»Mit anscheinend unbewussten Mitteln lässt der Autor eine Tür offen stehen, durch die wir ferne Geräusche hören.« Virginia WoolfMehr als zwanzig Jahre lang hat Gilbert White in der ländlichen Gemeinde Selborne in Hampshire das Verhalten der Tiere und die Veränderungen der Pflanzen im Wechsel der Jahreszeiten beobachtet und dokumentiert. Sein einfühlsamer und vertrauter Ton erweckt noch heute den Eindruck, man wäre bei seinen Wanderungen durch die Landschaft dabei gewesen. Wie über alte Freunde schreibt White über die Flora und Fauna Englands: Von den Gewohnheiten einer exzentrischen Schildkröte bis hin zu den Geheimnissen der Vogelwanderung notiert White jedes wahrgenommene Detail. Und das nicht zuletzt mit dem Anspruch, andere dazu zu inspirieren, ihre eigene Umgebung mit der gleichen Freude und Aufmerksamkeit zu beobachten. Gilbert White hat wie wenige andere die Beziehung zwischen Mensch und Natur geprägt. Lange vor Darwin erkannte White bereits die entscheidende Rolle von Würmern bei der Bodenbildung und zog Schlüsse über die Bedeutung des Gesangs von Vögeln. Seine präzisen, gewissenhaften und dennoch mit geistreichem Witz verfassten Beobachtungen haben so begeisterte Leser wie Charles Darwin und Virginia Woolf gefunden und wurden je nach Epoche mal als nostalgische Beschwörung eines vergangenen Natur- und Weltverständnisses, als Vorbild für nachfolgende Pflanzen- und Tierstudien sowie als Vorläufer der modernen Ökologie betrachtet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2021Beobachten mit allen Sinnen
Er sah genau hin und las viel: Gilbert Whites "Naturgeschichte von Selborne" erscheint doch noch auf Deutsch. Und sogar gleich in zwei Ausgaben.
Es sind die "Apostel" des schwedischen Naturforschers Carl von Linné, die im achtzehnten Jahrhundert die Praxis langer Forschungsreisen rund um die Welt etablieren, um Pflanzen zu sammeln und sie nach Europa zu bringen - nicht nur zum Zwecke wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch in der Hoffnung, manche dieser Pflanzen gewinnbringend kultivieren zu können. Die berühmtesten dieser Forschungsreisenden bereicherten durch ihre Funde und Beschreibungen die Kenntnisse über die Pflanzenwelt der Erde in entscheidender Weise. Vor diesem Hintergrund mag es verwundern, dass in dieser Zeit des beginnenden Kolonialismus und globaler Vernetzung eines der erfolgreichsten naturgeschichtlichen Bücher durch und durch lokalen Charakter hatte: Gilbert Whites "A Natural History of Selborne", ein Buch, das im Jahr 1789 erschien und seitdem ohne Unterbrechung lieferbar blieb. Und möglicherweise noch überraschender ist, dass es erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde. Spät also, aber dafür gleich zwei Mal, Esther Kinsky hat es für die "Naturkunden"-Reihe des Matthes & Seitz Verlags übersetzt, Rolf Schönlau für eine Ausgabe in Der Anderen Bibliothek.
Der Pfarrer Gilbert White (1720 - 1793) verbrachte nahezu sein gesamtes Leben in dem 700-Seelen-Dorf Selborne in der südenglischen Grafschaft Hampshire. Nachdem er 1768 den Zoologen Thomas Pennant kennengelernt hatte, der ihm eine strukturierte Vorlage für naturgeschichtliche Beobachtungen zur Verfügung stellte, begann er bis zu seinem Tod ein wissenschaftliches Tagebuch zu führen. Die Entscheidung, seine Beobachtungen in Briefform zu veröffentlichen, traf er nach dem Erfolg einer ersten, in Briefform verfassten Arbeit über Schwalben, Mehlschwalben und Mauersegler im Jahr 1774. Es sollte dann noch fünfzehn Jahre dauern, bis White hundertzehn Briefe an Thomas Pennant sowie den Juristen und Naturhistoriker Daines Barrington in Buchform im Verlag seines Bruders veröffentlichte.
White stellte in seinen Briefen eine völlig neue Art und Weise des Beobachtens vor, die fokussiert war auf Tiere und ihr Verhalten in ihren natürlichen Lebensräumen. Seine Beschreibungen beschränken sich auch nicht auf visuelle Aspekte, sondern alle Sinne werden in den Dienst der Beobachtung gestellt. Beim Sezieren von Fledermäusen berichtet er über ihr "sanftes und geschmeidiges Fell", er schildert aber auch ihren "ranzigen, abstoßenden Geruch".
War es Mangel an Ehrgeiz, der White dazu brachte, seine Beobachtungen auf ein vergleichsweise kleines Gebiet zu begrenzen? Es zeigten sich darin wohl eher die Grenzen dessen, was er mit seiner aufwendigen Methodik zu erreichen vermochte. Denn in seinem Buch verkündete er ein hochgestecktes Ziel, nämlich den Weg zu einer "universellen und korrekten Naturgeschichte" zu bahnen. Eine solche Naturgeschichte sollte sich aus einer Reihe detaillierter Studien ergeben, für die seine Beschreibungen als Modell dienten.
In seinem siebten Brief an Barrington schreibt White, dass "jemand, der nur ein einziges Gebiet untersucht, die Naturforschung vermutlich mehr voran(bringt) als diejenigen, die weit über das hinausgreifen, was sie bestenfalls kennengelernt haben können". Lange,trockene Monographien, wie Darwin sie schrieb, um seinen Ruf als ernst zu nehmender Wissenschaftler zu festigen, spielten erst im neunzehnten Jahrhundert eine Rolle. Für White dagegen galt es, seine Leser mit abwechslungsreichen Beschreibungen zu unterhalten, um sie zur Nachahmung anzuregen. Naturgeschichte war im achtzehnten Jahrhundert nichts für Einzelkämpfer, die sich in ihren Arbeitszimmern plagten, sondern ein Anlass für Geselligkeit und Unterhaltung.
Whites Buch war in seiner über zweihundertjährigen Geschichte immer wieder Anknüpfungspunkt einer Nostalgie für selbstgenügsame Ortschaften oder Regionen. Selborne musste im neunzehnten Jahrhundert das tugendhafte Land im Kontrast zur korrumpierten Stadt symbolisieren, stand für ländliche Stabilität gegen eine urban geprägte unübersichtliche Gegenwart. Obwohl Kritiker solcher Kontrastbilder immer wieder darauf hinwiesen, dass Wissen über einen Ort auf Konzepten beruht, die durchaus nicht aus direkter Erfahrung am Ort entstehen. In Whites Fall waren es die Methoden des Sammelns, Vergleichens und Kategorisierens, die er aufgrund seiner Vertrautheit mit der Tradition der Naturgeschichte kannte.
Whites intellektuelle Welt war vor allem geprägt durch Carl von Linnés Werk. Linné beschrieb eine harmonische, von Gott gestaltete Welt, in der jede Art einen eindeutigen Platz zugewiesen erhielt. Die Anwendung der Linné'schen Systematik fügte Selborne in dieses allumfassende System der Natur ein, wobei Selbornes lokale Besonderheit erst sichtbar wurde durch die globale Akkumulation von naturgeschichtlichem Wissen. White war ein begieriger Leser wissenschaftlicher Reisebeschreibungen, und er nutzte seine Lektüre und Kontakte, um Licht auf die Naturerscheinungen in Selborne zu werfen. Er erhielt Vogelbälge aus Gibraltar, um Exemplare in Selborne zu identifizieren, er zweifelte an Michel Adansons Behauptung, im Senegal überwinternde Schwalben gesehen zu haben, und in seiner Diskussion über die Rolle von Bäumen im Wasserkreislauf bezog er sich auf Per Kalms Beobachtungen aus Nordamerika, dass Entwaldung zu Trockenheit führen kann. White erwähnt ungefähr dreißig Länder und Regionen in seinen Briefen, was zeigt, dass er sich zu eigen machte, worauf Alexander von Humboldt einige Jahre später hinwies - dass das Studium der Natur an einem bestimmten Ort immer den Vergleich mit anderen Orten einschließen muss.
Beiden nun vorliegenden Übersetzungen gelingt es exzellent, Ton und Charakter des Originals wiederzugeben. Manche Termini stellen jedoch große Herausforderungen für eine Übersetzung dar. Einmal berichtet White von einem kleinen, seltenen Singvogel mit dem Namen "pettichaps", der immer öfter in seinem Garten auftaucht. Esther Kinsky übersetzt den Namen als Klappergrasmücke (Sylvia curruca), während Rolf Schönlau diesen Vogel als die Gartengrasmücke (Sylvia borin) identifiziert. Der altertümliche Name "pettichaps" bezeichnete Vögel aus den Gattungen der Grasmücken (Sylvia) und der Laubsänger (Phylloscopus), und die Übersetzungen täuschen eine Genauigkeit vor, die White in diesem Brief nicht bietet.
Dies soll in keiner Weise von den Leistungen der Übersetzer ablenken, die naturgeschichtlichen Kategorien des achtzehnten Jahrhunderts sind nicht ohne Unschärfen ins 21. Jahrhundert übertragbar. Beide Ausgaben bieten mit ihren Vorworten und ausführlichen Anmerkungen einen informativen Kontext für Whites Werk. Wer jedoch auf Illustrationen nicht verzichten möchte, muss zur Ausgabe aus der Der Anderen Bibliothek greifen. THOMAS WEBER
Gilbert White: "Die Erkundung von Selborne durch Reverend Gilbert White". Eine illustrierte Naturgeschichte.
Aus dem Englischen von Rolf Schönlau, mit einem Essay von Virginia Woolf. Die Andere Bibliothek, Berlin 2021. 397 S., Abb., geb., 44,- Euro.
Gilbert White: "Selborne und seine Naturgeschichte".
Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 287 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er sah genau hin und las viel: Gilbert Whites "Naturgeschichte von Selborne" erscheint doch noch auf Deutsch. Und sogar gleich in zwei Ausgaben.
Es sind die "Apostel" des schwedischen Naturforschers Carl von Linné, die im achtzehnten Jahrhundert die Praxis langer Forschungsreisen rund um die Welt etablieren, um Pflanzen zu sammeln und sie nach Europa zu bringen - nicht nur zum Zwecke wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch in der Hoffnung, manche dieser Pflanzen gewinnbringend kultivieren zu können. Die berühmtesten dieser Forschungsreisenden bereicherten durch ihre Funde und Beschreibungen die Kenntnisse über die Pflanzenwelt der Erde in entscheidender Weise. Vor diesem Hintergrund mag es verwundern, dass in dieser Zeit des beginnenden Kolonialismus und globaler Vernetzung eines der erfolgreichsten naturgeschichtlichen Bücher durch und durch lokalen Charakter hatte: Gilbert Whites "A Natural History of Selborne", ein Buch, das im Jahr 1789 erschien und seitdem ohne Unterbrechung lieferbar blieb. Und möglicherweise noch überraschender ist, dass es erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde. Spät also, aber dafür gleich zwei Mal, Esther Kinsky hat es für die "Naturkunden"-Reihe des Matthes & Seitz Verlags übersetzt, Rolf Schönlau für eine Ausgabe in Der Anderen Bibliothek.
Der Pfarrer Gilbert White (1720 - 1793) verbrachte nahezu sein gesamtes Leben in dem 700-Seelen-Dorf Selborne in der südenglischen Grafschaft Hampshire. Nachdem er 1768 den Zoologen Thomas Pennant kennengelernt hatte, der ihm eine strukturierte Vorlage für naturgeschichtliche Beobachtungen zur Verfügung stellte, begann er bis zu seinem Tod ein wissenschaftliches Tagebuch zu führen. Die Entscheidung, seine Beobachtungen in Briefform zu veröffentlichen, traf er nach dem Erfolg einer ersten, in Briefform verfassten Arbeit über Schwalben, Mehlschwalben und Mauersegler im Jahr 1774. Es sollte dann noch fünfzehn Jahre dauern, bis White hundertzehn Briefe an Thomas Pennant sowie den Juristen und Naturhistoriker Daines Barrington in Buchform im Verlag seines Bruders veröffentlichte.
White stellte in seinen Briefen eine völlig neue Art und Weise des Beobachtens vor, die fokussiert war auf Tiere und ihr Verhalten in ihren natürlichen Lebensräumen. Seine Beschreibungen beschränken sich auch nicht auf visuelle Aspekte, sondern alle Sinne werden in den Dienst der Beobachtung gestellt. Beim Sezieren von Fledermäusen berichtet er über ihr "sanftes und geschmeidiges Fell", er schildert aber auch ihren "ranzigen, abstoßenden Geruch".
War es Mangel an Ehrgeiz, der White dazu brachte, seine Beobachtungen auf ein vergleichsweise kleines Gebiet zu begrenzen? Es zeigten sich darin wohl eher die Grenzen dessen, was er mit seiner aufwendigen Methodik zu erreichen vermochte. Denn in seinem Buch verkündete er ein hochgestecktes Ziel, nämlich den Weg zu einer "universellen und korrekten Naturgeschichte" zu bahnen. Eine solche Naturgeschichte sollte sich aus einer Reihe detaillierter Studien ergeben, für die seine Beschreibungen als Modell dienten.
In seinem siebten Brief an Barrington schreibt White, dass "jemand, der nur ein einziges Gebiet untersucht, die Naturforschung vermutlich mehr voran(bringt) als diejenigen, die weit über das hinausgreifen, was sie bestenfalls kennengelernt haben können". Lange,trockene Monographien, wie Darwin sie schrieb, um seinen Ruf als ernst zu nehmender Wissenschaftler zu festigen, spielten erst im neunzehnten Jahrhundert eine Rolle. Für White dagegen galt es, seine Leser mit abwechslungsreichen Beschreibungen zu unterhalten, um sie zur Nachahmung anzuregen. Naturgeschichte war im achtzehnten Jahrhundert nichts für Einzelkämpfer, die sich in ihren Arbeitszimmern plagten, sondern ein Anlass für Geselligkeit und Unterhaltung.
Whites Buch war in seiner über zweihundertjährigen Geschichte immer wieder Anknüpfungspunkt einer Nostalgie für selbstgenügsame Ortschaften oder Regionen. Selborne musste im neunzehnten Jahrhundert das tugendhafte Land im Kontrast zur korrumpierten Stadt symbolisieren, stand für ländliche Stabilität gegen eine urban geprägte unübersichtliche Gegenwart. Obwohl Kritiker solcher Kontrastbilder immer wieder darauf hinwiesen, dass Wissen über einen Ort auf Konzepten beruht, die durchaus nicht aus direkter Erfahrung am Ort entstehen. In Whites Fall waren es die Methoden des Sammelns, Vergleichens und Kategorisierens, die er aufgrund seiner Vertrautheit mit der Tradition der Naturgeschichte kannte.
Whites intellektuelle Welt war vor allem geprägt durch Carl von Linnés Werk. Linné beschrieb eine harmonische, von Gott gestaltete Welt, in der jede Art einen eindeutigen Platz zugewiesen erhielt. Die Anwendung der Linné'schen Systematik fügte Selborne in dieses allumfassende System der Natur ein, wobei Selbornes lokale Besonderheit erst sichtbar wurde durch die globale Akkumulation von naturgeschichtlichem Wissen. White war ein begieriger Leser wissenschaftlicher Reisebeschreibungen, und er nutzte seine Lektüre und Kontakte, um Licht auf die Naturerscheinungen in Selborne zu werfen. Er erhielt Vogelbälge aus Gibraltar, um Exemplare in Selborne zu identifizieren, er zweifelte an Michel Adansons Behauptung, im Senegal überwinternde Schwalben gesehen zu haben, und in seiner Diskussion über die Rolle von Bäumen im Wasserkreislauf bezog er sich auf Per Kalms Beobachtungen aus Nordamerika, dass Entwaldung zu Trockenheit führen kann. White erwähnt ungefähr dreißig Länder und Regionen in seinen Briefen, was zeigt, dass er sich zu eigen machte, worauf Alexander von Humboldt einige Jahre später hinwies - dass das Studium der Natur an einem bestimmten Ort immer den Vergleich mit anderen Orten einschließen muss.
Beiden nun vorliegenden Übersetzungen gelingt es exzellent, Ton und Charakter des Originals wiederzugeben. Manche Termini stellen jedoch große Herausforderungen für eine Übersetzung dar. Einmal berichtet White von einem kleinen, seltenen Singvogel mit dem Namen "pettichaps", der immer öfter in seinem Garten auftaucht. Esther Kinsky übersetzt den Namen als Klappergrasmücke (Sylvia curruca), während Rolf Schönlau diesen Vogel als die Gartengrasmücke (Sylvia borin) identifiziert. Der altertümliche Name "pettichaps" bezeichnete Vögel aus den Gattungen der Grasmücken (Sylvia) und der Laubsänger (Phylloscopus), und die Übersetzungen täuschen eine Genauigkeit vor, die White in diesem Brief nicht bietet.
Dies soll in keiner Weise von den Leistungen der Übersetzer ablenken, die naturgeschichtlichen Kategorien des achtzehnten Jahrhunderts sind nicht ohne Unschärfen ins 21. Jahrhundert übertragbar. Beide Ausgaben bieten mit ihren Vorworten und ausführlichen Anmerkungen einen informativen Kontext für Whites Werk. Wer jedoch auf Illustrationen nicht verzichten möchte, muss zur Ausgabe aus der Der Anderen Bibliothek greifen. THOMAS WEBER
Gilbert White: "Die Erkundung von Selborne durch Reverend Gilbert White". Eine illustrierte Naturgeschichte.
Aus dem Englischen von Rolf Schönlau, mit einem Essay von Virginia Woolf. Die Andere Bibliothek, Berlin 2021. 397 S., Abb., geb., 44,- Euro.
Gilbert White: "Selborne und seine Naturgeschichte".
Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 287 S., geb., 32,- Euro.
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