Ein Auftrag, der den Auftraggeber eigentlich nicht interessieren kann. Der auch Selb im Grunde nicht interessiert und in den er sich doch immer tiefer verstrickt. Merkwürdige Dinge ereignen sich in einer alteingesessenen Schwetzinger Privatbank. Die Spur des Geldes führt Selb in den Osten, nach Cottbus, in die Niederlagen der Nachwendezeit. Ein Kriminalroman über ein Kapitel aus der jüngsten deutsch-deutschen Vergangenheit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2001Ein Magnet gesamtgesellschaftlicher Probleme
Von einem Brennpunkt zum nächsten: Für den Helden von Bernhard Schlinks Roman „Selbs Mord” ist kein Ruhestand in Sicht
Verfasser von Detektivomanen müssen damit rechnen, dass ihre Leser auf eigene Faust Verdachtsmomente sammeln. Zum Beispiel gegen den Detektiv selbst. Wie kann es sein, daß Gerhard Selb, ein Mann, der 1942 als Staatsanwalt begann, noch in unseren Tagen eine mäßig florierende Privatdetektei in Mannheim betreibt? Nach unseren Berechnungen müßte Selb die Achtzig lange hinter sich haben, in Bernhard Schlinks Roman hingegen drehen sich die Gespräche mit seiner Lebensgefährtin auffällig oft um Fragen der Familienplanung. Es ist andernteils nicht so, dass Selb seinem Alter gar keinen Tribut zollen müsste. Zügig eilt er von einer Herzschwäche zur nächsten, und am Ende wird ihn ein doppelter Bypass wieder dorthin befördern, wo er zu Beginn schon herkam. Aus der Reha in die Reha führt die Erzählstrecke des Romans, aber dazwischen beweist Selb einiges an Stehvermögen. Das muss er auch, denn es kommt in diesem Roman so ziemlich alles vor, was zwischen 1942 und heute die Welt erschüttert hat. Unwahrscheinlich ist nur, dass dies alles einer einzigen Person zustößt, und das auch noch in Mannheim. Aber so hat Schlink seinen Selb eben konstruiert. Der alte Mann hat das unheilvolle Talent, auf Schritt und Tritt gesamtgesellschaftliche Probleme auf sich zu ziehen. Kein Wunder, dass kein Ruhestand ihn je erlöst.
Entweder ist Selb für die Rolle, die Schlink ihm zugedacht hat, zu alt, oder der Roman ist nicht ganz neu. Im Winter 2000/2001 habe er das Buch als Gast der New York Public Library „fertiggeschrieben”, ist in Schlinks Danksagung zu lesen. „Fertiggeschrieben”, heißt vielleicht, dass der Rest des Romans schon eine Weile fertiggestellt war, dass er möglicherweise Anfang der neunziger Jahre geschrieben wurde und auch in jenen Jahren spielt? Die wesentlichen Ingredenzien des Romans gab es ja schon damals: Neonazis, militante Antifaschisten, die russische Mafia, die Treuhand, die Wirren der Nachwendezeit. Ganz abgesehen von alten Nazis und doppelt betrogenen Juden. All dies und noch viel mehr, Selbs titelgebenden Mord eingeschlossen, hat Schlink miteinander verrührt, und der arme Selb hat alle Hände voll zu tun, um mit seiner eingeschränkten Physis so rasch von einem Brennpunkt zum nächsten zu gelangen. Was Schlink Selb zumutet, grenzt an Körperverletzung. Nur gut, daß Selb gar keinen Körper hat. Auch wenn er unablässig isst und trinkt wie Saarbrücker Tatort-Kommissare: dieser Mann ist nicht aus Fleisch und Blut. Er ist allein dazu da bestimmt, stellvertretend über einen Parcours zu hetzen, an dessen Ende die Einsicht winkt, daß Täter Opfer und Opfer Täter sind.
Dabei fängt alles so idyllisch an wie ein Dürrenmatt-Roman, in der Provinz, im Ruhestand, in einem Lebensalter, in dem alles für Muße spricht, aber der Dienst dann doch kein Ende nehmen darf. Eine Limousine liegt im Straßengraben, und schon ist Selb gefordert. Ein paar Tage später hat er einen Auftrag. Für einen Schwetzinger Privatbankier namens Welker soll er herausfinden, wer der stille Teilhaber war, der vor vielen Jahrzehnten beträchtliche Summen in das stets bedrohte Bankhaus investiert hat. Ach, wenn es doch nur bei dieser Frage und ihrer Aufklärung bliebe! Aber Schlink hat wie Dürrenmatt den Drang zum ganz großen Komplott. Wo sich bei Dürrenmatt alles zu schlechter, aber immerhin dämonischer Metaphysik erhebt, schlägt bei Schlink die Stunde der moralisierenden Zeitgeschichte. Welkers Adlatus steckt mit der Russenmafia unter einer Decke; über ein von der Treuhand erworbenes Cottbuser Geldhaus soll er kriminelle Gelder gewaschen haben. Hat außerdem er Welkers Frau ermordet, seine Kinder entführt und den Bankier erpresst? Dann wäre der Roman schon nach 150 Seiten zu Ende. Was dann aber folgt, ist die große Peripetie, nach der auch die Unschuldigen schuldig geworden sind. Ja, es scheint, als habe Schlink am Ende die angefallene Gesamtschuld nach einem geheimen Proporzschlüssel auf die Romanfiguren verteilt. Es waltet in seinem Roman ein höchstrichterlicher Hang zur Gerechtigkeit, und immer ist es Selb, der Schlinks schlichtende Neigungen buchstäblich ausbaden muss. Erst schmeißen ihn ein paar Neonazis in den Landwehrkanal, und beim nächsten Berlin-Besuch passiert ihm das Gleiche prompt noch einmal. Diesmal sind es linke Punks, die Selb ins Wasser werfen, und sühnt er auf diese Weise nicht auch seine eigenen Nazi-Sünden (er wurde Staatsanwalt im Jahre 1942), und sühnt er nicht den Betrug der Bank an ihren jüdischen Teilhabern gleich noch mit? „Ich war froh, als die Taxe kam”, so lautet der letzte Satz des Romans, und wir sind froh mit Selb. Denn jetzt hat er endlich Ruh, und weit und breit ist kein Autor, der ihn für die moralischen Probleme unserer Zeit ins Wasser schickte. Wie lange aber?
CHRISTOPH BARTMANN
BERNHARD SCHLINK: Selbs Mord. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 266 Seiten, 39, 90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Von einem Brennpunkt zum nächsten: Für den Helden von Bernhard Schlinks Roman „Selbs Mord” ist kein Ruhestand in Sicht
Verfasser von Detektivomanen müssen damit rechnen, dass ihre Leser auf eigene Faust Verdachtsmomente sammeln. Zum Beispiel gegen den Detektiv selbst. Wie kann es sein, daß Gerhard Selb, ein Mann, der 1942 als Staatsanwalt begann, noch in unseren Tagen eine mäßig florierende Privatdetektei in Mannheim betreibt? Nach unseren Berechnungen müßte Selb die Achtzig lange hinter sich haben, in Bernhard Schlinks Roman hingegen drehen sich die Gespräche mit seiner Lebensgefährtin auffällig oft um Fragen der Familienplanung. Es ist andernteils nicht so, dass Selb seinem Alter gar keinen Tribut zollen müsste. Zügig eilt er von einer Herzschwäche zur nächsten, und am Ende wird ihn ein doppelter Bypass wieder dorthin befördern, wo er zu Beginn schon herkam. Aus der Reha in die Reha führt die Erzählstrecke des Romans, aber dazwischen beweist Selb einiges an Stehvermögen. Das muss er auch, denn es kommt in diesem Roman so ziemlich alles vor, was zwischen 1942 und heute die Welt erschüttert hat. Unwahrscheinlich ist nur, dass dies alles einer einzigen Person zustößt, und das auch noch in Mannheim. Aber so hat Schlink seinen Selb eben konstruiert. Der alte Mann hat das unheilvolle Talent, auf Schritt und Tritt gesamtgesellschaftliche Probleme auf sich zu ziehen. Kein Wunder, dass kein Ruhestand ihn je erlöst.
Entweder ist Selb für die Rolle, die Schlink ihm zugedacht hat, zu alt, oder der Roman ist nicht ganz neu. Im Winter 2000/2001 habe er das Buch als Gast der New York Public Library „fertiggeschrieben”, ist in Schlinks Danksagung zu lesen. „Fertiggeschrieben”, heißt vielleicht, dass der Rest des Romans schon eine Weile fertiggestellt war, dass er möglicherweise Anfang der neunziger Jahre geschrieben wurde und auch in jenen Jahren spielt? Die wesentlichen Ingredenzien des Romans gab es ja schon damals: Neonazis, militante Antifaschisten, die russische Mafia, die Treuhand, die Wirren der Nachwendezeit. Ganz abgesehen von alten Nazis und doppelt betrogenen Juden. All dies und noch viel mehr, Selbs titelgebenden Mord eingeschlossen, hat Schlink miteinander verrührt, und der arme Selb hat alle Hände voll zu tun, um mit seiner eingeschränkten Physis so rasch von einem Brennpunkt zum nächsten zu gelangen. Was Schlink Selb zumutet, grenzt an Körperverletzung. Nur gut, daß Selb gar keinen Körper hat. Auch wenn er unablässig isst und trinkt wie Saarbrücker Tatort-Kommissare: dieser Mann ist nicht aus Fleisch und Blut. Er ist allein dazu da bestimmt, stellvertretend über einen Parcours zu hetzen, an dessen Ende die Einsicht winkt, daß Täter Opfer und Opfer Täter sind.
Dabei fängt alles so idyllisch an wie ein Dürrenmatt-Roman, in der Provinz, im Ruhestand, in einem Lebensalter, in dem alles für Muße spricht, aber der Dienst dann doch kein Ende nehmen darf. Eine Limousine liegt im Straßengraben, und schon ist Selb gefordert. Ein paar Tage später hat er einen Auftrag. Für einen Schwetzinger Privatbankier namens Welker soll er herausfinden, wer der stille Teilhaber war, der vor vielen Jahrzehnten beträchtliche Summen in das stets bedrohte Bankhaus investiert hat. Ach, wenn es doch nur bei dieser Frage und ihrer Aufklärung bliebe! Aber Schlink hat wie Dürrenmatt den Drang zum ganz großen Komplott. Wo sich bei Dürrenmatt alles zu schlechter, aber immerhin dämonischer Metaphysik erhebt, schlägt bei Schlink die Stunde der moralisierenden Zeitgeschichte. Welkers Adlatus steckt mit der Russenmafia unter einer Decke; über ein von der Treuhand erworbenes Cottbuser Geldhaus soll er kriminelle Gelder gewaschen haben. Hat außerdem er Welkers Frau ermordet, seine Kinder entführt und den Bankier erpresst? Dann wäre der Roman schon nach 150 Seiten zu Ende. Was dann aber folgt, ist die große Peripetie, nach der auch die Unschuldigen schuldig geworden sind. Ja, es scheint, als habe Schlink am Ende die angefallene Gesamtschuld nach einem geheimen Proporzschlüssel auf die Romanfiguren verteilt. Es waltet in seinem Roman ein höchstrichterlicher Hang zur Gerechtigkeit, und immer ist es Selb, der Schlinks schlichtende Neigungen buchstäblich ausbaden muss. Erst schmeißen ihn ein paar Neonazis in den Landwehrkanal, und beim nächsten Berlin-Besuch passiert ihm das Gleiche prompt noch einmal. Diesmal sind es linke Punks, die Selb ins Wasser werfen, und sühnt er auf diese Weise nicht auch seine eigenen Nazi-Sünden (er wurde Staatsanwalt im Jahre 1942), und sühnt er nicht den Betrug der Bank an ihren jüdischen Teilhabern gleich noch mit? „Ich war froh, als die Taxe kam”, so lautet der letzte Satz des Romans, und wir sind froh mit Selb. Denn jetzt hat er endlich Ruh, und weit und breit ist kein Autor, der ihn für die moralischen Probleme unserer Zeit ins Wasser schickte. Wie lange aber?
CHRISTOPH BARTMANN
BERNHARD SCHLINK: Selbs Mord. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 266 Seiten, 39, 90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Rentner mit angeknackstem Selb-Bewußtsein
Bernhard Schlinks rasanter Krimi / Von Burkhard Scherer
Gerhard Selb, den seine Freundin und seine Freunde "Gerd" nennen, ist nach eigenen Angaben "über siebzig", sähe aber gern aus wie sechsundsechzig. Genaugenommen geht er stramm auf die achtzig zu, denn achtundsechzig war er schon vor neun Jahren, als er nach der Studentin Leo Salger (in "Selbs Betrug") suchte, und wer wie er 1942 als Staatsanwalt anfing, der gehört heute schon zu den Senioren. Für die beiden Jugendgangs, die sich seiner auf dem oberen Bahnsteig des Berliner U-Bahnhofs Hallesches Tor im Abstand von zwei Tagen annehmen, ist die Tatsache, daß es sich bei Privatdetektiv Selb um einen älteren Herrn handelt, ohne Bedeutung. Sie werfen ihn in den Landwehrkanal. Das erste Mal, weil er nach der Meinung der jungen Nazis den deutschen Gruß nicht korrekt entbot. Für die zweite Gang reicht auch der vorhergehende nichtkorrekte Gruß als Strafanlaß aus, um ihn ein weiteres Mal in den Landwehrkanal zu expedieren, denn "Wir sind die Antifa!"
Die doppelte Demütigung muß verarbeitet werden. Für den Körper tut es Penicillin als Mittel gegen die feuchtigkeitsbedingte Erkältung, das seelische Trauma aus der Begegnung mit den Neonazis und ihren Antagonisten währt länger, da er schon die Begegnung mit den Original-Nazis hatte, und zu deren großer Zeit mußte niemand den jungen Staatsanwalt zwingen, dem Führer zu huldigen. "Ich hatte die Gelegenheit gehabt, richtig zu machen, was ich seinerzeit falsch gemacht hatte. Wann hat man das schon! Aber ich habe es wieder falsch gemacht." Das Wissen um die verpaßten Gelegenheiten bleibt als Stachel und Quelle eines melancholischen Grundtones: "So ist das. Man macht dies, man macht das, und auf einmal war's ein Leben."
Das von Selb wäre schon zu Ende, sein Bericht über seine Ermittlungen rund um das Schwetzinger Bankhaus Weller und Welker also nicht zu haben, hätte er nicht gegen Ende der Affäre auch einmal richtig gehandelt, in sehr eigener Sache, bei einer Herzpanik. Da hat er den Notdienst angerufen, der ihn in die Intensivstation brachte.
Vielleicht war die erste verpaßte Gelegenheit schon, den Auftrag des Chefs des Schwetzinger Bankhauses, Bertram Welker, einfach abzulehnen, denn einleuchtend war dieser Auftrag nicht. Warum sollte er als Privatdetektiv eine Arbeit übernehmen, die eigentlich ins Historikerfach gehört, nämlich herauszufinden, wer denn der stille Teilhaber gewesen sei, der um 1880 der notleidenden Bank mit einer halben Million Mark beisprang? Und dies, damit der in der Festschrift zum Bankjubiläum Erwähnung finden könne? Andererseits akzeptierte Welker anstandslos Selbs Tarif, "hundert pro Stunde, plus Spesen". Und der Geschäftsgang vorher war mau gewesen, zuletzt hatte Selb für Tengelmann überprüft, ob die Krankmeldungen der Mitarbeiterinnen sauber waren. Selbs Anfangsverdacht jedenfalls, nicht korrekt über seine Rolle in einem schließlich fast ein Jahr währenden Spiel informiert worden zu sein, wird mehr als bestätigt. Bald schon ermittelt er nicht mehr für Geld, sondern aus Passion. Mehrmals wechselt schnell und überraschend das Bühnenbild, die vorher gemutmaßten Rollenzuschreibungen verblassen oder kehren sich um, und immer wieder steht Karl-Heinz Ulbrich vor Selbs Tür.
Der nun gerade. Jahre nach dem Mauerfall ist er unzweifelhaft als "Zoni" zu erkennen, war bei der Stasi und will nun hartnäckig, daß zusammenwächst, was seiner Meinung nach zusammengehört, er und sein Vater Gerhard Selb. Der kann nun vor sich und dem vermeintlichen Sproß darauf verweisen, daß er zum Zeitpunkt von dessen Zeugung keineswegs mit seiner Frau im Bett, sondern mit der Wehrmacht in Polen gewesen sei, andererseits "kannte ich die verbohrte Entschlossenheit in seinem Gesicht von Klara". Der Blick auf die verblichene Gattin muß also neu fokussiert werden wie mehrfach der auf den Auftraggeber, der schließlich zum Feind gerät und mit seinem "Die Vergangenheit, die Vergangenheit. Ich kann's nicht mehr hören", die menschliche wie philosophische Gegenposition zu Selb einnimmt.
"Selbs Mord" ist eine rasante Geschichte, auch eine den Titel rechtfertigende Tat wird touchiert. Trotzdem wirkt sie nie forciert. Das dürfte an den Ruhezonen liegen. "Alle Tage sind gleich lang, aber unterschiedlich breit", stand vor Jahren als Graffito an der Commerzbank in Gießen. Bei Bernhard Schlink sind alle Kapitel drei bis sechs Seiten lang, aber in ihnen geschieht mal ein Geiselaustausch samt Schußwechsel mit einem Toten und einem Schwerverwundeten, oder aber Selb ißt einfach mit einer gerade gekündigten ostdeutschen Bankchefin Kartoffeln mit Quark und trinkt dazu "Lausitzer Urquell". Die nach drei Romanen und einem Erzählungsband schon notorisch - und nur prima facie - schlichten Sätze des Juristen Schlink sind fast ebenso notorisch mit seinem Hauptberuf erklärt worden. Aber schreibt man da so? Gibt es auch in der Justizprosa so etwas wie ironisch-gourmethafte Bierrezensionen? Ist da nicht mehr Handwerk, hier aber eher Kunst? Und wo dort ganz überwiegend und aus gutem Grund meist nur Legalität diskutiert wird, hat Privatdetektiv Selb mit sich die oft fatalen Verschlingungen von Opportunität, Legitimität und Legalität zu verhandeln. Er macht das so, daß einen seine Überlegungen auch nach der Offenlegung des kriminalitätsbehafteten Geschehens lange weiter beschäftigen, weil sie in unaufdringlicher wie gültiger Weise von der Conditio humana handeln. So etwas macht ein Buch groß.
Bernhard Schlink: "Selbs Mord". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 266 S., geb., 39,88 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernhard Schlinks rasanter Krimi / Von Burkhard Scherer
Gerhard Selb, den seine Freundin und seine Freunde "Gerd" nennen, ist nach eigenen Angaben "über siebzig", sähe aber gern aus wie sechsundsechzig. Genaugenommen geht er stramm auf die achtzig zu, denn achtundsechzig war er schon vor neun Jahren, als er nach der Studentin Leo Salger (in "Selbs Betrug") suchte, und wer wie er 1942 als Staatsanwalt anfing, der gehört heute schon zu den Senioren. Für die beiden Jugendgangs, die sich seiner auf dem oberen Bahnsteig des Berliner U-Bahnhofs Hallesches Tor im Abstand von zwei Tagen annehmen, ist die Tatsache, daß es sich bei Privatdetektiv Selb um einen älteren Herrn handelt, ohne Bedeutung. Sie werfen ihn in den Landwehrkanal. Das erste Mal, weil er nach der Meinung der jungen Nazis den deutschen Gruß nicht korrekt entbot. Für die zweite Gang reicht auch der vorhergehende nichtkorrekte Gruß als Strafanlaß aus, um ihn ein weiteres Mal in den Landwehrkanal zu expedieren, denn "Wir sind die Antifa!"
Die doppelte Demütigung muß verarbeitet werden. Für den Körper tut es Penicillin als Mittel gegen die feuchtigkeitsbedingte Erkältung, das seelische Trauma aus der Begegnung mit den Neonazis und ihren Antagonisten währt länger, da er schon die Begegnung mit den Original-Nazis hatte, und zu deren großer Zeit mußte niemand den jungen Staatsanwalt zwingen, dem Führer zu huldigen. "Ich hatte die Gelegenheit gehabt, richtig zu machen, was ich seinerzeit falsch gemacht hatte. Wann hat man das schon! Aber ich habe es wieder falsch gemacht." Das Wissen um die verpaßten Gelegenheiten bleibt als Stachel und Quelle eines melancholischen Grundtones: "So ist das. Man macht dies, man macht das, und auf einmal war's ein Leben."
Das von Selb wäre schon zu Ende, sein Bericht über seine Ermittlungen rund um das Schwetzinger Bankhaus Weller und Welker also nicht zu haben, hätte er nicht gegen Ende der Affäre auch einmal richtig gehandelt, in sehr eigener Sache, bei einer Herzpanik. Da hat er den Notdienst angerufen, der ihn in die Intensivstation brachte.
Vielleicht war die erste verpaßte Gelegenheit schon, den Auftrag des Chefs des Schwetzinger Bankhauses, Bertram Welker, einfach abzulehnen, denn einleuchtend war dieser Auftrag nicht. Warum sollte er als Privatdetektiv eine Arbeit übernehmen, die eigentlich ins Historikerfach gehört, nämlich herauszufinden, wer denn der stille Teilhaber gewesen sei, der um 1880 der notleidenden Bank mit einer halben Million Mark beisprang? Und dies, damit der in der Festschrift zum Bankjubiläum Erwähnung finden könne? Andererseits akzeptierte Welker anstandslos Selbs Tarif, "hundert pro Stunde, plus Spesen". Und der Geschäftsgang vorher war mau gewesen, zuletzt hatte Selb für Tengelmann überprüft, ob die Krankmeldungen der Mitarbeiterinnen sauber waren. Selbs Anfangsverdacht jedenfalls, nicht korrekt über seine Rolle in einem schließlich fast ein Jahr währenden Spiel informiert worden zu sein, wird mehr als bestätigt. Bald schon ermittelt er nicht mehr für Geld, sondern aus Passion. Mehrmals wechselt schnell und überraschend das Bühnenbild, die vorher gemutmaßten Rollenzuschreibungen verblassen oder kehren sich um, und immer wieder steht Karl-Heinz Ulbrich vor Selbs Tür.
Der nun gerade. Jahre nach dem Mauerfall ist er unzweifelhaft als "Zoni" zu erkennen, war bei der Stasi und will nun hartnäckig, daß zusammenwächst, was seiner Meinung nach zusammengehört, er und sein Vater Gerhard Selb. Der kann nun vor sich und dem vermeintlichen Sproß darauf verweisen, daß er zum Zeitpunkt von dessen Zeugung keineswegs mit seiner Frau im Bett, sondern mit der Wehrmacht in Polen gewesen sei, andererseits "kannte ich die verbohrte Entschlossenheit in seinem Gesicht von Klara". Der Blick auf die verblichene Gattin muß also neu fokussiert werden wie mehrfach der auf den Auftraggeber, der schließlich zum Feind gerät und mit seinem "Die Vergangenheit, die Vergangenheit. Ich kann's nicht mehr hören", die menschliche wie philosophische Gegenposition zu Selb einnimmt.
"Selbs Mord" ist eine rasante Geschichte, auch eine den Titel rechtfertigende Tat wird touchiert. Trotzdem wirkt sie nie forciert. Das dürfte an den Ruhezonen liegen. "Alle Tage sind gleich lang, aber unterschiedlich breit", stand vor Jahren als Graffito an der Commerzbank in Gießen. Bei Bernhard Schlink sind alle Kapitel drei bis sechs Seiten lang, aber in ihnen geschieht mal ein Geiselaustausch samt Schußwechsel mit einem Toten und einem Schwerverwundeten, oder aber Selb ißt einfach mit einer gerade gekündigten ostdeutschen Bankchefin Kartoffeln mit Quark und trinkt dazu "Lausitzer Urquell". Die nach drei Romanen und einem Erzählungsband schon notorisch - und nur prima facie - schlichten Sätze des Juristen Schlink sind fast ebenso notorisch mit seinem Hauptberuf erklärt worden. Aber schreibt man da so? Gibt es auch in der Justizprosa so etwas wie ironisch-gourmethafte Bierrezensionen? Ist da nicht mehr Handwerk, hier aber eher Kunst? Und wo dort ganz überwiegend und aus gutem Grund meist nur Legalität diskutiert wird, hat Privatdetektiv Selb mit sich die oft fatalen Verschlingungen von Opportunität, Legitimität und Legalität zu verhandeln. Er macht das so, daß einen seine Überlegungen auch nach der Offenlegung des kriminalitätsbehafteten Geschehens lange weiter beschäftigen, weil sie in unaufdringlicher wie gültiger Weise von der Conditio humana handeln. So etwas macht ein Buch groß.
Bernhard Schlink: "Selbs Mord". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 266 S., geb., 39,88 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Bernhard Schlink gehört zu den größten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er ist ein einfühlsamer, scharf beobachtender und überaus intelligenter Erzähler. Seine Prosa ist klar, präzise und von schöner Eleganz.« Michael Kluger / Frankfurter Neue Presse Frankfurter Neue Presse