanter" Erzähler und dabei durchaus auf dem neuesten Forschungsstand , schwärmt Kluy, der sich fragt, welcher Preist dem amerikanischen Autor wohl für dieses "meisterhaft Washington-Porträt" zuerkannt werden wird. Lediglich die Darstellung des ökonomischen und sozialen Hintergrunds hätte er sich etwas ausführlicher gewünscht, das bleibt aber die einzige leise Kritik in seinem ansonsten restlos begeisterten Urteil.
© Perlentaucher Medien GmbH
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