Die 'Streif' in Kitzbühel, das gefährlichsten Abfahrtsrennen der Welt, ein Höllenritt auf blankem Eis. Die Stadt im alljährlichen Ausnahmezustand: Alle Augen sind auf den Hahnenkamm, diese schneeglitzernde Welt und den Zielschuss gerichtet. Ein atemberaubender Tag, Wilderkaiserwetter, die Stimmung könnte nicht ausgelassener sein.
Bis plötzlich ein Kind auf der Piste verschwindet, was nicht ins Bild passt und schon gar nicht in die Bilderbuchregie der Veranstalter, des Ortes und der Feiernden. Was ist passiert? Ein Unfall? Eine Entführung? Missbrauch? Ein Familiendrama? Ein böser Scherz?
Die Suche beginnt. Doch ein verschwundener Junge stört nur die Party, die Politik, die Promis. Zu allem Unglück zieht auch noch aus heiterem Himmel ein Schneesturm auf, der alle Illusionen, alle Lügen wegfegt, den Schnee von gestern aufwirbelt und den Tod anweht ...
In seinem rasanten neuen Roman, der aus der Kälte kommt und ans Herz geht, erzählt Albert Ostermaier von einem Wettlauf mit der Zeit und dem Tod, der wie ein Lawine alles unter sich zu begraben droht.
Bis plötzlich ein Kind auf der Piste verschwindet, was nicht ins Bild passt und schon gar nicht in die Bilderbuchregie der Veranstalter, des Ortes und der Feiernden. Was ist passiert? Ein Unfall? Eine Entführung? Missbrauch? Ein Familiendrama? Ein böser Scherz?
Die Suche beginnt. Doch ein verschwundener Junge stört nur die Party, die Politik, die Promis. Zu allem Unglück zieht auch noch aus heiterem Himmel ein Schneesturm auf, der alle Illusionen, alle Lügen wegfegt, den Schnee von gestern aufwirbelt und den Tod anweht ...
In seinem rasanten neuen Roman, der aus der Kälte kommt und ans Herz geht, erzählt Albert Ostermaier von einem Wettlauf mit der Zeit und dem Tod, der wie ein Lawine alles unter sich zu begraben droht.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Gehörig viel Spaß hat Judith von Sternburg an dieser Räuberpistole aus der Thriller-Kiste, die mit obskuren Figurennamen und allem, was das Genre an Verbrechensvarianten hergibt, bis zum Rand vollgestopft ist. Eine Parodie also? Fast, aber eben nicht ganz, meint die Rezensentin, die dem Buch in erster Linie Experimentcharakter bescheinigt: Ostermaier, schreibt Sternburg, erforscht die Grenzen des Genres zur Lächerlichkeit, überschreitet diese aber nicht. Zu diesem Zweck trägt der Autor zwar gewaltig dick auf, strapaziert manches Bild ganz ungeheuer und lässt ein umfangreiches Ensemble antreten, das auf ständige Tuchfühlung mit dem Tod geht, erklärt die Kritikerin weiter. Die Sprache ist dem Genre entsprechend markig, es mangelt nicht an kernigen, aber im Grunde hirnverbrannten Sentenzen: "So ein schöner Blödsinn", lacht von Sternburg auf. Doch ist das im Großen und Ganzen "gelungen", meint sie weiter und freut sich über die erfrischende Leichtigkeit dieses Romans.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2013Die erogenen Zonen der Skipiste
Letzte Abfahrt Kitzbühel: Albert Ostermaier hat einen theatralischen Liebesthriller geschrieben, der seine Figuren mit schmutzigen Phantasien und zielstrebigem Pathos in den Abgrund jagt.
Da macht einer ein Sprachfest und bittet die Wörter zum Tanz. Er treibt sie an und lässt sie rotieren bis zum Sprachwalzerdelirium: "Tatar und Tartaren, Tattoos und Tabus, Titeltunten und Tittentorpedos, Panzerkreuzer und Kreuzersonaten, Lenin in Platin und Stalin in Stahl, Rasputin und Putinraster, Flüchtlinge und Flüchtige, Wodka und Wotan, Traurigkeit und Trüffel, Weißbrot und Wasser, Ikonen und Ich-Drohnen, Grills und Grillen."
Wer aber ist der Veranstalter dieses Fests, und wo wird gefeiert? Es ist Albert Ostermaier, der Lyriker und Theaterautor, und es liegt nahe, ihn sich dabei vorzustellen auf einer Bühne, beim Poetry-Slam, wo die Wörter atemlos hitzig ins Mikrofon gestoßen werden und, zum Krach verstärkt, aus Lautsprechern wieder hervorbersten.
Doch der Text, dem diese Wörter entstammen, ist ein Roman oder soll einer sein. Die Party mit Wodka und Wotan steigt in Kitzbühel, im Luxusappartement eines Russen namens Vladimir ("eine Art Immobilienmakler für Oligarchen weltweit"), und das Setting der Erzählung ist das alljährlich am Wilden Kaiser stattfindende Skirennen auf der "Streif", auch bekannt als eine der gefährlichsten Abfahrten der Welt mit stellenweise bis zu 85 Prozent Gefälle.
Wer dieses Spektakel nicht kennt, sollte sich vielleicht zur Einstimmung einige der Youtube-Videos von irren Abfahrten auf dieser Piste ansehen, die manchmal sogar noch Showeinlagen beinhalten, allzu oft aber auch zu den übelsten Stürzen führen - alles unter den Augen einer johlenden Menge im Ausnahmezustand, den Ostermaier wie folgt beschreibt: "Glühweinstände, improvisierte Fanshops, Flaggenmeere, Schneekugeln, Hansi-Hinterseer-Spannbetttücher, Toni-Sailer-Masken mit Strohhalm, Streifreizwäsche mit Zielhang, Armenpelze, Reichenpelze, Würstel, Eitrige, Geplatzte, Bockwürste, Jagertee, Schnaps, Feuerkessel, Leuchtraketen, Tröten, unerträglicher Lärm" - das taugt für den Schriftsteller demnach als nettes Soziotop aus Schickeria, Ballermann-Tourismus, ganz normalen Menschen und abgründigen Existenzen.
Den Trubel eines solchen Tages nebst einigen im Text erwähnten realen Ereignissen wie etwa dem Sturz des Rennläufers Peter Fill im Januar dieses Jahres nutzt Ostermaier als Bühne. Auf ihr entwickelt er dann eine Art Kriminaldrama mit mehreren Figuren, deren Lebenswege sich hier schicksalhaft kreuzen. Im Mittelpunkt des Buches steht das Verschwinden eines Kindes.
Der Knabe heißt Igor, und neben den Gedanken dieses nicht eben glücklichen, auch gehänselten Jungen erfährt der Leser die intimsten Einsichten aller Personen, die in Beziehung zu ihm stehen: zuallererst die seiner Eltern Yvonne und Christoph. Die sind in Hassliebe verbunden und trauen einander das Schlimmste zu, wollen eigentlich aber den Urlaub in Kitzbühel zur Rettung ihrer Ehe nutzen. Daneben steht die undurchsichtige Figur des Russen Vladimir, der Igor entführen, womöglich töten lassen will und schon vorsorglich einen Anwalt einschaltet, der in ein Gewissensdilemma gerät. Im Suchtrupp nach dem vermissten Kind ist schließlich die Kommissarin Bonnie Klaid - Ostermaier scheint Namenskalauer zu lieben. Gleichzeitig tummeln sich auf der Piste auch noch ein gealterter Ski-Star unter Pädophilieverdacht sowie ein seltsamer Mann namens Ödön Lunge, dessen Kindertage wohl ebenso dunkel waren, wie es über lange Zeit seine Verbindung zum restlichen Buchgeschehen bleibt.
Irgendwie hat das jedenfalls alles mit Kindheit, Kinderliebe und ihrer Perversion zu tun, es geht auch um Medienkritik und vorschnelle Verdächtigungen. Es ist ein Buch über Ängste und Gewaltphantasien, von denen am Ende aber auch einige real werden. Nachdem Igor bei seinem Skikurs verschwindet, zieht zu allem Übel auch noch ein gigantischer Schneesturm auf - Ostermaier zieht in dem auch als Thriller beworbenen Buch alle Register und schlägt dabei einen hohen Ton von ironiefreiem Pathos an, der auch schon seinen vorangegangenen Prosatexten "Schwarze Sonne scheine" (2011) und "Die Liebende" (2012) bescheinigt wurde. Da darf dann auch schon mal das Blitzeis die Seele überziehen oder das Herz aus der Brust hinaus schlagen, "zum Horizont, zum Wilden Kaiser, zum großen Retten".
Bei manchen Passagen merkt man, wie sich der Autor in einen Rausch geschrieben hat, und diese tun dem Buch häufig gut, machen es radikal. Sie eröffnen zudem Assoziationsfelder der Sprache, in denen sich zum Beispiel Elemente der Ortsbeschreibung mit jener von menschlichen Körpern überlagern: Der Hahnenkamm etwa ist hier nicht nur der Berg über Kitzbühel, an dem das alles spielt, sondern auch eine erogene Zone des Protagonisten Christoph. Die Topographie der Streif liefert für solche Sprachspiele allerdings auch geradezu Steilvorlagen mit ihren Streckenabschnitten, die da "Mausefalle" oder "Traverse" heißen - man fühlt sich ein bisschen an Arno Schmidt erinnert, der in den Landschaftsbeschreibungen Karl Mays eine "Welt, aus Hintern erbaut" zu sehen glaubte, in der phallische Riesenbäume an liebreizenden Leibritzen lümmeln. Wo immer es erotischen Assoziationsspielraum gibt, betritt auch Ostermaier ihn, mal kühn, dann wieder durchaus konventionell: Die Metaphorik der Lawine etwa wird in seinem Text ziemlich überstrapaziert.
Wie in diesem Buch die Hansi-Hinterseer-Idylle Tirols zerlegt wird, ist dagegen stark und bereitet perfiden Lesegenuss. Österreichischer Nationalismus wird ebenso aufgespießt wie eine Gesellschaft aus "aufgespritzten Herzen" und "Schwänzen mit Geld-Chip". Auch die Einblicke in manche Bewusstseinsabgründe liest man mit Gewinn - die Figur des Entführer-Erfüllungsgehilfen Andrej etwa weist in ihrem Erleben einen hochgradig pathologischen Mix aus momentaner Wahrnehmung und literarischem Gedankentreibgut auf.
Bei der Fülle der Figuren wirkt es insgesamt allerdings etwas dick aufgetragen, wie dann bei jeder einzelnen immer gerade die schmutzigsten Phantasien und abwegigsten Ängste ausgemalt werden. Das erinnert an die unmotivierte Drastik mancher zeitgenössischer Blut-und-Sperma-Stücke auf dem Theater. Manche Gedankenströme erscheinen auch etwas fahrig aufs Papier geworfen; es ist kurios, dass gerade der Theatermann gelegentlich an der Rollenprosa scheitert.
So versiert Ostermaier in der sprachlichen Verdichtung und Rhythmisierung extravaganter Assoziationsketten auch scheint, sein dramatischer Reigen aus Episodengeschichten, die in diesem Buch durch die Einheit von Ort und Zeit zusammengeführt werden, liest sich häufig doch wie am Reißbrett entworfen.
Die ganze Geschichte wird zudem noch unter das Motto einer bekannten Bibelstelle gestellt, nämlich der Prediger-Passage "Jegliches hat seine Zeit", die schon vielfach Eingang in Literatur, Film und Musik gefunden hat. In Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" etwa ist sie grandios mit dem Romangeschehen verwoben. Hier dagegen hat dies die sehr schlichte - vielleicht auch beabsichtigt parodistische? - Evidenz eines etwas trashigen Krimis, der mit aller Macht auf die Einlösung des Todes in seinem Titel hindrängt.
JAN WIELE.
Albert Ostermaier: "Seine Zeit zu sterben". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 305 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Letzte Abfahrt Kitzbühel: Albert Ostermaier hat einen theatralischen Liebesthriller geschrieben, der seine Figuren mit schmutzigen Phantasien und zielstrebigem Pathos in den Abgrund jagt.
Da macht einer ein Sprachfest und bittet die Wörter zum Tanz. Er treibt sie an und lässt sie rotieren bis zum Sprachwalzerdelirium: "Tatar und Tartaren, Tattoos und Tabus, Titeltunten und Tittentorpedos, Panzerkreuzer und Kreuzersonaten, Lenin in Platin und Stalin in Stahl, Rasputin und Putinraster, Flüchtlinge und Flüchtige, Wodka und Wotan, Traurigkeit und Trüffel, Weißbrot und Wasser, Ikonen und Ich-Drohnen, Grills und Grillen."
Wer aber ist der Veranstalter dieses Fests, und wo wird gefeiert? Es ist Albert Ostermaier, der Lyriker und Theaterautor, und es liegt nahe, ihn sich dabei vorzustellen auf einer Bühne, beim Poetry-Slam, wo die Wörter atemlos hitzig ins Mikrofon gestoßen werden und, zum Krach verstärkt, aus Lautsprechern wieder hervorbersten.
Doch der Text, dem diese Wörter entstammen, ist ein Roman oder soll einer sein. Die Party mit Wodka und Wotan steigt in Kitzbühel, im Luxusappartement eines Russen namens Vladimir ("eine Art Immobilienmakler für Oligarchen weltweit"), und das Setting der Erzählung ist das alljährlich am Wilden Kaiser stattfindende Skirennen auf der "Streif", auch bekannt als eine der gefährlichsten Abfahrten der Welt mit stellenweise bis zu 85 Prozent Gefälle.
Wer dieses Spektakel nicht kennt, sollte sich vielleicht zur Einstimmung einige der Youtube-Videos von irren Abfahrten auf dieser Piste ansehen, die manchmal sogar noch Showeinlagen beinhalten, allzu oft aber auch zu den übelsten Stürzen führen - alles unter den Augen einer johlenden Menge im Ausnahmezustand, den Ostermaier wie folgt beschreibt: "Glühweinstände, improvisierte Fanshops, Flaggenmeere, Schneekugeln, Hansi-Hinterseer-Spannbetttücher, Toni-Sailer-Masken mit Strohhalm, Streifreizwäsche mit Zielhang, Armenpelze, Reichenpelze, Würstel, Eitrige, Geplatzte, Bockwürste, Jagertee, Schnaps, Feuerkessel, Leuchtraketen, Tröten, unerträglicher Lärm" - das taugt für den Schriftsteller demnach als nettes Soziotop aus Schickeria, Ballermann-Tourismus, ganz normalen Menschen und abgründigen Existenzen.
Den Trubel eines solchen Tages nebst einigen im Text erwähnten realen Ereignissen wie etwa dem Sturz des Rennläufers Peter Fill im Januar dieses Jahres nutzt Ostermaier als Bühne. Auf ihr entwickelt er dann eine Art Kriminaldrama mit mehreren Figuren, deren Lebenswege sich hier schicksalhaft kreuzen. Im Mittelpunkt des Buches steht das Verschwinden eines Kindes.
Der Knabe heißt Igor, und neben den Gedanken dieses nicht eben glücklichen, auch gehänselten Jungen erfährt der Leser die intimsten Einsichten aller Personen, die in Beziehung zu ihm stehen: zuallererst die seiner Eltern Yvonne und Christoph. Die sind in Hassliebe verbunden und trauen einander das Schlimmste zu, wollen eigentlich aber den Urlaub in Kitzbühel zur Rettung ihrer Ehe nutzen. Daneben steht die undurchsichtige Figur des Russen Vladimir, der Igor entführen, womöglich töten lassen will und schon vorsorglich einen Anwalt einschaltet, der in ein Gewissensdilemma gerät. Im Suchtrupp nach dem vermissten Kind ist schließlich die Kommissarin Bonnie Klaid - Ostermaier scheint Namenskalauer zu lieben. Gleichzeitig tummeln sich auf der Piste auch noch ein gealterter Ski-Star unter Pädophilieverdacht sowie ein seltsamer Mann namens Ödön Lunge, dessen Kindertage wohl ebenso dunkel waren, wie es über lange Zeit seine Verbindung zum restlichen Buchgeschehen bleibt.
Irgendwie hat das jedenfalls alles mit Kindheit, Kinderliebe und ihrer Perversion zu tun, es geht auch um Medienkritik und vorschnelle Verdächtigungen. Es ist ein Buch über Ängste und Gewaltphantasien, von denen am Ende aber auch einige real werden. Nachdem Igor bei seinem Skikurs verschwindet, zieht zu allem Übel auch noch ein gigantischer Schneesturm auf - Ostermaier zieht in dem auch als Thriller beworbenen Buch alle Register und schlägt dabei einen hohen Ton von ironiefreiem Pathos an, der auch schon seinen vorangegangenen Prosatexten "Schwarze Sonne scheine" (2011) und "Die Liebende" (2012) bescheinigt wurde. Da darf dann auch schon mal das Blitzeis die Seele überziehen oder das Herz aus der Brust hinaus schlagen, "zum Horizont, zum Wilden Kaiser, zum großen Retten".
Bei manchen Passagen merkt man, wie sich der Autor in einen Rausch geschrieben hat, und diese tun dem Buch häufig gut, machen es radikal. Sie eröffnen zudem Assoziationsfelder der Sprache, in denen sich zum Beispiel Elemente der Ortsbeschreibung mit jener von menschlichen Körpern überlagern: Der Hahnenkamm etwa ist hier nicht nur der Berg über Kitzbühel, an dem das alles spielt, sondern auch eine erogene Zone des Protagonisten Christoph. Die Topographie der Streif liefert für solche Sprachspiele allerdings auch geradezu Steilvorlagen mit ihren Streckenabschnitten, die da "Mausefalle" oder "Traverse" heißen - man fühlt sich ein bisschen an Arno Schmidt erinnert, der in den Landschaftsbeschreibungen Karl Mays eine "Welt, aus Hintern erbaut" zu sehen glaubte, in der phallische Riesenbäume an liebreizenden Leibritzen lümmeln. Wo immer es erotischen Assoziationsspielraum gibt, betritt auch Ostermaier ihn, mal kühn, dann wieder durchaus konventionell: Die Metaphorik der Lawine etwa wird in seinem Text ziemlich überstrapaziert.
Wie in diesem Buch die Hansi-Hinterseer-Idylle Tirols zerlegt wird, ist dagegen stark und bereitet perfiden Lesegenuss. Österreichischer Nationalismus wird ebenso aufgespießt wie eine Gesellschaft aus "aufgespritzten Herzen" und "Schwänzen mit Geld-Chip". Auch die Einblicke in manche Bewusstseinsabgründe liest man mit Gewinn - die Figur des Entführer-Erfüllungsgehilfen Andrej etwa weist in ihrem Erleben einen hochgradig pathologischen Mix aus momentaner Wahrnehmung und literarischem Gedankentreibgut auf.
Bei der Fülle der Figuren wirkt es insgesamt allerdings etwas dick aufgetragen, wie dann bei jeder einzelnen immer gerade die schmutzigsten Phantasien und abwegigsten Ängste ausgemalt werden. Das erinnert an die unmotivierte Drastik mancher zeitgenössischer Blut-und-Sperma-Stücke auf dem Theater. Manche Gedankenströme erscheinen auch etwas fahrig aufs Papier geworfen; es ist kurios, dass gerade der Theatermann gelegentlich an der Rollenprosa scheitert.
So versiert Ostermaier in der sprachlichen Verdichtung und Rhythmisierung extravaganter Assoziationsketten auch scheint, sein dramatischer Reigen aus Episodengeschichten, die in diesem Buch durch die Einheit von Ort und Zeit zusammengeführt werden, liest sich häufig doch wie am Reißbrett entworfen.
Die ganze Geschichte wird zudem noch unter das Motto einer bekannten Bibelstelle gestellt, nämlich der Prediger-Passage "Jegliches hat seine Zeit", die schon vielfach Eingang in Literatur, Film und Musik gefunden hat. In Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" etwa ist sie grandios mit dem Romangeschehen verwoben. Hier dagegen hat dies die sehr schlichte - vielleicht auch beabsichtigt parodistische? - Evidenz eines etwas trashigen Krimis, der mit aller Macht auf die Einlösung des Todes in seinem Titel hindrängt.
JAN WIELE.
Albert Ostermaier: "Seine Zeit zu sterben". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 305 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Albert Ostermaier hat einen theatralischen Liebesthriller geschrieben, der seine Figuren mit schmutzigen Phantasien und zielstrebigem Pathos in den Abgrund jagt."
Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.09.2013
Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.09.2013