Knapper ging es nicht: Leiche in Hotelzimmer gefunden. Eine winzige Zeitungsnotiz aus Buenos Aires, September 1923. Sollte das die beiden argentinischen Provinzjournalisten, die fünfzig Jahre später nach einem griffigen Sujet für einen Jubiläumsartikel ihres Blatts suchen, mehr interessieren als der mythische Boxkampf Luis Ángel Firpo gegen Jack Dempsey New York September 1923, bei dem der argentinische Herausforderer skandalös um den Sieg gebracht wurde? Mehr als das Gastspiel von Richard Strauss im selben Monat im Teatro Colón mit der bereits legendären Aufführung von Gustav Mahlers 1. Symphonie?
Sportredakteur Verani jedenfalls ist überzeugt, daß der Tod des Unbekannten mit dem Boxkampf zu tun hat. Die Versuche seines Kollegen vom Feuilleton, ihm Parallelen zwischen Boxkampf und Symphonien zu erläutern, läßt er stoisch über sich ergehen. Auch der subtile Clinch zwischen dem erfolgreichen Techniker Richard Strauss und dem genialisch tastenden Neuerer Gustav Mahler berührt ihn nicht sonderlich. Es müßte doch verdammtnochmal herauszukriegen sein, warum der Mann im Hotel, offenbar ein Ausländer, aufgeknüpft an der Decke hing. Hatte er sich bei dem Boxkampf fatal verwettet? Die Wirklichkeit - aber das erfährt der Leser erst sehr viel später von einem hellwachen Greis in Buenos Aires - ist um einiges zugespitzter.
Sportredakteur Verani jedenfalls ist überzeugt, daß der Tod des Unbekannten mit dem Boxkampf zu tun hat. Die Versuche seines Kollegen vom Feuilleton, ihm Parallelen zwischen Boxkampf und Symphonien zu erläutern, läßt er stoisch über sich ergehen. Auch der subtile Clinch zwischen dem erfolgreichen Techniker Richard Strauss und dem genialisch tastenden Neuerer Gustav Mahler berührt ihn nicht sonderlich. Es müßte doch verdammtnochmal herauszukriegen sein, warum der Mann im Hotel, offenbar ein Ausländer, aufgeknüpft an der Decke hing. Hatte er sich bei dem Boxkampf fatal verwettet? Die Wirklichkeit - aber das erfährt der Leser erst sehr viel später von einem hellwachen Greis in Buenos Aires - ist um einiges zugespitzter.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2007Der Rosenkrawallier
Aufwärtshaken: Martín Kohan boxt Richard Strauss aus dem Ring
Gustav Mahlers Erste Symphonie, interpretiert von den Wiener Philharmonikern, und der legendäre New Yorker Weltmeisterschafts-Endkampf im Schwergewichtsboxen zwischen Jack Dempsey und Luis Firpo: Ereignisse, zwischen denen geographische Kontinente und geistige Welten liegen. Wer wäre in der Lage, diese losen Enden in Sekundenschnelle mit einem mysteriösen Todesfall im City Hotel von Buenos Aires zu verknüpfen und zu einem sportlich-musikalischen Krimi zusammenzuprügeln? Richard Strauss!
Zu diesem Ergebnis kommt der argentinische Erzähler und Literaturhistoriker Martín Kohan. "Sekundenlang" nur - so auch der Titel - dauert dabei die erzählte Zeit seines Romans: nämlich die siebzehn Sekunden, die zwischen dem Moment liegen, da im September 1923 der als der "Wilde Stier aus der Pampa" berüchtigte Herausforderer Firpo den amerikanischen Titelverteidiger buchstäblich aus dem Ring boxt, wobei dieser bewusstlos den Sportfotografen Donald Mitchell unter sich begräbt; und dem Moment, da Dempsey in den Ring zurückkehrt, um wider Erwarten den Argentinier doch noch um den Titel zu bringen. Genau gleichzeitig mit diesen blinden Sekunden stirbt in Buenos Aires der österreichische Violoncellist Otto Stieglitz, erhängt an der Zimmerdecke durch seinen eigenen Gürtel. Am folgenden Tage hätte er im Teatro Colón spielen sollen, als zum erstenmal in der Geschichte Argentiniens Mahlers Erste aufgeführt wurde - unter der Leitung von Richard Strauss. War es Mord? Ein Suizid aus Leidenschaft? Vor allem: Was hat der Boxsport mit alledem zu tun?
Dergleichen verschwörungstheoretische Fragen wälzen genau fünfzig Jahre später in stundenlangen Streitgesprächen zwei argentinische Journalisten aus dem Provinznest Rawson, der Sportreporter Verani und der Musikkritiker Ledesma. Eigentlich sollen sie nur zwei Beiträge für die Jubiläumsausgabe ihres im Jahr dieser beiden Großereignisse gegründeten Käseblatts liefern. Aus den Artikeln aber wird nichts, weil mit den Autoren die hobbykriminologische Leidenschaft durchgeht. Hatte Musiker Stieglitz sein Vermögen, ja, selbst sein Instrument bei einer Sportwette verloren? Trieb ihn die Angst vor der Verachtung des dirigierenden Komponisten in den Tod? Über Ledesmas eigenen Tod hinaus bleibt der Fall ungelöst. Erst Jahre später stöbert ein weiterer Kollege namens Roque, zugleich Ich-Erzähler des Romans, einen argentinischen Cellisten auf, der den verstorbenen Stieglitz beim Gastspiel von 1923 vertreten hatte. Gemeinsam mit diesem Greis, einem passionierten Würfelspieler, gelingt es Roque, die Wahrheit zu rekonstruieren.
Dies vielgliedrige Panorama ergibt sich, wenn man versucht, die Handlung auf einen linearen Strang zu reduzieren. Doch Kohans Roman gleicht selbst einem Würfelbecher. Fast im Sekundentakt springen Schauplätze und Erzählperspektiven. Der sportliche Wettkampf der Boxer, der künstlerische der befreundeten und doch heimlich miteinander konkurrierenden Musiker Mahler und Strauss, der geschwätzige Kneipenstreit der zwei Zeitungsredakteure werden vom Autor in ständigem Wechsel durcheinandergesponnen.
Dabei fließen wiederum verborgene Nebenschauplätze und Nebentragödien ins Handlungsgewirr ein: sei es die unterirdisch nagende Liebestragödie des Ringrichters und gescheiterten Boxers John Gallagher; seien es Ledesmas und Mahlers verborgene Ehedramen oder der zerrüttende Kampf des Fotografen Mitchell um die erste Kamera; sei es Mahlers überraschendes Zusammentreffen mit Sigmund Freud in Belgien oder die schmerzliche Enthüllung, die Richard Strauss Jahrzehnte nach dem Tod seines Freundes aus den Tagebüchern der Ehefrau Alma Mahler-Werfel entnehmen muss.
Die Detailfülle dieser unzusammenhängend erscheinenden Dramen, die doch unausweichlich miteinander verkettet sind, führt dazu, dass sie, von Kohan spinnennetzartig ausgebreitet, sich jeweils nur in Zeitlupe voranbewegen können; dass selbst die wenigen Sekunden von Jack Dempseys Bewusstlosigkeit sich fast provokant zu einer mehrhundertseitigen Ewigkeit dehnen.
Wie sehr der Roman bei alledem eine große Geschwindigkeit und Spannung behält, ist eine bewundernswerte Leistung seines Autors, ebenso wie die Tatsache, dass trotz der Verschachtelung von verschiedensten erzählerischen Ebenen, die gleichzeitig zur Jahrhundertwende, in den Zwanzigern, den Siebzigern, den Neunzigern und in der Jetztzeit spielen, eine kohärente Erzählung erhalten bleibt. Dennoch ist die Lektüre eine konzentrations- und geduldintensive Herausforderung, die der Verlag in subtiler Flucht nach vorn als ein "Kompliment an die Intelligenz der Leser" preist. Denn gleich den knobelnden Würfelspielern muss dieser die Wirklichkeit ständig aus Einzelteilen zusammenfügen. Dabei stellt er sich zuweilen die Frage, welchen Sinn dies komplizierte Verschachteln des Textes überhaupt hat, warum er das Kompliment dieser intellektuelle Sportübung über sich ergehen lassen soll, nämlich nur, um letztlich Mallarmés Binsenwahrheit bestätigt zu finden, dass ein Würfelwurf niemals den Zufall abschaffen wird.
Der Weg ist das Ziel. Denn an narrativer Virtuosität ist Kohan schwer zu übertreffen; ein Vergnügen, das durch die flüssige Übersetzung von Peter Kultzen nur noch gesteigert wird. Wer schon immer einen Schwergewichtsboxer beim Dirigieren eines Symphonieorchesters beobachten wollte, wird dank Martín Kohan auch mit Genuss verfolgen, wie Mahler mit genialischem Linkshaken Strauss derart gezielt aus dem Ring boxt, dass diesem bereits das Lied von der Erde erklingt, bevor er bei den eigenen letzten Liedern bis vier zählen kann.
FLORIAN BORCHMEYER
Martín Kohan: "Sekundenlang". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 271 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufwärtshaken: Martín Kohan boxt Richard Strauss aus dem Ring
Gustav Mahlers Erste Symphonie, interpretiert von den Wiener Philharmonikern, und der legendäre New Yorker Weltmeisterschafts-Endkampf im Schwergewichtsboxen zwischen Jack Dempsey und Luis Firpo: Ereignisse, zwischen denen geographische Kontinente und geistige Welten liegen. Wer wäre in der Lage, diese losen Enden in Sekundenschnelle mit einem mysteriösen Todesfall im City Hotel von Buenos Aires zu verknüpfen und zu einem sportlich-musikalischen Krimi zusammenzuprügeln? Richard Strauss!
Zu diesem Ergebnis kommt der argentinische Erzähler und Literaturhistoriker Martín Kohan. "Sekundenlang" nur - so auch der Titel - dauert dabei die erzählte Zeit seines Romans: nämlich die siebzehn Sekunden, die zwischen dem Moment liegen, da im September 1923 der als der "Wilde Stier aus der Pampa" berüchtigte Herausforderer Firpo den amerikanischen Titelverteidiger buchstäblich aus dem Ring boxt, wobei dieser bewusstlos den Sportfotografen Donald Mitchell unter sich begräbt; und dem Moment, da Dempsey in den Ring zurückkehrt, um wider Erwarten den Argentinier doch noch um den Titel zu bringen. Genau gleichzeitig mit diesen blinden Sekunden stirbt in Buenos Aires der österreichische Violoncellist Otto Stieglitz, erhängt an der Zimmerdecke durch seinen eigenen Gürtel. Am folgenden Tage hätte er im Teatro Colón spielen sollen, als zum erstenmal in der Geschichte Argentiniens Mahlers Erste aufgeführt wurde - unter der Leitung von Richard Strauss. War es Mord? Ein Suizid aus Leidenschaft? Vor allem: Was hat der Boxsport mit alledem zu tun?
Dergleichen verschwörungstheoretische Fragen wälzen genau fünfzig Jahre später in stundenlangen Streitgesprächen zwei argentinische Journalisten aus dem Provinznest Rawson, der Sportreporter Verani und der Musikkritiker Ledesma. Eigentlich sollen sie nur zwei Beiträge für die Jubiläumsausgabe ihres im Jahr dieser beiden Großereignisse gegründeten Käseblatts liefern. Aus den Artikeln aber wird nichts, weil mit den Autoren die hobbykriminologische Leidenschaft durchgeht. Hatte Musiker Stieglitz sein Vermögen, ja, selbst sein Instrument bei einer Sportwette verloren? Trieb ihn die Angst vor der Verachtung des dirigierenden Komponisten in den Tod? Über Ledesmas eigenen Tod hinaus bleibt der Fall ungelöst. Erst Jahre später stöbert ein weiterer Kollege namens Roque, zugleich Ich-Erzähler des Romans, einen argentinischen Cellisten auf, der den verstorbenen Stieglitz beim Gastspiel von 1923 vertreten hatte. Gemeinsam mit diesem Greis, einem passionierten Würfelspieler, gelingt es Roque, die Wahrheit zu rekonstruieren.
Dies vielgliedrige Panorama ergibt sich, wenn man versucht, die Handlung auf einen linearen Strang zu reduzieren. Doch Kohans Roman gleicht selbst einem Würfelbecher. Fast im Sekundentakt springen Schauplätze und Erzählperspektiven. Der sportliche Wettkampf der Boxer, der künstlerische der befreundeten und doch heimlich miteinander konkurrierenden Musiker Mahler und Strauss, der geschwätzige Kneipenstreit der zwei Zeitungsredakteure werden vom Autor in ständigem Wechsel durcheinandergesponnen.
Dabei fließen wiederum verborgene Nebenschauplätze und Nebentragödien ins Handlungsgewirr ein: sei es die unterirdisch nagende Liebestragödie des Ringrichters und gescheiterten Boxers John Gallagher; seien es Ledesmas und Mahlers verborgene Ehedramen oder der zerrüttende Kampf des Fotografen Mitchell um die erste Kamera; sei es Mahlers überraschendes Zusammentreffen mit Sigmund Freud in Belgien oder die schmerzliche Enthüllung, die Richard Strauss Jahrzehnte nach dem Tod seines Freundes aus den Tagebüchern der Ehefrau Alma Mahler-Werfel entnehmen muss.
Die Detailfülle dieser unzusammenhängend erscheinenden Dramen, die doch unausweichlich miteinander verkettet sind, führt dazu, dass sie, von Kohan spinnennetzartig ausgebreitet, sich jeweils nur in Zeitlupe voranbewegen können; dass selbst die wenigen Sekunden von Jack Dempseys Bewusstlosigkeit sich fast provokant zu einer mehrhundertseitigen Ewigkeit dehnen.
Wie sehr der Roman bei alledem eine große Geschwindigkeit und Spannung behält, ist eine bewundernswerte Leistung seines Autors, ebenso wie die Tatsache, dass trotz der Verschachtelung von verschiedensten erzählerischen Ebenen, die gleichzeitig zur Jahrhundertwende, in den Zwanzigern, den Siebzigern, den Neunzigern und in der Jetztzeit spielen, eine kohärente Erzählung erhalten bleibt. Dennoch ist die Lektüre eine konzentrations- und geduldintensive Herausforderung, die der Verlag in subtiler Flucht nach vorn als ein "Kompliment an die Intelligenz der Leser" preist. Denn gleich den knobelnden Würfelspielern muss dieser die Wirklichkeit ständig aus Einzelteilen zusammenfügen. Dabei stellt er sich zuweilen die Frage, welchen Sinn dies komplizierte Verschachteln des Textes überhaupt hat, warum er das Kompliment dieser intellektuelle Sportübung über sich ergehen lassen soll, nämlich nur, um letztlich Mallarmés Binsenwahrheit bestätigt zu finden, dass ein Würfelwurf niemals den Zufall abschaffen wird.
Der Weg ist das Ziel. Denn an narrativer Virtuosität ist Kohan schwer zu übertreffen; ein Vergnügen, das durch die flüssige Übersetzung von Peter Kultzen nur noch gesteigert wird. Wer schon immer einen Schwergewichtsboxer beim Dirigieren eines Symphonieorchesters beobachten wollte, wird dank Martín Kohan auch mit Genuss verfolgen, wie Mahler mit genialischem Linkshaken Strauss derart gezielt aus dem Ring boxt, dass diesem bereits das Lied von der Erde erklingt, bevor er bei den eigenen letzten Liedern bis vier zählen kann.
FLORIAN BORCHMEYER
Martín Kohan: "Sekundenlang". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 271 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Florian Borchmeyer müht sich redlich, die verzwickte Handlung dieses Musik-Boxsport-Krimis zusammenzufassen, der sich allerdings durch enormes Tempo und eine virtuose Handhabung der vielen Handlungsstränge auszeichnet. Die erzählte Zeit des Romans erstreckt sich nur über 17 Sekunden, dazwischen wird aber in Sprüngen, Rückblenden und Gesprächen über einen legendären Boxkampf von 1923, der Erstaufführung vom Gustav Mahlers Erster Symphonie unter der Leitung von Richard Strauß, dem mysteriösen Tod eines Cellisten und dem 50 Jahre später stattfindenden Versuch, diesen aufzuklären, erzählt, nebst einigen weiteren Tragödien, so der Rezensent ziemlich überwältigt. Dies alles stellt hohe Anforderungen an die Geduld und die Konzentrationsfähigkeit der Leser, so Borchmeyer, und mitunter wirft der verschachtelte Roman bei ihm auch die Frage auf, warum denn alles derart rätselhaft und schwierig sein muss. Dass er alles in allem aber doch begeistert ist, liegt vor allem an der sprachlichen und erzählerischen "Virtuosität" des argentinischen Autors, wie er preist. Und auch die Übersetzung ins Deutsche durch Peter Kultzen tut ihr übriges, den Rezensenten trotz der Lektüremühen bei der Stange zu halten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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